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Marseille, Mittwoch, 18. Mai

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Zur selben Zeit, als Hanna in Berlin auf dem Weg zur Arbeit ist, ha­ben sich die Top-Manager des Unternehmens Trouvaille versam­melt. Man steht im Halbrund und diskutiert.

Maurice Trouvaille, fünfzig Jahre, geschieden, Hauptaktionär, Fir­men- und Finanzchef, ist ein gut aussehender Mann von kräftiger Statur. Mit seiner wilden, grauen Mähne als Haartracht und seiner Lieblingskleidung, den alten Jeans, dem schwarzen Hemd mit offe­nem Kragen und dem weißen Blazer ähnelt er eher einem Künstler, als einem Konzernchef. Allein er besitzt das Vorrecht in salopper Kleidung bei Partnern, Kunden und im Unternehmen zu erscheinen. Alle anderen haben sich seriös zu kleiden - ein ungeschriebenes Gesetz. Die Art, das Unternehmen zu leiten und sein Umgang mit den Mitarbeitern entsprechen seiner unkonventionellen Kleidung. Manche der Vorstandskollegen fürchten seine plötzlichen intuitiven Entscheidungen, die sich bisher aber immer als außerordentlich sinnvoll erwiesen haben. Man weiß von ihm, dass er aus einer der reichsten Familien Frankreichs stammt und selbst über ein gewal­tiges Vermögen verfügt. Er war zweimal verheiratet. Seine zweite Frau Claudia, die er abgöttisch liebte, stammte aus Deutschland, lebte und arbeitete seit vielen Jahren als Kunstmalerin auf der Insel Moorea in Französisch-Polynesien.

Trouvaille lernte sie im Urlaub anlässlich einer ihrer Kunstausstel­lungen kennen. Vor fünf Jahren kam sie bei einem schweren Auto­unfall in den Alpen ums Leben. Seit ihrem Tod hatte er sich nicht wieder gebunden, und so zählte er zu den begehrtesten Singles Frankreichs.

Oft war er von Freunden und Journalisten gefragt worden, warum er sich den Tort antut, einen solch riesigen Konzern nicht nur zu leiten, sondern auch kontinuierlich auszubauen. Seine lakonische Antwort lautete jedes Mal:

„Weil es mir Spaß macht.“

Neben ihm steht Pierre d’Aquitaine, verantwortlich für Vertrieb und Marketing, Spross einer alten, südfranzösischen Adelsfamilie. Er ist ein sehr schlanker, hochgewachsener Mann, der offensichtlich sorgfältig auf sein Äußeres bedacht ist. Er trägt einen millimeterge­nauen Bürstenhaarschnitt mit einigen grauen Einsprengseln. Sein glatt rasiertes, rundes Gesicht mit großen, braunen Augen und lan­gen Wimpern und den vollen Lippen wirkt ausgesprochen weiblich. Es scheint, dass auf den schlanken, drahtigen und durchtrainierten Körper ein falscher Kopf gesetzt worden ist. Jerôme mag ihn nicht. Er hat ihn nur wenige Male gesehen und ihn, was seine Vortrags- und Diskussionsbeiträge betraf, als unscharf und unverbindlich erlebt. Jedes Mal hatte er gedacht, der Mann sollte sich doch einen Bart stehen lassen. Wenn er spricht, bildet sich ständig ein dünner Speichelfaden zwischen Ober- und Unterlippe. Jerôme hat mehr auf die Reißfestigkeit dieses Fadens geachtet, als auf den Inhalt seiner Worte.

Der Nächste in der Runde ist der Sicherheitschef des Unterneh­mens, Joseph Carbeau. Er gehört nicht zum Vorstand, hat aber großen Einfluss, da er Trouvaille direkt unterstellt ist. Er ist ein älte­rer, grauhaariger Mann, der seiner gebeugten Körperhaltung wegen viel älter wirkt, als er ist. Er gilt als Haudegen und harter Hund. Frü­her bekleidete er beim Militär einen hohen Rang. Jerôme hatte schon oft mit ihm zu tun gehabt. Er empfand es als wohltuend, bei ihm jederzeit zu wissen, woran er war. Fast jeden Satz beginnt Carbeau mit einem dröhnenden „alors“, also dann, oder „eh bien“, also gut, das die Aufmerksamkeit des Gegenübers erzwingt. Etwas vom Paradeplatz hängt ihm noch an. Dann ist da noch Professor Louis Carpentier, verantwortlich für For­schung und Entwicklung. Bei dessen salopper, volkstümlicher Re­deweise im südfranzösischen Dialekt würde man kaum vermuten, dass er ein brillanter, weit über Frankreich hinaus anerkannter Wis­senschaftler ist, mit zwei Doktor­titeln in Medizin und Pharmazie. Er wirkt gutmütig und umgänglich. Man weiß auch, dass er dem edlen Rebensaft nicht abhold ist.

In der Nähe von Carpentier, aber etwas abseitsstehend, befindet sich Dr. Eduard Malin, Jerômes direkter Chef und Forschungsleiter der Außenstelle Gabun. Er repräsentiert das Klischee eines Wis­senschaftlers: stets ein wenig fahrig und mit den Gedanken woan­ders. Seine Sehschwäche scheint trotz der starken Gläser der Brille nur sehr unzureichend ausgeglichen zu werden. Mindestens drei Brillen führt er stets bei sich. Wenn er etwas liest, dann berührt sei­ne Nase beinahe das Papier. Vieles an ihm wirkt unordentlich. Das ungepflegte graue Haar des Mittfünfzigers ist fettig und schlecht ge­schnitten, der Knoten der Krawatte ebenso schlecht gebunden, wie das Oberhemd gebügelt. Sein unmoderner Anzug dürfte mindes­tens eine Konfektionsnummer zu groß sein, die Schuhe ausgetreten und nicht geputzt. Diese Äußerlichkeiten zeigen, dass man es mit einem eingefleischten Junggesellen zu tun hat, für den die Arbeit oberste Priorität besitzt. Er gilt als Mann mit einem außergewöhn­lich scharfen Sachvers­tand, ist aber mit nur wenig sozialer Kompe­tenz ausgestattet. Das lässt ihn kauzig und eigenbrötlerisch er­scheinen.

Jerôme meint, dass er sich vor dem Kontakt mit anderen Menschen hinter seinen Brillengläsern verschanzt. Vielleicht glaubt er, dass diese ihn dann nicht sehen können. Der Produktionsvorstand und die Personalchefin sind nicht anwesend.

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