Читать книгу Giftgas - Rainer Müller-Hahn - Страница 16
Berlin, Mittwoch, 18. Mai
ОглавлениеHanna ist euphorisch und jubelt innerlich, als sie Ludwig verlassen hat. Sie geht zunächst ins Büro. Jens ist nicht anwesend. Sie ruft die Kriminaltechnik an und trägt ihr Anliegen vor. Dort ist man bereits von Ludwig informiert worden. Wegen des Phantombildes solle sie gleich in die Abteilung kommen, den Rest werde man am nächsten Tag erledigen. Hanna macht sich voller Vorfreude auf den Weg. Ein Kollege erwartet sie und nimmt zunächst Geldtasche und -scheine gegen Quittung von ihr in Empfang. Dann entwickeln beide das Phantombild an einem großen Bildschirm. Hanna ist von den vielen Variationen der Gesichtsmerkmale beeindruckt, die das Bildprogramm bereitstellt. Dank ihrer guten Beobachtungsgabe und ihres Erinnerungsvermögens ist nach knapp einer dreiviertel Stunde ein recht genaues Bild des Bestohlenen entstanden. Allerdings konnte die Augenpartie nicht rekonstruiert werden, und so wird in das Phantombild eine Sonnenbrille eingefügt. Dennoch kommt der markante Gesichtsschnitt des Mannes gut zum Ausdruck. Hanna ist zufrieden und lässt sich die Bilddatei auf ihren Rechner senden. Sie verlässt die Kriminaltechnik. Obwohl es sie drängt, Jens zu erzählen, was vorgefallen ist und sich an den Bericht zu setzen, kehrt sie nicht sofort an ihren Arbeitsplatz zurück. Seit dem Frühstück hat sie nichts mehr gegessen und verspürt einen Bärenhunger. Sie geht hinunter zur Kantine, die allerdings um diese Uhrzeit keine Mahlzeiten mehr anbietet. Aber ein paar schnell heiß gemachte Würstchen tun es jetzt auch.
Als sie kurze Zeit später das Büro betreten will, um mit der Arbeit an ihrem „Katzentisch“ zu beginnen - der immerhin mit einem Rechner ausgestattet ist - öffnet sich die Tür und sie stößt beinahe mit Jens zusammen. Ehe er sie begrüßen kann, hakt sie sich ausgelassen bei ihm ein und schiebt ihn wieder zurück in den Raum. Dass sie dabei ihre selbst auferlegte Distanz nicht mehr wahrt, beachtet sie in dieser Situation nicht. „Du, ich muss dir etwas ganz Wichtiges erzählen“, sprudelt es atemlos aus ihr heraus, und sie beginnt, ohne seine Reaktion abzuwarten, die vorangegangenen Ereignisse zu berichten. Jens hört ihr aufmerksam zu. Er vergleicht Hanna Bericht mit dem, was ihm eben der Chef im Vertrauen mitgeteilt hat. Der hatte ihn gebeten, unauffällig ein Auge auf Hannas Aktivitäten zu haben. Im Gegensatz zu Ludwig nimmt Jens die Angelegenheit sehr ernst.
Als Hanna zum Ende gekommen ist, kann er seine Beunruhigung ihr gegenüber nur schlecht verbergen.
„Bist du besorgt?“, fragt sie verwundert.
„Ja, und nicht zu knapp.“ Sie schaut ihn fragend an.
„Gleichgültig, an wen du da geraten bist, für diese Leute stellst du eine Gefahr dar. Waren es Geldfälscher, dann werden sie ihre Spuren verwischen wollen. Du bist die einzige Person, die den Mann identifizieren kann.“ Er macht eine kleine Pause und erklärt dann, „schlimmer aber wäre es, wenn es sich nicht um Geldfälscher handelt. Wie du selbst gesagt hast, muss der Unbekannte ein starkes Motiv gehabt haben, auf das viele Geld zu verzichten. Und das doch nur deshalb, um seine Identität zu wahren. Dafür spricht auch, dass der Mann mit der U-Bahn fährt, obwohl er wahrscheinlich Wichtiges transportiert. Dadurch vermeidet er direkte Kontakte, wie beispielsweise zu einem Taxifahrer. Sollte man herausfinden, wer er ist, dann würden seine Absichten offenkundig werden. Das will er unbedingt vermeiden.“ Hanna möchte etwas einwenden, aber er fährt in ernstem Ton fort:
„Was auch immer dahintersteckt, er wird mit allen Mitteln versuchen, allein oder mithilfe anderer, seine Identifikation zu verhindern, und genau das macht mir Sorgen.“ Er schaut sie etwas bekümmert an, fährt mit der Hand durch sein störrisches Haar. Eine milde Geste der Verzweiflung, weil er spürt, dass er sie nicht erreicht und sie seine Besorgnis nicht ernst nimmt. Entsprechend fällt auch Hannas Antwort aus:
„Ach was, du wirst schon auf mich aufpassen, nicht wahr?“, antwortet sie kokett und fügt munter hinzu, „schließlich sind wir die Guten!“ Jens winkt ärgerlich ab und schickt sich an, den Raum zu verlassen. Beim Öffnen der Tür sagt er in schroffem Ton, dass sie nicht vergessen soll, dass man in einer Stunde zur Observation muß. Dann schließt er die Tür eine Nuance lauter, als sonst.
Hanna bleibt von seinen Warnungen und seinem Abgang unbeeindruckt. Sie versteht Jens Bedenken, hält sie aber für übertrieben. Das Jagdfieber hat sie gepackt, und sie macht sich mit Schwung an die Arbeit. Am unteren Rand des Phantombildes richtet sie ein Textfeld ein und trägt dort die wichtigsten Erkennungsmerkmale des Mannes ein: Körpergröße, Statur, graue Haaransätze an den Schläfen, schwarzer Akten- oder Diplomatenkoffer mit Handkette und Bekleidung, Muttersprache wahrscheinlich Französisch.
Sie verfasst den Bericht für Ludwig, in dem sie mit großer Sorgfalt alle Details der Ereignisse zusammenstellt. Während dieser Arbeit ist in ihr ein Plan gereift, wie sie den Unbekannten, dem sie den Namen „der Franzose“ gegeben hat, vielleicht identifizieren kann. Sie wird dafür in den nächsten Tagen Vorbereitungen treffen und am kommenden Wochenende mit der Umsetzung ihres Plans beginnen. Allerdings räumt sie sich keine allzu großen Erfolgschancen ein. Nachdem sie das Bild als Anhang zu ihrem Bericht per E-Mail an ihren Chef gesendet hat, druckt sie zehn Exemplare aus, die sie in ihrer Umhängetasche verstaut. Dann ist es Zeit, mit Jens das Observationsteam in Kreuzberg abzulösen.
* * *
Jean Moussard ist erleichtert, sich seiner Fracht entledigt zu haben und der unerquicklichen Atmosphäre entkommen zu sein. Durch den Vorfall am U-Bahnhof ist es spät geworden. Um seine Maschine zu erreichen, kann er nicht mehr zurück in die Pension.
So meldet er sich dort telefonisch ab und erklärt, in den nächsten Tagen zurückzukommen. Gerade noch rechtzeitig schafft er es zur Abfertigung am Flughafen Tegel.
Nun sitzt er im Flugzeug nach Brüssel, das von den Turbulenzen eines heftigen Gewitters durchgeschüttelt wird. Der Diebstahl, der Ärger mit Schmidt und nun das Geschaukel haben seine Stimmung auf einen Tiefpunkt absinken lassen.
Er ist müde. Als der Flug wieder ruhiger wird, fällt er in einen Halbschlaf. Bilder tauchen auf:
Er sieht sich, wie er als Kind allein auf seinem Lieblingsplatz spielt, dem vollgemüllten Hinterhof einer schäbigen Stahlarbeitersiedlung Charlerois’ in Belgien, dann hinter einem Vorhang versteckt, angstvoll beobachtend, wie sich die ständig alkoholisierten Eltern wieder einmal prügeln, wie er in der Schule mit leerem Kopf vor der Klasse steht, etwas aufsagen soll, ihm aber nichts einfällt, obwohl er es gelernt hatte und wie die Klasse lacht und einige rufen:
„Los Stinker, sag’s auf!“
Diesen Namen hatte man ihm wegen seiner schäbigen und streng riechenden Kleidung gegeben. Er hat die Szene vor Augen, wie er den großen Claude zusammenschlägt, den alle fürchten, und wie er dadurch den Respekt seiner Mitschüler gewinnt, nicht aber deren Zuneigung. Er glaubt, auch jetzt noch den Schmerz zu fühlen, als ihn der schwere Schraubschlüssel des jähzornigen Meisters während der Ausbildung ins Kreuz trifft.
Er sieht die Schlägerei mit der Polizei, an dem Tag, an dem er nach zweimaligem Anlauf seine bestandene Lehre gefeiert hatte und die wilde Flucht im gestohlenen Auto. Dann befindet es sich in der Zelle, in der er die achtzehn Monate Jugendstrafe absitzen muss, und erkennt schemenhaft das Gesicht seiner Freundin, die nicht auf ihn warten wird. Nach den Bildern seiner trostlosen Jugend wechseln die Erinnerungen zum Lebensabschnitt in der Fremdenlegion und in den Söldnerarmeen. Nach einer sehr harten Ausbildung hat er seinen ersten Kampfeinsatz in Zaire, dann im Tschad, später im libanesischen Bürgerkrieg. Er kehrt zurück in den Tschad, wo er gegen die eindringenden Truppen Gaddafis kämpft und nimmt später an einer Operation in Gabun teil. Dort herrschen Unruhen und die europäischen Zivilisten werden bedroht. Es folgen ein weiterer Einsatz im Bürgerkrieg Ruandas und schließlich der Abschied von der Legion. Dort fand er das, was seine freudlose Jugend ihm nicht hatte bieten können. Man schätzte ihn seiner technischen und kämpferischen Fähigkeiten wegen. Er fühlte sich in der Überlebensgemeinschaft der Kameraden wohl, verdiente gutes Geld, und es war nie langweilig. Die Kampfeinsätze lösten in ihm eine eigenartige Erregung aus, die er wie in einen Rausch erlebte.
Das Töten des Feindes berührte ihn nicht. Es galt: „Wenn du nicht schießt, erschießt dich der andere“. Außerdem hieß es: „Es ist dein Job, und die Kameraden tun es auch.“ Beides machte Töten gewöhnlich, alltäglich.
Nach der Zeit in der Legion ließ er sich von einer disziplinlosen Söldnerarmee anwerben, die für einen afrikanischen Despoten gegen Rebellen kämpfte.
Hier erlebte er, wie seine Kameraden jeden, der nur nach Feind roch oder mit ihm zu tun haben könnte, mit leichter Hand umbrachten, zum Teil aus Spaß und Unterhaltung. Es waren Kinder, Frauen und Greise. Manche Soldaten hatten sogar Freude daran, verschiedene grausame Methoden des Tötens anzuwenden. So gestaltete ein Kommandant eine Massenhinrichtung zu einem Wettbewerb. Nachdem die Delinquenten sich in einer Reihe bis zum Kopf im Sand eingraben mussten, ließ er aus relativ großer Entfernung ein Zielschießen auf sie veranstalten. Bei Treffern zerplatzten die Köpfe wie Wassermelonen, was jedes Mal Jubel bei den Schützen auslöste. Der erfolgreichste Schütze gewann eine Flasche Cognac.
Dafür hatte er nur wenig Verständnis. Nicht aus moralischen Skrupeln, sondern weil von diesen Menschen keine Gefahr mehr ausging. Das galt auch für die Massaker an wehrlosen Zivilisten oder für Hinrichtungen. Ihm fehlte dabei die Spannung, die Erregung des Kampfes. Er kannte kein Bedauern oder Mitleid, betrachtet sich selbst als emotionslosen, nüchternen Killer.
Als er schließlich aus der Söldnerarmee ausschied, folgte die Selbstständigkeit. Nach den vielen Jahren unter Befehl von mehr oder minder verrückten Kommandanten war er nun sein eigener Herr, verantwortlich für das, was und wie er es tat - für ihn ein echter Entwicklungsfortschritt. Dank jahrelanger Kampferfahrung, seiner emotionalen Unterkühlung, Vorsicht und Präzision, lebte er bis heute von gut bezahlten Aufträgen. Er galt mittlerweile als Top-Spezialist in der Branche.
Zu den Aufträgen zählen, wie hier, Beschaffung und Transport von gefährlichen Materialien. Sie gehören zu den eher schwierigen Aufgaben. Dabei sind Grenzen zu passieren, wo mit modernen Ortungs- und Prüfgeräten oder mit Hunden gefährliche Stoffe im Gepäck entdeckt werden können. In diesem Fall war es wegen des gefälschten Diplomatenstatus einfach, aber den besitzt er nicht für jedes Land. Manchmal hatte er Sprengungen durchzuführen oder einen Brand für eine „warme" Gebäudesanierung zu legen. Meist aber galt es, jemanden zu liquidieren, wie beispielsweise den hohen englischen Diplomaten letztes Jahr in Peru. Solche Tötungsaufträge sind vergleichsweise unkompliziert - im Kern ein „Hit-And-Run-Job“. Er erfordert allerdings eine sorgfältige Beobachtung der Gewohnheiten der Zielperson, eine günstige Position für den Angriff sowie mehrere gut vorbereitete Fluchtmöglichkeiten. Damit wird das Risiko, gefasst zu werden, auf ein Minimum reduziert. Mous-sard muss nicht einmal den Transport der Waffen selbst übernehmen. Er hat es zum Grundsatz gemacht, dass der Auftraggeber, wenn er Aufträge außerhalb der europäischen Grenzen übernimmt, die von ihm geforderten Waffen und Geräte zusammen mit einem Teil des Geldes dort bereitstellt, wo der Anschlag stattfinden soll.
Er hat sich oft gefragt, warum er diese Arbeit verrichtet. Eine Antwort gelang ihm nur mit der Gegenfrage: Was hätte er sonst tun können? Das, was er wirklich beherrscht, ist das Handwerk des Kämpfens und Zerstörens, das auch außerordentlich gut bezahlt wird. Wie lange müsste er als Automechaniker arbeiten, um den sechsstelligen Betrag zu verdienen, den er für einen einzigen Attentatsauftrag mit einer maximalen Vorbereitungszeit von ein bis zwei Monaten erhält? Und bei der Erledigung dieser Aufträge erlebt er die Erregung noch intensiver, als bei Kampfeinsätzen. Es ist dieser besondere Nervenkitzel durch die Heimlichkeit und Gefährlichkeit seiner Aktionen, frei nach dem Ausruf des Rumpelstilzchens:
„Ach, wie gut, dass niemand weiß, dass ich eigentlich Killer heiß“. In diesen Phasen fühlt er sich wirklich lebendig. Seine Aufträge erhält er hauptsächlich von einer großen, international tätigen Detektei und Sicherheitsfirma mit Hauptsitz in Brüssel. In einem Anruf wird ihm eine Telefonnummer genannt, über die er sich mit einer Person wegen einer sogenannten Sicherheitsberatung in Verbindung setzen soll. Die Auftragsabwicklung und Unterlagen zum Zielobjekt werden über Schließfächer und tote Briefkästen, die Geldtransfers über Nummernkonten oder durch Hinterlegung von Bargeld abgewickelt. Dieses Verfahren sichert den Beteiligten Anonymität zu und erschwert eine Infiltration durch Polizei und Geheimdienste. Mit seiner Arbeit hatte er in den letzten Jahren ein stattliches Vermögen ansammeln können. Es besteht aus Immobilien, Wertpapieren, Gold und Devisen, verteilt auf verschiedene Banken. Eigentlich brauchte er keine Aufträge mehr annehmen, wenn er ohne Extravaganzen sein weiteres Leben gestalten wollte. Und das dürfte ihm nicht schwerfallen, denn er lebt recht bescheiden. Das meiste Geld gibt er für käufliche Frauen aus. Zu einer emotionalen Bindung fühlt er sich nicht in der Lage. Seitdem seine Freundin, die er abgöttisch liebte, ihn wegen seiner Jugendhaft verlassen hatte, gab es keine feste Bindung mehr zu einer Frau. Bei den Wenigen, die er kennengelernt hat und die ihm gefallen haben, hatte er schon nach ein paar Treffen Panik bekommen. Er fühlte sich umklammert und eingeengt und flüchtete sang- und klanglos aus deren Leben. Aber vermutlich lag dahinter die Angst, wieder verlassen zu werden. Aber selbst, wenn ihm eine Partnerbeziehung möglich wäre, dann hätte er diese kaum mit seiner Tätigkeit vereinbaren können. Er ist amüsiert, wenn er sich die Szene vorstellt, wie er nach einem gelungenen Attentat nach Hause eilt, wo seine Frau mit dem Abendessen auf ihn wartet und seiner Verspätung wegen nörgelt. Er entschuldigt sich bei ihr und erklärt, dass der Präsident, den er gerade erschossen hat, vorher so viele Hände in der Menge geschüttelt hätte, sodass lange kein freies Schussfeld bestand. Worauf sie antwortet, dass er doch wenigstens hätte anrufen können …
Seine Gedanken kehren zurück zu der Begegnung mit dem Zwerg;
„Was für ein unangenehmer Auftraggeber, was für eine eigenartige Organisation! Warum habe ich Idiot mich darauf eingelassen, ich hätte den Auftrag nicht annehmen dürfen!“ Am meisten aber richtet sich sein Ärger gegen sich selbst. Er hat mit einem lebenswichtigen Grundsatz gebrochen, immer für den Auftraggeber unsichtbar zu bleiben. Jetzt muss er nach Erledigung des Auftrags damit rechnen, liquidiert zu werden. Denn auch er stellt für diese angeblich so mächtige Organisation ein Risiko dar. Er wird diesen Auftrag dennoch erledigen, um sich nicht wie ein Versager fühlen zu müssen. Jetzt geht es zunächst darum, mithilfe der von Schmidt überlassenen Adresse, die CDs zu beschaffen und parallel dazu, den Aufenthaltsort Jarcols herauszufinden. Dazu wird er zunächst nach Marseille fliegen.
* * *
Nach mehr als zwei Stunden Observation vor dem Polizeigebäude hat Lydia genug. Hier weiter zu machen, ist reine Zeitverschwendung. Die Vorstellung, bis weit in den Abend hinein ausharren zu müssen, ist Lydia ein Graus, zumal dicke Quellwolken aufgezogen sind. Nicht mehr lange, und das erste Frühlingsgewitter wird sich am späten Nachmittag entladen. Sie entscheidet, einen anderen Weg zu gehen, um den Auftrag zu erledigen. Allerdings wollte sie diesen so wenig wie möglich nutzen, um den Kontakt nicht übermäßig zu strapazieren - er muss zur Lösung wichtigerer Probleme bestehen bleiben.
Sie ruft Schmidt an und gibt einen knappen Zwischenbericht. Die Stimme am anderen Ende ist knurrig, als sie den Abbruch der Observation mitteilt. Lydia wird noch einmal eindringlich ermahnt, Namen und Adresse der Polizistin zu ermitteln. Sie verspricht, diese Informationen ohne Observation so schnell wie möglich zu beschaffen. Der Mann am Telefon antwortet herablassend, dass es ihm gleich sei, wie sie vorgehe, er erwarte präzise und schnelle Ergebnisse. Kaum hat sie das Gespräch beendet, bricht der Gewittersturm los. Plötzlich ist es dunkel. Tiefhängende Wolken haben das Tageslicht verschluckt. Lydia läuft schnell in Richtung U-Bahneingang. Sie wird von einer Böe erfasst, die ihr einen Moment lang den Atem nimmt. Um voranzukommen, muss sie sich bei jedem Schritt gegen die Sturmböen stemmen. Papier, Plastikmaterial und kleine Zweige - eingehüllt in einer Wolke Straßenstaub - fliegen ihr entgegen. Kurz bevor sie die Treppe zum U-Bahnhof erreicht, prasseln die ersten Tropfen auf sie herab. Einigermaßen trocken gelangt sie auf den Bahnsteig.
* * *
Zur selben Zeit haben Hanna und Jens ihren Posten für die Überwachung eingenommen. Beide schweigen. Jetzt tobt das Gewitter und bringt die ersehnte Abkühlung. Der Aufschlag der Hagelkörner auf das Dach ihres geparkten Wagens erzeugt einen lauten Trommelwirbel, der eine Verständigung im Innenraum des Fahrzeugs schwierig macht. Dem Hagelsturm folgen Schwaden dichter Regenvorhänge. Sie erlauben kaum mehr als fünf Meter Sicht. An eine ertragreiche Überwachung ist nicht mehr zu denken. Die Fenster des großen Miethauses, hinter dem sich die zu überwachende Gruppe von Dealern aufhält, sind erleuchtet. Bei diesem Wetter wird wohl niemand das Haus verlassen. Jens hat die Scheibenwischer abgestellt, sie können das Wasser von der Frontscheibe ohnehin nicht wegschaffen. Nun rinnt dort eine gleichmäßige Regenflut hinab. Draußen etwas zu erkennen, ist kaum noch möglich. Alles ist schemenhaft verwischt. Helle Flecken lassen erleuchtete Wohnungsfenster in den Häuserzeilen erahnen. Hin und wieder tauchen Lichtfetzen von Scheinwerfern entgegenkommender Autos auf. Die Seitenfenster und die Heckscheibe des Wagens sind beschlagen und schirmen die beiden Insassen von der Außenwelt ab. Hanna genießt es, geschützt in dieser Abgeschlossenheit zu sitzen, wenn um sie herum das Unwetter mit grellen Blitzen und grollendem Donner tobt. Die Nähe von Jens lässt in ihr ein zartes erotisches Gefühl aufsteigen. Als sie es bemerkt, bemüht sie sich, es abzuwehren, aber ohne rechten Erfolg.
Jens scheint die Situation ähnlich zu erleben und bekämpft seine Empfindungen mit Geschäftigkeit. Er zerrt aus seinem Rucksack, den er auf den hinteren Sitz gelegt hat, eine Thermoskanne und zwei Pappbecher hervor, füllt einen Becher mit Kaffee und reicht ihn Hanna mit etwas zittriger Hand.
„Hier komm‘, nimm einen Schluck, viel ist nicht mehr übrig. Meine Frau macht immer zu wenig Kaffee, aber dafür ist er wirklich sehr gut.“ Er spricht laut mit unnatürlicher Munterkeit und gießt sich etwas umständlich den Rest des Kaffees in den eigenen Becher. Hanna stört es, dass er in dieser Situation die Kaffeekochkünste der Gattin anspricht.
„Warum bringt er gerade jetzt seine Frau ins Spiel“, fragt sie sich, „macht ihm unsere Zweisamkeit zu schaffen?“ Nachdem Hanna den ersten Schluck genommen hat, fragt er herausfordernd:
„Stimmt, nicht wahr?“ Hanna antwortet nur mit einem kurzen Brummen.
„Möchtest du noch ein Brot mit Käse?“
„Wenigstens jetzt unterlässt er es, darauf hinzuweisen, dass dieser kleine Imbiss der Fürsorge seiner Frau zu verdanken ist“, denkt Hanna und nimmt das Brot dankend an. Sie ist hungrig, die Kantinenwürstchen haben nicht lange vorgehalten. Beide kauen schweigend, nehmen ab und zu einen Schluck Kaffee und richten ihre Blicke in kurzen Abständen nach draußen zu den Fenstern und der Eingangstür des Hauses. Außer verschwommenen Lichtflecken ist nichts zu erkennen.
„Hier zu stehen, ist eigentlich sinnlos“, denkt Jens.
Im Wagen herrscht weiterhin Schweigen. Beide essen bedächtig und können damit ihre Sprachlosigkeit rechtfertigen. Gleichzeitig wird die Atmosphäre immer knisternder. Jens wischt wieder einmal die beschlagene Seitenscheibe frei, schaut eine Weile heraus und sagt dann plötzlich:
„Du, schau mal, da tut sich was!“ Sie beugt sich zu ihm hinüber, um seinem Blick folgen zu können, stützt sie sich mit der linken Hand auf seinem Oberschenkel ab. Ihr Gesicht ist jetzt ganz dicht an seinen.
„Ich sehe nichts, was meinst du, passiert?“, fragt sie mit dunkler Stimme. Jens, der bisher starr durch den frei gewischten Teil der Scheibe geschaut hat, wendet langsam sein Gesicht zu ihr, was unweigerlich zu einer Berührung führen muss, während Hanna weiterhin unbewegt nach draußen blickt. Ihr Herz pocht. Blut steigt ihr ins Gesicht. Jetzt treffen sich ihre Blicke, keiner weicht dem anderen aus. Ihre Lippen nähern sich in Zeitlupe.
„Au, Scheiße!“ schreit Hanna plötzlich auf und schnellt zurück. Jens hat seinen rechten Arm um sie gelegt, in der Hand den halbgefüllten Kaffeebecher. Dessen Inhalt ergießt sich über Hannas Schulter und Oberarm. Es ist nicht die Temperatur des Kaffees, vielmehr Schreck über die unerwartete Dusche, der sie hat aufschreien lassen. Jens ist betroffen und versucht linkisch mit der Hand die Flüssigkeit vom Oberarm abzustreifen, was Hanna aber abwehrt. Sie hat sich aufgerichtet, kramt in ihrer Tasche, zieht ein Papiertaschentuch daraus hervor, beginnt, die Flüssigkeit abzutupfen. Jens stammelt ein paar Entschuldigungen, die sie zunächst überhört, um dann bei der vierten Beteuerung genervt zu erwidern, dass es ja nun genug sei. Sie ist ärgerlich. Nicht wegen der besudelten Kleidung, sondern weil er die Atmosphäre und den Ansatz zur gemeinsamen Zärtlichkeit so tölpelhaft zerstört hat. An Zufall glaubt sie dabei nicht und denkt:
„Irgendwie hat die Frau mit ihrem so brillant gekochten Kaffee auch jetzt wieder ihre Hand im Spiel. Offenbar wehrt sich etwas in ihm, mir zu nahe zu kommen. Was hat das zu bedeuten, wenn er einen solchen Widerstand aufbaut?“, fragt sie sich und überlegt weiter, „es kann doch nur heißen, dass er es ernst meint und die Gefahr sieht, sich von seiner Frau zu trennen, wenn er sich mit mir einlässt. Aber er wird wohl auch Angst haben, dass er für mich nur eine flüchtige Affäre bedeuten könnte. Wäre er nur auf ein schnelles Abenteuer aus, dann machten solche Selbstbehinderungen keinen Sinn.“ Hanna ist ratlos. Die Reinigungsversuche ihrer Bluse und des Armes sind beendet, und es herrscht drückende Stille. Die erotisch knisternde Atmosphäre hat sich schlagartig in alltägliche dienstliche Stimmung gewandelt. Nichts ist mehr vom fiebrigen Drang zu spüren, wie noch Minuten zuvor. Sie ist sauer auf ihn, weil er keine Initiative und keinen Mut zeigt und auf sich selbst, weil sie ihre Gefühle nicht im Griff hatte und bereit war, das Prinzip der Beziehungsabstinenz im Dienst zu verletzen. „Alles in Ordnung?“, fragt er und ist wieder der fürsorgliche Anleiter, und versucht sie zu trösten, „es ist ja nicht mehr lang, dann werden wir abgelöst.“. Sie beantwortet mit einen lahmen: „Ja gut, kein Problem.“ Längeres Schweigen.
Das Gewitterzentrum ist vorübergezogen, noch sind Blitze zu sehen, aber das Donnergrollen folgt ihnen immer später. Nun hat ein gleichmäßiger Dauerregen eingesetzt.
Jens starrt gebannt aus dem Seitenfenster, als würde er einen spannenden Film sehen. Dann kurbelt er die Scheibe herunter. Frische Luft strömt in den Innenraum des Fahrzeugs. Hanna hat sich auf dem Beifahrersitz entspannt zurückgelehnt, die Augen geschlossen und genießt die Kühle. Ohne den Blick auf das gegenüberliegende Haus gerichtet, fragt er: „Sag’ mal, wie soll es mit deinem Fall weitergehen?“ und betont dabei die beiden Wörter „deinem Fall“.
„Aha, jetzt geht es weiter mit fachlicher Konversation, vielen Ratschlägen und Warnungen des erfahrenen Ermittlers“, denkt sie müde. Ohne die Augen zu öffnen, antwortet sie bewusst unschlüssig:
„Du, ich weiß es noch nicht. Ich habe erst einmal das Phantombild erstellen lassen und dann warte ich auf das Ergebnis der KT, ob das Geld echt ist, oder ob es sich um Blüten handelt. Dann werde ich weitersehen.“ Sie hat nicht die Absicht, Jens in ihr Vorhaben einzuweihen.
Wie erwartet, kommt von seiner Seite der dringliche Rat, alles mit ihm abzustimmen, um Anfängerfehler zu vermeiden. Hätte er die Anfängerfehler nur nicht erwähnt! Hannas ohnehin geringe Bereitschaft, mit ihm den Fall zu besprechen, sinkt nun auf den Nullpunkt. Es folgt noch eine längere Vorlesung über gelungene Polizeiarbeit, gespickt mit vielen Beispielen seiner erfolgreichen Ermittlungen, die Hanna passiv und wortkarg über sich ergehen lässt. Sie überlegt, ihm zu sagen, dass er mit diesem belehrenden Zeug aufhören und sich endlich mal trauen sollte, sie in die Arme zu nehmen. Aber dazu fehlt ihr der Mut, und eigentlich will sie es auch nicht.
Die restliche Zeit der Überwachung verläuft nahezu ereignislos. Nachdem der Regen etwas nachließ, war eine Familie mit zwei Kindern in durchnässter Kleidung ins Haus geflüchtet. Ein älteres Ehepaar kam heraus und stieg in ein wartendes Taxi. Dann traten zwei Frauen mit Kopftuch aus dem Haus, die einen Kinderwagen mit sich führten. Das einzig bemerkenswerte Ereignis bestand darin, dass ein junger Mann mit Kapuzenjacke das Haus verließ, die Straße überquerte, einen sogenannten „Spätkaufladen“ betrat und kurze Zeit mit einem Sechserpack Bier wieder zurücklief.
Jens machte von allen Personen Fotos. Sonst herrschte im Fahrzeug bis auf ein paar belanglose Bemerkungen nervtötendes Schweigen, was die Zeit noch zäher vergehen ließ. Endlich erscheint die Ablösung. Nach kurzem Bericht bei der Übergabe machen sich Jens und Hanna in den Feierabend auf. Seine Einladung zum Bier schlägt sie aus. Jens besteht aber darauf, Hanna wenigstens nach Hause zu bringen. Im Auto vor ihrer Wohnung reicht er ihr förmlich die Hand zur Verabschiedung anstatt des sonst üblichen kurzen „mach's gut“, oder „dann bis morgen“.
Hanna muss laut lachen, zieht ihn an sich, gibt ihm einen Kuss auf den Mund, steigt hastig aus dem Wagen und sagt:
„Denk‘ mal darüber nach, was heute geschehen ist.“ Er schaut sie erschrocken und verwirrt an. Als er sich wieder im Griff hat, ruft er ihr eilfertig nach:
„Aber Hanna, deshalb wollte ich mit dir doch noch ein Bier …“, er hält inne, weil sie bereits durch die Eingangstür des Hauses verschwunden ist. Aufgewühlt und mit wirren Gefühlen und Gedanken fährt er nach Hause.
In ihrer Wohnung angekommen, zieht Hanna die vom Kaffee verschmutzten Sachen aus und stopft sie in die Waschmaschine. Dann bereitet sie sich einen Salat zu. Sie hat keinen großen Hunger. Die Brotschnitte von Jens Frau liegt ihr im doppelten Sinn noch schwer im Magen. Danach geht es unter die Dusche. Im Bademantel nimmt sie zusammen mit einem Glas Rotwein ihr Abendessen ein. Sie isst und trinkt hastig, es drängt sie, ihren Plan zu starten, den „Franzosen“ zu identifizieren.
Noch während sie den letzten Bissen kaut, hat sie die Phantombilder ihrer Tasche entnommen und in eine Schublade des Schreibtisches gelegt. Dann beginnt sie am Computer mit ihrer Recherche. Nach etwa eineinhalb Stunden hat sie mehr als ein Dutzend Positionen aufgelistet. Diese zu bearbeiten, erfordert viel Arbeit am Wochenende.