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Franceville, Gabun, Westafrika, Sonnabend, 14. Mai

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Rainer Müller-Hahn





Giftgas

tödliche Vergeltung


Umweltthriller





Wie immer ist es schnell dunkel geworden, die Temperatur jedoch kaum gesunken. Zum Ende der Regenzeit herrscht die übliche große Schwüle. Das Konzert der Nachttiere und das Flattern der Fledermäuse haben gerade begonnen, als der allabendliche, sturz­bachartige Regenguss einsetzt. Jetzt ist nur noch lautes Rauschen des Regens zu hören. Auf das Blätterdach prasseln schwere Trop­fen. Sie werden vereint zu kleinen Flüssen, die sich auf den Wald­boden ergießen und dabei den Duft unzähliger, nun geschlossener Blüten, verteilen. Die Mulden in dem ungepflasterten, als Schneise in den Urwald ge­schlagenen, rotsandigen Weg füllen sich schnell mit Wasser. Bla­sen und Spritzer vom Einschlag der Regentropfen lassen die ent­sta­ndene kleine Tümpellandschaft wie kochend erscheinen.

Sonst regt sich nichts in der Sackgasse. Sie dient als Zugang zu ei­nem Gebäudekomplex und zweigt von der Route Nationale Nr. 16 ab, etwa in der Mitte der Strecke zwischen dem Dorf Kelé und der Provinzhauptstadt Franceville. Nach fünfhundert Metern endet sie im dichten Urwald. Der Mann im dunkelgrünen Regenumhang mit spitzer Kapuze steht schon seit geraumer Zeit bewegungslos an einen Stamm gelehnt im Dickicht. Er wird verdeckt durch die Luftwurzeln der Würgefeige und hohe, breitblättrige Farne. In dieser Kleidung wirkt er wie ein Zaube­rer aus dem Märchen oder wie ein Mitglied des Ku-Klux-Klans.

Sein Blick ist starr auf das jenseits der Straße gelegene, moderne, einstöckige Gebäude gerichtet. Dies ist umgeben von einem aus­gedehnten parkähnlichen Grund­stück. Die Umzäunung besteht aus einem über zwei Meter hohen Stahlgitter. Zwischen dessen nach außen gebogenen Hauptstreben ist Stacheldraht gespannt. Wären sie nach innen gewandt, könnte man glauben, es handele sich um den Sicherungszaun eines Ge­fängnisses. An mehreren Stellen warnen Schilder in französischer, englischer Sprache und Kaningi - eine der Bantusprachen der Re­gion - vor dem Betreten des Grund­stücks. Über dem Eingangsportal verkündet ein großes Schild in blauem Schriftzug:

LABORATOIRES BIOCHIMIQUES

Trouvaille S.A., Franceville, Gabon

Die kleine, blau-weiß-rote Fahne am oberen Teil des Schildes weist auf eine französische Firma hin. Vom Tor führt ein breiter, mit hellen Platten belegter Weg zum überdachten Eingangsbereich des Hau­ses und mündet in einen halbmondförmigen Platz. Weiße Markie­rungen kennzeichnen die Parkplätze. Auf einem ist ein Off-Roa­d-Wagen abgestellt. Platz und Wege werden von kniehohen Lam­pen beleuchtet.

Im Frontbereich des Hauses stehen auf kurz geschnittenem, ge­pflegtem Rasen mehrere Palmen und Bananenstauden mit weit ausladenden Blättern. Aus mehreren Amphoren ähnlichen, irdenen Behältern quellen üppige exotische Pflanzen hervor.

Das Innere des Gebäudes ist noch beleuchtet. Aus einigen der stark vergitterten Fenster scheint weißes, aus anderen kaltes, blau­es Licht.

Der Beobachter befindet sich in einer Art körperlichen Starre, einem Zustand, den er in den Jahren als Fremdenlegionär beim Wa­chehalten gelernt hat. Auf einem solchen Posten einzuschlafen, hätte Lebensgefahr für die Kameraden und ihn bedeutet. So hat er eine Technik entwickelt, wach und konzentriert zu bleiben, ohne zu er­müden und einzuschlafen. Es ist ihm gelungen, seinen Körper quasi beiseite zu stellen und dessen Energie auf die Aufmerksam­keit umzulenken. Der Körper darf schlafen, nicht aber Wahrneh­mung und Verstand. In dieser körperlosen Wachheit fühlt er sich wohl und erlebt alles um sich herum klar und deutlich.

* * *

Die Wasserflut von oben dauert etwa eine halbe Stunde und endet so schlagartig, wie sie begonnen hat. Sofort setzt das lautstarke und vielstimmige Konzert der Nachttiere des Urwaldes wieder ein. Über den nach dem Regenguss trocknenden Wegplatten zum La­boratoriumsgebäude wabert jetzt ein feiner Nebelschleier und lässt um die Lampen der Wegbeleuchtung Miniaturregenbögen entstehen. Myriaden von Insekten umschwirren die Lichtquellen. Das Wasser in den Straßenmulden beginnt, langsam zu versickern.

Bald nach Ende des Regens öffnet sich die Tür des Hauseinganges und vier Männer treten heraus. Es sind drei Afrikaner und ein Europäer. Zwei von ihnen rauchen. Sie lachen und reden laut, während sie gemächlich zum Jeep ge­hen. Einer der Farbigen verabschiedet sich von den anderen, und nachdem diese in das Fahrzeug gestiegen sind, kehrt er winkend ins Gebäude zurück. Der Jeep setzt sich in Bewegung. Das große Portal hat sich bereits mit leisem Quietschen geöffnet und gibt den Weg zur Straße frei. Dann schließt es sich automatisch. Der Wagen schaukelt durch die Mulden, wie Schiff in schwerer See. Schlamm spritzt rechts und links neben dem Wagen hoch auf. Noch eine Zeit lang sind die schwankenden roten Punkte der Heck­beleuchtung zu sehen. Dann ist der Wagen in die Hauptstraße ab­gebogen. Im Gebäude werden die Lichter gelöscht. Der versteckte Beobachter auf der anderen Seite der Straße hat al­les mit großer Aufmerksamkeit beobachtet, verbleibt jedoch in sei­nem regungslosen Zustand. Er wird noch eine Weile warten, um dann den wichtigsten Teil seines Auftrags zu erledigen.

* * *

Dr. Jerôme Jarcol steuert den Wagen über die aufgeweichte Sand­piste. Er benötigt etwa dreißig Minuten Fahrzeit bis zu seinem Haus in der Bungalowsiedlung vor den Toren von Franceville. Diese ist eigens für die europäischen Mitarbeiter des Konzerns errichtet wor­den. Heute dauert die Fahrt etwas länger, weil er die beiden Kolle­gen noch im Stadtzentrum absetzen wird.

Jerôme ist ein kräftiger, etwas untersetzter Mann. Sein kantiges Ge­sicht mit den wachen, dunklen Augen, der Boxernase und dem dunklen Haar im Bürstenschnitt lässt ihn wie einen Angehörigen des Militärs oder der Polizei erscheinen, weniger als einen Wissen­schaftler. Vor drei Wochen hat er das zweiundvierzigste Lebensjahr vollendet. Drei Dinge in seinem Leben sind ihm wichtig: seine Familie, die Ar­beit und der Sport.

Schon als Jugendlicher war er sportlich aktiv, hatte sich verschiede­nen Kampfsportarten verschrieben. Während seines Studiums ge­wann er einmal die französische Universitätsmeisterschaft im Kara­te.

Die wenige Freizeit, die Temperatur und die hohe Luftfeuchte er­schweren hier in Gabun ein systematisches Sporttraining. Als Folge davon deutet sich bei ihm ein kleiner Bauchansatz an.

Seine berufliche Entwicklung verlief geradlinig und zügig. Abitur, Wehrdienst und Studium. Was er studieren wollte, war ihm schon seit der Schulzeit klar. Biochemie faszinierte ihn, und er schrieb sich nach der Schulzeit als Student an der Universität Paris-Süd ein. Seine Leistungen waren hervorragend. Er erhielt ein Auslandssti­pendium für ein Jahr in Deutschland an der Freien Universität Ber­lin. Zurück in Paris, schloss er sein Studium ab, wurde Assistent am Lehrstuhl für Biochemie, promovierte und arbeitete fünf Jahre in der akademischen Forschung. Dann kam das Angebot der Firma Trouvaille in Marseille. Die For­schung in der pharmazeutischen Industrie hatte ihn bis dahin nicht besonders gereizt, jedoch war das Angebot so attraktiv, dass er sich entschloss, es anzunehmen. Er zog nach Marseille und entwi­ckelte zusammen mit seinem älteren Kollegen Dr. Malin ein For­schungsprogramm, das in einem eigens dafür gebauten Labor in Gabun realisiert werden sollte. In Marseille lernte er seine spätere Ehefrau Jacqueline kennen, eine Krankenhausärztin, mit der er zwei Töchter hatte - drei und vier Jahre alt. Seit Beginn der Anstellung beim Trouvaille Konzern pen­delte er im Wechsel von sechs Wochen Arbeit und einer Woche Ur­laub zwischen Marseille und Franceville.

Während der Autofahrt nach Franceville bespricht man die neue Versuchsreihe, die am Montag gestartet werden soll. Dabei fällt Je­rôme ein, dass er seine Aktentasche mit wichtigen Unterlagen und zwei wissenschaftliche Zeitschriften im Labor hat liegen lassen. Er hatte sich vorgenommen, am Sonntag zuhause noch einige Er­geb­nisse der letzten Versuchsreihe auszuwerten. Jerôme ist ärger­lich und überlegt, ob er jetzt zurückfahren oder morgen früh die Un­ter­lagen holen soll. Er entscheidet, zurückzufahren, um an seinem freien Tag nicht auch noch ins Labor zu müssen.

Das Stadtzentrum ist erreicht. Jerôme lehnt die Einladung der Kol­legen zu einem gemeinsamen Umtrunk in einem Bistro dankend ab. Dort will man auch noch etwas vom Fußballspiel sehen.

Nachdem er seine Mitfahrer an ihrem Ziel hat aussteigen lassen, ruft er über Handy im Labor an. Sofort meldet sich die Stimme des Wachmannes, und Jerôme kündigt sein Kommen an.

„Soll ich Ihnen die Tasche bereitstellen, Doktor?“

„Nein, nicht nötig Joseph, ich nehme gleich noch andere Unterlagen mit. Wo Sie die finden können, ist zu kompliziert zu erklären. Ich bin schon auf dem Weg und werde in etwa einer halben Stunde bei Ih­nen sein.“

„O. K., bis gleich, Doktor!“ Der Wachmann widmet sich wieder dem Fußballspiel im Fernsehen.

* * *

Eine halbe Stunde nach Abfahrt des Wagens erwacht der Beobach­ter aus seiner Erstarrung. Um aktiv zu werden, muss er den stillge­legten Körper und das Bewusstsein wieder zusammenfügen. Dazu atmet er mehrmals tief durch, spannt und entspannt die Muskeln im schnellen Wechsel. Dann ist er wieder vollständig handlungsfähig. Endlich kann er den Regenumhang abstreifen. Durch die hohe Au­ßentemperatur hat er einen Saunaeffekt bewirkt. Jetzt hängt er ihn an den verdorrten Ast eines Okoubakabaumes.

Langsam bewegt sich der Mann aus dem Dickicht. Er ist knapp ei­nen Meter neunzig groß, schlank, trägt ein Militär-T-Shirt, das vom Schweiß an vielen Stellen durchtränkt ist und schwarze Flächen auf dem olivgrünen Stoff gebildet hat. Die helleren Gurte des Schulter­halfters heben sich davon deutlich ab. Im Halfter steckt eine Glock, Kaliber neun Millimeter. Am Gürtel der Camouflage Cargohose ist eine breite, geräumige Tasche befestigt. Deren Ausbeulung weist darauf hin, dass sich darin allerlei Gerät befindet. Insgesamt bietet der Mann das Bild ei­nes durchtrainierten, erfahre­nen und gut ausgerüsteten Kämpfers. Dieser Eindruck wird noch durch seine geschmeidigen Bewegun­gen unterstrichen.

Geduckt, mit weiten Sprüngen überquert er die Straße und erreicht das Eingangsportal am Zaun. Durch die Signale eines kleinen Sendegeräts, das er der Tasche am Gürtel entnommen hat, und mit ein paar Handgriffen gelingt es ihm, das Tor einen Spalt weit zu öffnen. Er ist zufrieden. In den vergangenen Tagen und Nächten musste er sich neben seinen Beobachtungen der Personen, der Abläufe im Laboratoriumskomplex und des Kommens und Gehens auch intensiv mit dem Schließmechanismus des Tores beschäftigen. Dabei half ihm eine Herstellerzeichnung über Mechanik und Elektronik des Torverschlusses, die er sich vor seiner Ankunft in Gabun besorgt, und mit der er sich in den letzten Tagen vertraut gemacht hatte. Nach erfolglosen Versuchen, den Funkcode, der den Verschluss­mechanismus entriegelt, zu identifizieren, ist er auf einen erstaunli­chen Konstruktionsfehler des Verschlusssystems gestoßen. Mithilfe eines einfachen, selbst gebauten Senders konnte er den elektroni­schen Code löschen, wodurch das Öffnen des Tores mechanisch per Hand möglich wird. Dies hatte er in der vergangenen Nacht erfolgreich am Tor getestet und jetzt wiederholt. Er schlüpft durch den Spalt des Portals, läuft tief gebückt über den Rasen, vermeidet, ins Licht der Wegbeleuchtung zu geraten, be­nutzt Bäume und Sträucher als Deckung und erreicht schnell den Vorplatz zum Gebäudeeingang.

Er klopft mehrfach energisch an die Eingangstür. Nach einer Weile entsteht im Haus Bewegung. Eine Tür wird geöffnet, und die Ge­räusche eines im Fernsehen übertragenen Fußballspiels dringen nach draußen.

Schritte nähern sich der Eingangstür. Das Licht über dem Eingang flammt auf. Der Unbekannte zuckt unwillkürlich zusammen.

„Sind Sie es, Dr. Jarcol?“, fragt der Wachmann und ohne eine Ant­wort ab­zuwarten, fügt er bewundernd hinzu, „Sie haben sich aber beeilt. Warten Sie, ich lasse Sie herein, muss nur erst den Alarm abstel­len, einen Moment bitte.“ Die Schritte entfernen sich und keh­ren gleich wieder zurück. Die Tür öffnet sich, und der Wachmann schaut erschreckt auf den fremden Besucher.

„Mein Gott, wer sind Sie?“, ruft er aus und will die Tür wieder zu­ schlagen. Doch schon hat sich der Fremde mit seinem ganzen Ge­wicht dagegen geworfen. Sie wird weit aufgestoßen, und der über­raschte Wachmann kommt zu Fall. Der Eindringling richtet seine Pistole auf ihn und fragt mit leiser, freundlicher Stimme in Kalin­gi, von der er einige Brocken während seines Aufenthalts in den neun­ziger Jahren als Legionär gelernt hat:

„Guten Abend, Monsieur M’Ogombé. Wann kommt Dr. Jarcol?“ Durch seine Recherchen im letzten Monat hat er die vierundzwan­zig Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Laboratoriums sorgfältig überprüft. So kennt er deren Namen, Funktionen und auch die per­sönlichen Verhältnisse. Der Wachmann liegt zitternd am Boden, die Augen weit aufgeris­sen. Er versucht, sich auf den Ellenbogen abstützend, aufzu­richten. „Wann wird Dr. Jarcol hier auftauchen, und was will er?“, fordert er Joseph energisch zu einer Antwort auf, nun in französischer Spra­che.

„Er …, er wollte gleich, äh …, gleich hier sein …, so in … in zehn Minuten, hat …, hat was …, etwas ver- …, ver- …, vergessen!“, stottert er und starrt wie hypnotisiert auf die Mün-

dung der Waffe mit dem Schalldämpfer.

„Lassen Sie mich bitte, bitte am Leben“, bettelt er, „ich …, ich helfe Ihnen, ich sage …“

Unbeeindruckt vom Flehen und der Todesangst des Mannes sagt der Fremde, freundlich lächelnd:

„Entschuldigen Sie, Monsieur M’Ogombé, ich habe mich Ihnen ja noch gar nicht vorgestellt, mein Name ist Moussard, Jean Mous­sard“, fügt er sanft hinzu, „bitte, stehen Sie doch auf!“, und reicht ihm die freie Hand. Der Fremde verwendet hier gefahrlos sei­nen wirklichen Namen.

Auf dem Gesicht vom Wachmann zeigt sich Erleichterung, er ver­sucht sich aufzurappeln, um die Hand des Mannes über ihm zu er­reichen. Das dumpfe Plopp des Schusses kann er nicht mehr hö­ren, sein Körper fällt zurück. Der hoffnungsfrohe Ausdruck im Gesicht ist geblieben, nur befindet sich jetzt ein kleines, schwarzes Loch in seiner Stirn. Aus dem Hin­terkopf sind Knochensplitter und Hirnmasse ausgetreten und haben sich auf dem Boden verteilt. Eine Blutlache unter seinem Kopf brei­tet sich schnell aus. Moussard empfindet weder Betroffenheit noch ein Gefühl der Ge­nugtuung. Für ihn stellt die Liquidierung des Wachmannes eine not­wendige Räumungsarbeit dar. Ein Hindernis, ein Baumstamm, der die Straße versperrt und entfernt werden muss. Jetzt ist Eile geboten. Gleich wird er Besuch bekommen.

Wieder einmal wird ihm bewusst, an welch dünnen Fäden, selbst bei sorgfältigster Vorbereitung, der Erfolg solcher Aktionen hängt. Ursprünglich hatte er einen sicheren Plan ausgearbeitet, um sich Zutritt zum Gebäude zu verschaffen. Da im entscheidenden Mo­ment, wo er sich an der Tür bemerkbar machte, der Wachmann ihn für Dr. Jarcol hielt, und die Tür bereitwillig öffnete, war es beson­ders einfach, den Wachmann zu überrumpeln und ins Haus zu ge­langen. Ohne die Information hätte ihn dieser Jarcol später über­rascht. Wäre er dann schon im Labor, hätte er wie die Maus in der Falle gesessen. Nur diesem Zufall ist zu verdanken, dass er auf das Erscheinen von Jarcol vorbereitet ist. Er schaut auf die Uhr und überlegt:

Er wird in etwa zehn Minuten eintreffen. Die Zeit reicht nicht

aus, um die Laborschleuse zu passieren, den Safe zu knacken, das Ma­terial zu holen und zu verschwinden. Ich muss also etwas improvi­sieren.“

Eilig löst er den Schlüsselbund vom Gürtel des Toten. Dann packt er den Mann an den Füßen und schleift ihn durch den Flur in einen Raum, der als Küche für das Wachpersonal dient. Dabei hinterlässt der Tote eine breite Blutspur auf dem Fußboden.

Mit einem Stück Küchenpapier kehrt er zurück und sieht sich nach der Pistolenkugel um, die aus dem Hinterkopf seines Opfers ausge­treten ist. Nach einigem Suchen findet er sie in der Blutlache. Vor­sichtig nimmt er das blutige Projektil mit dem Papier auf, säubert es und steckt es in die Seitentasche seiner Hose. In der Steuerzentrale macht er sich an einem Schaltschrank zu schaffen, zieht aus einem Verteilerkasten einige Kabelstecker und legt verschiedene Schalter um. Er tut das sicher und gezielt. Während der Vorbereitung auf diese Aktion hat er sich mit der Alarm- und Kommunikationstechnik des Labors vertraut gemacht. Alle wichtigen Schaltungen sind in seinem Kopf gespeichert. Als er die Zentrale wieder verlässt, sind die Telefonverbindungen, das Notrufnetz des Hauses und der Zu­gang zum Internet unterbrochen.

Er löscht das Licht im Flur, lässt die Eingangstür angelehnt und zieht sich in eine Nische im hinteren Teil des Flurs zurück und war­tet.

* * *

Jerôme hat bereits die Zufahrtsstraße zum Laboratorium erreicht und holpert in langsamer Fahrt den Weg hinunter zum Eingangs­portal. Seine Gedanken sind bei den letzten Versuchen im Rahmen der Bekämpfung lebensgefährlicher bakterieller Infektionen. Hier in Gabun beschäftigt sich das Trouvaille-Labor mit der Erforschung und Behandlungsmöglichkeit von hochgefährlichen viralen und bakteriellen Erkrankungen u. a. Ebola, HIV und Hepatitis B, sowie Infektionskrankheiten durch Staphylokokken und Streptokokken. Letztere erweisen sich als zunehmend resistent gegen Antibiotika.

Seit fünf Jahren arbeitet er an diesem groß angelegten For-

schungsprojekt. Die Wahl des Ortes hatte mit den Wellen von Ebola Epide­mien in Gabun und dem Kongo Anfang der Jahrtausendwende zu tun, vor allem aber mit dem starken Aufkommen von Fledermäusen und Flughunden. Sie gelten als Träger gefährlicher Viren, kommen aber - im Gegensatz zu Menschen - mit diesen Gästen problemlos zurecht.

Es war ein Zufall, durch den er im November vorigen Jahres eine Substanz gefunden hat, die schon in geringsten Mengen eine Verdi­ckung und Verklumpung des Blutes mit unglaublicher Geschwindig­keit auslöst. Es ähnelt dem Vorgang, wenn man Zitronensaft in Milch gießt. Wie dort werden sofort feste Bestandteile ausgeflockt, die schlagartig das gesamte Blutkreislaufsystem blockieren. Ver­suchstiere waren in Sekunden tot.

Für Jerôme besteht kein Zweifel, dass diese Wirkung auch bei Men­schen eintreten wird, gleichgültig, wie der Stoff in den Organismus gelangt, als Flüssigkeit, über die Haut aufgenommen oder als Aero­sol eingeatmet.

Jerôme hat die chemischen Bestandteile dieses zufällig entstande­nen Materials analysiert und ist nunmehr in der Lage, diesen Stoff in einem aufwendigen Verfahren als Flüssigkeit herzustellen. Die Flüssigkeit verdampft bei einer Temperatur von 18,4 Grad Celsius. Einige Proben aus verschiedenen Produktionsläufen lagern im Hochsicherheitslabor. Er hat dieser wasserklaren Substanz die vorläufige Bezeichnung Thrombotoxin-TJJ2010 gegeben. Das „T“ steht für Trouvaille, „JJ“ sind die Initialen seines Vor- und Familien­namens und „2010“ be­zeichnet das Jahr der Entdeckung.

Die chemischen Prozesse, wie es zu der schlagartigen Verdickung des Blutes kommt, müssen noch untersucht werden. Solange bleiben auch die Fragen nach einem wirksamen Gegenmittel unbeantwortet und es ist ungeklärt, ob bei der rasanten Wirkweise des Giftes so etwas überhaupt möglich ist, wenn überhaupt, dann vielleicht eine vorbeugende Immunisierung.

Meine Entdeckung könnte Begehrlichkeiten auslösen. Nicht aus­zudenken, wenn es in falsche Hände geriete und als Kampfmittel eingesetzt würde.“ Mit diesen Gedanken erreicht er die Toreinfahrt und ist verwundert, dass das Tor einen Spalt weit offensteht. Auch lässt es sich mit der Fernbedienung nicht bewegen.

* * *

Jerôme ist beunruhigt, steigt aus dem Wagen und öffnet das Tor so weit, dass er hindurch fahren kann. An der Eingangstür des Gebäu­des angekommen, bemerkt er, dass auch diese nur angelehnt ist. Weder an der Eingangstür noch im Empfangsraum und Flur brennt Licht. Er ist gewarnt, kehrt zu seinem Wagen zurück, zieht eine Pis­tole unter dem Fahrersitz hervor, die er dort zu seinem Schutz ver­steckt hat. Er hatte sie sich hier in Gabun auf dunklen Wegen be­sorgt. Die Kriminalität im Land ist erheblich. Seine eigene Waffe - eine SIG-Sauer - konnte er wegen der scharfen Kontrollen an den Flughäfen nicht aus Frankreich herausbringen. Vorsichtig, mit entsicherter Waffe nähert er sich erneut dem Eingang.

„Hallo, Joseph, sind Sie da?“, ruft er. Keine Antwort. Nur Jubel und Anfeuerungsrufe der Zuschauer des Fußballspiels sowie der laut und hysterisch schreiende Kommentator sind aus der techni­schen Zentrale zu hören. Er ruft noch einmal. Wieder keine Reakti­on.

Soll ich mit meinem Handy die Polizei rufen oder erst einmal hin­eingehen?“, fragt er sich. Seine innere Stimme antwortet: „Schau‘ selbst nach, was los ist. Wirst ja sehen, ob Polizei notwen­dig ist. Die wird wegen des Fußballabends lange brauchen. Alarm kannst du notfalls auch im Haus auslösen.“

Vorsichtig betritt er die Vorhalle. Es ist dunkel. Er versucht den Lichtschalter zu ertasten, macht dazu einen Schritt entlang der Wand. Sein linker Fuß rutscht ein wenig zur Seite. Es ist glatt. Ohne, dass er den Schalter berührt hat, flammt das Licht plötzlich auf. Er schaut an sich herab und erkennt, dass er in einer Blutlache steht. Angst und Ekel packen ihn, er will in Panik zurück zur Tür, strauchelt, und um Halt zu finden, lehnt er sich an die Wand. Eine innere Erregung durchfährt ihn, wie elektrischer Strom. Jerôme hört ein leises Geräusch, blickt hoch und erkennt am Ende des Flurs eine Gestalt in militärischer Tarnkleidung. Er atmet tief durch, und ruft mit bebender Stimme:

„Wer sind Sie? Nehmen Sie die Hände hoch!“

Die Person rührt sich nicht, Von ihr ist nur ein lautes höhnisches La­chen zu hören. Jerôme zwingt sich zur Ruhe und wiederholt seine Forderung laut und energisch:

„Nehmen Sie die Arme hoch und sagen Sie mir Ihren Namen, sonst schieße ich!“ Wieder geschieht nichts. Dann plötzlich eine schnelle Armbewegung des Mannes. Ohne genau zu zielen, zieht Jerôme den Abzug mit zittrigen Händen mehrmals durch. Zwei Mal ertönt ein peitschender Knall, dann nur noch ein leises mechanisches Kli­cken. Kein Schuss löst sich mehr. Die Person ist verschwunden.

Hektisch versucht Jerôme die Waffe wieder gebrauchsfähig zu ma­chen und stellt entsetzt fest, dass keine Patronen mehr im Magazin sind. Angstvoll erstarrt blickt er auf den Mann, der wieder auf­ge­taucht ist und mit gezogener Pistole langsam auf ihn zukommt. Es ist hochgewachsen und allein in seinen Bewegungen zeigt sich Überlegenheit und Entschlossenheit. Jerôme ist wie versteinert, sein Magen krampft sich zusammen. Die Starre verdrängt für einen Moment die innere Erregung.

„Guten Abend, Dr. Jarcol“, sagt der Mann freundlich, fast zuvorkommend, „es ist eine gute alte Regel, dass man vor Gebrauch einer Waffe diese zuerst gründlich überprüfen sollte, vor allem das Maga­zin. So, und jetzt lassen Sie bitte Ihre Waffe fallen.“ Er lächelt dabei mit starrem Blick. Und der ist nicht freundlich. Jerôme gehorcht. Mit einem lauten Scheppern schlägt die Pistole auf den Boden.

„Bitte, seien Sie so nett und kommen langsam auf mich zu“, fordert ihn der Mann mit kalter Höflichkeit auf. Jerôme löst sich zögernd, geht mit roboterhafter Bewegung auf den Eindringling zu. Er bleibt auf eigenartige Weise ruhig, als hätte er seine Gefühle abgeschaltet.

„Stopp! Bleiben Sie stehen! Unterlassen Sie jede unbedachte Be­wegung!“, kommandiert der Fremde weiter. Jetzt spricht er knapp und befehlsgewohnt. Beide trennen etwa fünf Schritte. Jerôme nimmt alles, wie durch ein Brennglas, klar und genau wahr. Er weiß, dass er sich in akuter Lebensgefahr befindet, aber er erlebt sie nicht. In diesem Zustand ist es ihm möglich, auch Details zu regist­rieren: das schmale, braun gebrannte Gesicht. Helle Augen. Der graue Vollbart will nicht ins Bild passen. Er macht den Mann älter, als es seine glatte Gesichtshaut und die Bewegungen erwarten las­sen. Jerôme registriert auch die Details der militärischen Kleidung, Schulterhalfter, Gürteltasche und die schwarzen Handschuhe aus feinem Leder. Der Akzent des Fremden fällt ihm auf.

Er spricht zwar perfekt französisch, ist aber kein Franzose, das ist sicher“, geht es ihm durch den Kopf, „vielleicht ein Belgier, Schwei­zer oder Kanadier. Aber was nutzt mir diese Erkenntnis?“, denkt er resigniert. Seine Starre löst sich, und sofort ist die innere Vibration wieder da.

Ohne Jerôme aus den Augen zu lassen, die Pistole ständig auf ihn gerichtet, geht der Eindringling in einem Bogen um ihn herum. Jerô­me nimmt einen starken Schweißgeruch wahr. Jetzt befindet sich der Mann hinter ihm. Mit Schwung kickt er Jerômes Pistole in eine weit entfernte Ecke des Raumes und sagt dann gut gelaunt im Plauderton:

„Das mit Ihrer Pistole nehmen Sie sich nicht zu Herzen. Sie sind ja Wissenschaftler und im Umgang mit Waffen wohl nicht sehr geübt. Übrigens, ich will Sie nicht erschießen, das hätte ich sonst bereits getan. Ihre unerwartete Anwesenheit hilft mir, meinen Auftrag leich­ter zu erfüllen“, und wie beiläufig fährt er fort, „ich bedaure, Joseph liquidiert zu haben, aber er war im Begriff den Alarmknopf zu betäti­gen. Übrigens, auch Sie sollten das unbedingt unterlassen.“ Er sagt das sehr eindringlich und schaut Jerôme dabei herausfordernd an. Als der keine Antwort gibt, fährt er fort:

„Nehmen Sie Ihr Handy, gehen langsam in die Knie, legen es auf den Fußboden und schieben es zu mir herüber und bleiben so auf dem Boden sitzen.“ Jerôme befolgt den Befehl widerstands­los. Der Fremde prüft sogleich das Handy. Es ist eingeschaltet und zeigt an, dass es in „airtel“ - das hiesige Funknetz - eingeloggt ist. Er nickt zufrieden, schaltet das Gerät nicht aus und steckt es ein. Während dessen beschäftigt Jerôme eine in dieser Situation eher unbedeu­tende Frage: „Wieso kennt er Josephs und meinen Namen …?“ Mit einem scharfen Befehl wird sein Gedankengang unterbrochen.

„Kommen Sie, stehen Sie auf.“ Etwas umständlich richtet sich Jerô­me wieder auf. Ihm ist ein wenig schwindelig. Sofort folgt die nächs­te Anweisung.

„Gehen Sie voran!“, dann leise und nachdrücklich, „wenn ich bei Ih­nen auch nur das leiseste Anzeichen von Flucht, Widerstand oder Tricksereien bemerke, werde ich Sie erschießen. Ist das klar, Dr. Jarcol?“ Jetzt ist von Freundlichkeit nicht mehr viel zu spüren.

„Ja, ich verstehe, aber wobei soll ich Ihnen helfen, was wollen Sie?“, fragt er etwas ruhiger geworden. Er hat sich dabei ein wenig nach hinten gedreht, um den Mann anzuschauen. Sofort kommt es wie ein Peitschenknall vom Unbekannten:

„Lassen Sie das!“, herrscht ihn die Stimme an, „blicken Sie gefäl­ligst nach vorn.“ Schweigend erreichen sie die Tür am Ende des Flurs. Ohne Übergang erklärt der Eindringling:

„Zunächst gehen wir zusammen in das Hochsicherheitslabor. Sie öffnen den Safe, in dem Ihr neues Gift aufbewahrt wird. Das erspart mir Zeit und Mühe, den Schrank aufzubrechen. Sollten Sie sich wei­gern, werde ich Sie auf der Stelle erschießen, ich komme so oder so an das Zeug.“ Ein neuerlicher Schock trifft Jerôme, und er stammelt:

„Mein Gott, Monsieur, … mein Gott, … wissen Sie, wie gefährlich diese Substanz ist? Wir haben noch keine Erfahrung damit und kein Gegenmittel. Sie darf nicht in falsche Hände geraten.“

„Da bin ich anderer Meinung“, lacht sein Gegenüber trocken, „ich bin nämlich der Garant dafür, dass das Zeug in falsche Hände ge­rät.“

„Was soll damit geschehen?“, fragt Jerôme und weiß gleichzeitig, dass es unsinnig war, diese Frage gestellt zu haben. Umso er­staunter ist er, als der Fremde gelassen antwortet: „Ich weiß es nicht. Ich vermute aber, mein Auftraggeber benötigt das Zeug, um damit jemand zu erpressen.“

* * *

Sie durchqueren den Verwaltungstrakt. Jerôme geht weiterhin voran. Der Fremde folgt ihm mit gezogener Waffe in einem Ab­stand, bei dem ein plötzlicher körperlicher Angriff wenig Aussicht auf Erfolg hätte. An den präzisen Anweisungen, welcher Weg zu gehen ist, wird deutlich, dass der Eindringling sich sehr genau im Gebäude auskennt. Sein Wissen darüber und über die elektro­ni­sche Sicherheitseinrich­tung war das Ergebnis eines sorgfältigen Studiums einer Drei-D-Computer-Darstellung der Anlage. Das Pro­gramm hatte er aus dem Architektenbüro entwendet, das die Labo­ratoriumsanlage entworfen hatte und bauen ließ. Auch die Kennt­nisse der Verschlussanlage der Toreinfahrt stammen aus gestohle­nen Unterlagen der Installationsfirmen. Ein Einbruch in die­sen Fir­men wurde nie festgestellt.

Einzelheiten über die im Laboratorium tätigen Personen, die Ar­beitsinhalte, -abläufe und -zeiten hatte er gegen Bestechungsgeld und Alkohol einem frustrierten früheren Mitarbeiter des Laboratori­ums entlockt. Diesen fand man vor zwei Wochen tot in seinem Auto. Das offizielle Ergebnis der flüchtigen polizeilichen Untersu­chung lautete, dass der Mann in stark alkoholisiertem Zustand mit seinem Jeep von der Straße abgekommen und in den Fluss ge­stürzt war. Mittlerweile haben Jerôme und sein Bewacher den Um­kleideraum erreicht, der dem Labor und der Sicherheitsschleuse vorgelagert ist. Dort fordert ihn der Fremde ruhig, fast beiläufig, auf, sich umzudre­hen. Er schaut ihn eindringlich an und befiehlt lang­sam, Wort für Wort:

„Sie werden jetzt in die Schleuse gehen, den Safe öffnen und alle Proben des Thrombotoxins mitbringen. Haben Sie das verstan­den?“ Dann senkt sich die Stimme fast zu einem Flüstern:

„Ich warne Sie, mir Schwierigkeiten zu machen. Ich werde jede Ih­rer Bewegungen über die Kameras verfolgen. Wenn Sie am Leben bleiben wollen, dann halten Sie sich exakt an meine Anweisungen! Ist das klar?“

„Ja, aber warum sollte ich das tun? Sie werden mich sowieso um­bringen“ erwidert Jerôme gefasst, nahezu geschäftsmäßig. Seine Angst, sein inneres Zittern ist wie eingefroren.

Sein Kontrahent schaut ihn an, lächelt und antwortet ebenso kühl: „Ich weiß es nicht, aber vielleicht sollten Sie an die achtunddreißig­jährige Frau denken, die mit zwei Töchtern in Marseille im fünften Arrondissement, Rue George Nr. 11 wohnt. Ich glaube, die drei Da­men würden sich wünschen, dass Sie meine Bitten exakt erfüllen, weil sonst …“, er hält für einen Moment inne, um die Wirkung sei­ner Worte abzuwarten. Aus Jerômes Gesicht ist alle Farbe gewichen, er benötigt einen Augenblick, um das, was sein Gegenüber eben sagte, zu erfassen. In seinem Kopf dröhnt der Gedanke:

Er will Jacqueline und den Kindern etwas antun.“ Mit Mühe sam­melt er sich und sagt so entschlossen, wie es ihm möglich ist:

„Das werden Sie nicht! Sie werden meiner Familie nichts antun!“

„Das liegt ganz bei Ihnen“, antwortet der Eindringling mit unbeweg­tem Gesicht. Dann befiehlt er:

„Nehmen Sie alles aus den Taschen, und legen Sie die Dinge dort auf die Bank.“ Gehorsam entnimmt Jerôme seinen Taschen eine Brieftasche, ei­nen großen Schlüsselbund sowie einige zerknitterte Quittungen.

Der Fremde geht an Schalttafel am Eingang der Desinfektions­schleuse und mit einem Knopfdruck die Fernsehüberwachungs­an­lage. Er tut das mit einer Sicherheit, als hätte er hier schon Jahre gearbeitet. Licht erstrahlt im Labor und in der Sicherheitsschleuse. Jetzt kann man das fensterlose Labor auf einer Monitorwand über­blicken. Sechs Kameras erfassen jeden Winkel des Raumes. Eine weitere Kamera zeigt, was sich in der Desinfektionskammer ab­spielt.

Jerôme beginnt, die Schutzkleidung anzulegen, die einem Astro­nautenanzug ähnlich ist. In diesen Anzügen muss auch im Labora­torium gearbeitet werden.

Die Desinfektionskammer ist ein enger viereckiger Raum. Wände und Türen bestehen aus Edelstahl.

Die Stahlschiebetüren werden asynchron geöffnet und geschlos­sen: Betritt man die Schleuse vom Umkleideraum aus, ist die Tür zum Labor verschlossen, danach schließt sich die Tür zum Umklei­deraum automatisch. Es beginnt ein dreistufiger Desinfektionspro­zess: Die Person in der Kabine wird mit dem Aerosol eines Desinfektionsmittels besprüht, drei Minuten lang in einhundertundacht Grad Celsius überhitzten Wasserdampf gehüllt und anschließend vier Minuten mit UV-Licht bestrahlt. Verlässt sie das Labor, wird dieselbe Reihenfolge der Prozedur durchlaufen. Allerdings dauert sie jetzt vier Minuten län­ger. Das garantiert, dass alle extrem wider­standsfähigen Viren, Kei­me und Pilze abgetötet werden. Durch die besondere Isolierung des Schutzanzuges spürt die Person nichts von den hohen Temperatu­ren.

Es ist außerdem möglich, die Schleusentür vom Labor mithilfe einer elektrischen Verriegelung zu verschließen. Dann kann niemand von anderer Stelle, also vom Umkleideraum oder der Steuerzentrale, diese Verriegelung das Labor zurücknehmen. Das ist erst dann wieder möglich, wenn eventuell kontaminierte Luft im Labor über ein System von Hochleistungsfiltern und UV-Bestrahlung nach au­ßen abgesaugt und durch gereinigte Frischluft ersetzt ist. Der Vor­gang dauert zwei Stunden. Alle diese Sicherheitsmaßnahmen und Abläufe sind dem Eindringling offenbar bekannt.

„Ich möchte, dass Sie jetzt ins Labor gehen und das, was an Thrombotoxin vorhanden ist, mitbringen, und vergessen Sie nicht die Herstellungsprotokolle.“

Als Jerôme schweigt und sich weiter den Schutzanzug überzieht, setzt der Fremde noch einmal nach und fragt wieder mit leiser, dro­hender Stimme:

„Haben Sie mich verstanden, Dr. Jarcol?“

„Keine Sorge, Monsieur, Sie kann man wirklich nicht missverste­hen.“ Der Tonfall, in dem er das sagt, drückt seine ganze Verach­tung aus. Der Fremde quittiert das mit einem süffisanten Lächeln. Dann herrscht wieder Schweigen. Jerôme hat den Schutzanzug vollständig angelegt, den Helm aufge­setzt, das darin befindliche Mikrofon und den Lautsprecher einge­schaltet und im Anzug einen leichten Überdruck mit Pressluft herge­stellt. Er fühlt sich sicherer, als würde ihn diese hermetische Ab­ge­schlossenheit vor dem Mann schützen. Der Kontrahent greift in seine Gürteltasche und holt daraus den schwarzen Metallkasten mit dem Sender hervor, mit dem er zu­vor die Elektronik des Zufahrtstores lahmgelegt hat. Er hat die Grö­ße einer Zigarrenkiste mit einer kurzen Antenne und zwei kleinen Leuchtdioden. Auf einen Knopfdruck hin beginnen zwei kleine Kon­trolllampen im Wechsel zu blinken: weiß rot, weiß rot, weiß rot. Dann drückt er Jerôme den Kasten in die Hand und sagt: „Nehmen Sie das Ding hier, es ist eine sehr effektive Bombe, die übersteht problemlos die Temperatur und Feuchtigkeit in der Kam­mer.“ Er zeigt ihm sein Handy und erklärt, dass er mit einem Zahlencode die Sprengladung zünden kann. Jerôme starrt wie hypnotisiert auf die Lampen. Wieder durchläuft ihn ein Schauer.

Nein, ich muss klar im Kopf bleiben“, reagiert er auf die in ihm auf­kommende Panik und beschwört in Gedanken, „bleib’ ruhig, bleib’ bloß ruhig! Nur so hast du eine Chance!“ Der Eindring­ling spürt die Erregung und ist zufrieden, dass ihm offensichtlich seine Impro­visa­tion mit der Bombenattrappe gelungen ist.

„Hören Sie, Doktor, ich möchte, dass Sie den Kasten so tragen, dass ich ihn zu jeder Zeit sehen kann. Sollten Ihnen irgendwelche Tricks einfallen, geht das Ding hoch.“ Sein Tonfall hat jetzt an Schärfe zugenommen und seinen Akzent verstärkt.

Jerôme nickt ohne ihn anzusehen, öffnet die Tür zur Desinfektions­kammer und tritt ein. Als sich die Tür schließt und er sich jetzt außer Reichweite des Feindes befindet, schöpft er Mut und überlegt fiebe­rhaft, was er tun kann, um sich zu retten und das Vor­haben des Angreifers zunichte zu machen.

Können die Signale für die Zündung der Bombe überhaupt durch den Stahlmantel der Kabine dringen?“, fragt er sich, „ich befinde mich doch in einem Faraday’schen Käfig …“

Das Zischen der Absauganlage kündigt den Abschluss der ersten Desinfektionsstufe an. Die blecherne Stimme aus dem Lautsprecher im Kopfteil des Anzuges lässt Jerôme zusammenfahren. Sie befiehlt, den Arm zu heben, sodass die Bombe zu sehen ist. Er hat­te den Arm unabsichtlich sinken lassen. Sofort hebt er ihn wieder nach oben. An seine vorangegangenen Überlegungen kann er nicht wieder anknüpfen, zurückgefallen in den Zustand dumpfen Gehor­sams, zwingt er sich, die Bombe weiterhin hochzuhalten. Die Be­strahlung mit UV-Licht hat eingesetzt. Als auch dieser Vorgang be­endet ist, öffnet sich die zweite Tür, und Jerôme betritt das Labor. Langsam schließt sie sich hinter ihm.

* * *

„Sie wissen, was Sie jetzt zu tun haben und vor allem, denken Sie an Ihre Familie, Herr Doktor“, klingt es in seinem Helm. Beim Wort Familie spürt Jerôme einen heftigen Stich. Doch Vernunft blockiert sofort das innerliche Aufbegehren. Folgsam geht er zum Stahl­schrank, in der linken Hand den schwarzen Kasten. Mit der anderen tippt er den Code zum Öffnen des Safes ein. Er entnimmt dem Schrank einen der beiden Metallzylinder und trägt ihn zum Tisch. Es ist ein runder, wärmeisolierter Aluminiumbehälter mit einem Durchmesser von zwanzig Zentimetern und dreißig Zentimetern Höhe. Nachdem er ihn auf den Tisch gestellt hat, holt er den zwei­ten Zylinder. In seinem Helm ertönt die Mahnung:

„Vergessen Sie die Unterlagen über die Versuchsreihen nicht!“ Jerôme hält inne. Für einen Moment überlegt er, ob er CDs mitneh­men soll, die mit Thrombotoxin nichts zu tun haben. Jetzt ist es die Angst, die den kurzen Anflug an Widerstandswillen bricht. Er geht zum Safe zurück und entnimmt aus einem Ständer zwei CDs. Der nächste Befehl lautet, einen der Behälter zu öffnen. „Dazu muss ich aber beide Hände freihaben.“

„Gut, legen sie die Bombe gut sichtbar zwischen die Zylinder.“ Jerôme schraubt den Deckel vorsichtig ab und entfernt eine runde Abdeckung aus Schaumstoff. Es kommen die mit blauem Material versiegelten Verschlüsse von acht Glasröhren zum Vorschein. Sie stecken senkrecht kreisförmig angeordnet in einem schwarzen Schaumstoff­körper, der den Zylinder als Dämmung ausfüllt.

„Nehmen Sie eins der Dinger heraus!“ fordert der Mann ihn auf. Vorsichtig zieht er eines der Röhren heraus. Es sieht aus wie ein größeres Reagenzglas, darauf ein schmales, längliches Etikett mit einer Nummer, die die Produktionsfolge das Datum der Herstellung anzeigt sowie eine Reihe technisch-chemischer Angaben. Die Füll­menge beträgt zweihundert Milliliter. Am oberen Ende des Glases ist die Öffnung durch einen tief in die Ampulle reichenden Glasstopfen verschlossen: Glasrand und Stopfen sind mit einer blauen Ban­derole aus Kunststoff umwickelt und verschweißt. Sie fixiert den Stopfen und dient als zusätzliche Außensicherung.

Jerôme hält es dicht vor die Kamera. Vom Eindringling hört er ein zufriedenes „in Ordnung, tun Sie das Ding wieder zurück“. Dann folgt die Aufforderung, die Sachen durch die Schleuse zu brin­gen. „Hören Sie, wenn Sie die CD unbeschädigt haben wollen, dann muss ich sie in die Tasche des Schutzanzuges stecken, die Hitze und das UV-Licht würden sie nicht überstehen“, wendet Jerôme ein. „Ja, und?“, kommt es zurück. Es folgt eine Pause. Offensichtlich überlegt der Eindringling.

„Wie bringen Sie normalerweise solche Gegenstände aus dem La­bor? Die könnten doch von Viren oder solchem Zeug kontaminiert sein?“, kommt die misstrauische Frage.

„Wärmeempfindliche Gegenstände wie Datenträger bleiben im La­bor. Wir übermitteln unsere Daten elektronisch an den Zentralrech­ner des Konzerns. Wenn man dann an die Daten herankommen will, sind zwei Mitarbeiter notwendig, die nacheinander mit ihren persönlichen Codenummern den Zugang ermöglichen. Diese Zu­gangscodes besitzen nur wenige Mitarbeiter. Für die tägliche Arbeit im Labor wäre diese Prozedur zu umständlich, deshalb werden die laufenden Arbeitsergebnisse auf CDs zwischengespeichert und bleiben als Arbeits- und Sicherungsdateien bis zum Abschluss des Projektes im Labor.“ Offensichtlich war dem Mann im Umkleideraum diese Prozedur nicht bekannt. Jerômes Erklärung scheint ihn zunächst zu überzeu­gen, dann aber fragt er gereizt:

„Und was ist mit solchen Sachen wie diese Töpfe da?“

„Dafür haben wir speziell isolierte Transportkoffer.“

„Los, dann bewegen Sie sich gefälligst“, schnauzt ihn der Mann an, „und packen Sie die Dinger ein, aber ein bisschen plötzlich!“, er senkt die Stimme und fügt drohend hinzu, „machen Sie keinen Mist, denken Sie daran, wenn der Sprengsatz losgeht, dann ist es aus mit Ihnen, entweder durch die Explosion oder durch das Scheißgas. Die Splitter machen aus den Dingern Siebe. Vor allem, denken Sie an Ihre Familie, was auch der passieren kann.“

„Ja, ja, schon gut“, murmelt Jerôme, holt einen Isolierkoffer aus ei­nem Schrank, legt die beiden Zylinder hinein und verschließt ihn. Dann verstaut er die CDs in der Spezialtasche des Anzuges. Als er damit fertig ist, geht er zur Schleusentür und drückt den Knopf, der die Schleuse öffnet. Die Tür geht langsam auf. Ihm geht plötzlich der Satz durch den Kopf:

Denken Sie an Ihre Familie, und was a u c h der passieren kann.“ „Was auch der passieren kann“, dröhnt es in seinem Bewusstsein. Damit wird das, was er logisch hergeleitet hat, nun zur Wirklichkeit:

Er wird mich umbringen! Er bringt mich um, wenn ich ihm die Din­ge übergebe, das ist sicher!“

* * *

Jerôme hat bereits die Schleuse mit dem Koffer und der Bombe be­treten. Die bisher vereiste Angst ist mit einem Schlag aufgetaut. Er fühlt sich wie ein unschuldig Verurteilter unmittelbar vor der Hinrich­tung. Nur noch wenige Minuten, bis sich die Tür zum Umkleideraum öffnet. In ihm tobt jetzt Panik.

Er nimmt ein Klicken und Summen wahr. Es kündigt an, dass sich die Labortür hinter ihm zu schließen beginnt. Keine Vernunft ge­steuerte Entscheidung, sondern elementare Todesangst ist es, die ihn blitzartig den Koffer abstellen, die Bombe darauflegen, eine ab­rupte Drehung vollführen und mit einem Hechtsprung zurück ins Labor zurückkehren lässt. Er landet hart auf dem Boden und bleibt in Erwartung einer Detonation dort liegen. Nichts geschieht.

* * *

Langsam kommt Jerôme zur Besinnung. Er richtet sich auf und be­tätigt den Notknopf, der die geschlossene Tür sicher verriegelt und die Absauganlage zischend in Gang setzt.

„Das war ziemlich riskant, mein lieber Doktor, meine Anerkennung, aber Sie sind noch längst nicht in Sicherheit. Sie besitzen die CDs mit den Herstellungsprotokollen, die ich benötige. Ich habe zwar den Koffer, aber das reicht nicht! Ich werde also hier noch zwei Stunden warten muss, bis ich mir die CDs selbst holen kann. Fan­gen Sie schon mal an zu beten.“ Er macht eine kurze Pause und fährt dann fort:

„Ach, übrigens, Sie hatten gar keine Bombe in der Hand, es war nur ein harmloses Gerät, das ich für andere Zwecke benötigt hatte“, und fügt zynisch hinzu, „Sie nehmen mir das doch nicht übel?“

Jerôme hat sich zwischenzeitlich aufgerichtet, die Sprechanlage auf den Laborlautsprecher umgeschaltet und begonnen, den Schutzan­zug auszuziehen. Es ist ihm jetzt gleichgültig, ob in der Raumluft noch Schadstoffe sind. Er muss sich frei bewegen können.

Wieder ertönt die Stimme des Fremden:

„Passen Sie auf, dass Sie sich nicht vergiften, bevor ich Sie er­schieße“, gefolgt von einem höhnischen Gelächter. Jerôme antwortet nicht, sondern denkt fieberhaft über eine Lösung nach. Plötzlich kommt ihm ein befreiender Gedanke.

„Ich habe Sie doch hoffentlich nicht gekränkt, dass ich Sie mit der Bombenattrappe getäuscht habe, schmollen jetzt und wollen nicht mehr mit mir reden?“, tönt die Stimme mit gespielter Besorgnis wie­der aus dem Lautsprecher. Jerôme beachtet sie nicht, sondern geht zu einem der Labortische, öffnet eine Schublade und beginnt darin zu suchen - ohne Erfolg. Aber in der nächsten Schublade wird er fündig und entnimmt ihr einen Gegenstand. Er ist jetzt ganz ruhig, als er sagt:

„Ich bedauere, aber ich glaube, Sie können hier nicht warten, weil Sie in Kürze Besuch bekommen werden. Es sind Herren in hüb­schen Uniformen, die Sie in Obhut nehmen werden. In Gabun gibt es zwar keine Todesstrafe, aber die Gefängnisse sind für Europäer sehr wenig komfortabel. Man berichtet, dass die Todesstrafe gnädi­ger sein soll, als eine lange Haft.“ Und im selben Tonfall, wie sein Gegner zuvor, fährt er fort: „Sie nehmen mir das doch nicht übel, wenn ich die Herren jetzt tele­fonisch herbitte?“

Jerôme hat den Gegenstand - ein Mobiltelefon - seiner Tasche ent­nommen und drückt eine Tastenkombination. Der Mann im Um­klei­deraum hört schweigend zu, wie Jerôme über das Geschehen und die gegenwärtige Situation genau berichtet, eine exakte Perso­nen­beschreibung liefert und den Hinweis gibt, dass der Täter mit ei­nem Metallkoffer flüchten wird, in dem sich hochgefährliche Stoffe befin­den. Jerôme beendet das Gespräch. Es bleibt eine Weile still. Moussard ist unsicher und fragt sich,

„Ist es überhaupt möglich, aus dem hermetisch abgeschlossenen Labor zu telefonieren“, dann kommen ihm Zweifel, und er fragt sich, „aber warum befindet sich darin dann ein Handy?“ Er überlegt nicht mehr lange, das Risiko ist ihm zu groß, und er ent­scheidet sich für den Rückzug. Immerhin hat er das Material be­kommen. Dann spricht er ins Mikrofon:

„Ich gebe zu, diese Runde geht an Sie, aber achten Sie gut auf Ihre Familie, die wird keine lange Lebenserwartung mehr haben. Es sei denn, Sie überlassen mir die Unterlagen. Ich werde jetzt gehen, aber denken Sie daran, ich finde Sie und Ihre Leute überall.“ Je­rôme antwortet ganz ruhig mit sicherer Stimme:

„Sie sind ein professioneller Killer und werden wahrscheinlich der anrückenden Polizei entkommen. Aber ab sofort werde ich Sie ja­gen und zur Strecke bringen, ganz gleich, was passiert. Sie sind zu weit gegangen, Sie hätten sich nie mit mir anlegen und meine Fa­milie bedrohen dürfen. Wahrscheinlich beeindruckt Sie dieser Schwur eines blutarmen Wissenschaftlers, der nicht einmal mit ei­ner Waffe richtig umgehen kann, nur wenig. Das aber wäre Ihr nächster schwerer Fehler. Und übrigens, ohne die CDs haben Sie keine Chance, den Stoff herzustellen. Selbst mit den Protokollen benötigt ein außenstehender Fachmann eine sehr lange Zeit, um - wenn überhaupt - ans Ziel zu gelangen.“ Jerôme hält einen Moment lang inne und spricht dann weiter:

„Wenn Sie glauben, dass ich diesen komplizierten Herstellungsprozess wie ein Küchenrezept auswendig kann, dann wäre das ein weiterer schwerer Fehler. Hier geht es nicht um ein einfaches Backrezept, sondern um Prozesse, bei denen Temperatur, Menge, Dichte, viele Agenzien und Katalysatoren sehr genau abgestimmt werden müssen. Also, um dieses Zeug herstellen zu können, benö­tigen Sie beides: mich und die Herstellungsprotokolle. Ich werde dafür sor­gen, dass man diese Protokolle vernichtet, und ich werde Sie jagen und zur Strecke bringen, nicht umgekehrt. Machen Sie Ihrem Auftraggeber klar, er soll sein Vorhaben aufgeben. Er wird diese Substanz nicht produzieren können. Also dann Monsieur, wir sehen uns wieder, das verspreche ich.“

Über den Lautsprecher erschallt von der anderen Seite nur ein kur­z­es, trockenes Lachen. Dann ist außer der Absauganlage und dem Summen des Lautsprechers nichts mehr vom ungebetenen Gast zu hören. Er hat das Feld geräumt. Jerômes Anspannung macht sich erneut bemerkbar. Er vibriert plötzlich am ganzen Körper. Die Batte­rie des Handys im Labor war nämlich leer, sodass er weder die Po­lizei noch seine Familie anrufen konnte. Was wäre ge­schehen, hätte der Mann den Trick durchschaut? Ihn ergreift schlagartig eine lähmende Müdigkeit.

Er schleppt sich auf einen Stuhl bleibt dort regungslos sitzen und verfällt in einen Dämmerzustand.

* * *

Moussard verlässt den Gebäudekomplex mit einem Koffer in der Hand. Er bewegt sich schnell und gewandt, ständig Deckung su­chend. Mit wenigen weiten Schritten überquert er die mittlerweile getrocknete Straße und verschwindet dort, wo er zuvor aus dem Dickicht herausgetreten ist.

Wenige Minuten später ist ein Motorrad zu hören, das über den Sandweg in Richtung Hauptstraße knattert. Ein silberner Koffer ist auf den Gepäckträger geschnallt.

Auf der Hauptstraße achtet er sorgfältig auf Fahrzeuge, die ihm aus der Richtung Franceville entgegenkommen. Um diese Zeit herrscht nur schwacher Verkehr. Wenn er ein Fahrzeug sieht, löscht er das Licht des Motorrades. Mehrmals hält er an und verdrückt sich in den Busch seitlich der Straße.

Verwundert darüber, dass er keine Polizei gesehen hat, erreicht er seine Unterkunft - ein kleines, primitives, alleinstehendes Häuschen in der Vorstadt von Franceville. Das Motorrad hat er zuvor in einiger Entfernung von seiner Hütte an einem Baum abgestellt. Es wird sehr schnell einen neuen Besit-zer finden. Im Haus entkleidet er sich, stopft seine verschwitzten Sachen in ei­nen Müllsack. Auch seine technische Ausrüstung kommt dort hin­ein. Er geht dabei ruhig, systematisch und zügig vor. Nach der Dusche wählt er einen hellen Anzug, kleidet sich an und legt seinen Panamahut zurecht. Die übrigen Kleidungsstücke durch­sucht er sorgfältig und lässt sie im Schrank zurück.

Beide Metallzylinder, die Glock und nicht benötigte Pässe verstaut er in einen Diplomatenkoffer. Er ist mit einem Siegel und der Auf­schrift „Valise diplomatique“ - Diplomatengepäck - versehen.

Ein Taxi bringt ihn zum Mvengue Airport Franceville. Unterwegs lässt er den Wagen hinter einer Brücke anhalten. Er entledigt sich des Müllsacks, indem er ein Stück zurückläuft und ihn in den Fluss fast ausgetrockneten Fluss wirft. Ihm ist es gleichgültig, ob der Taxi­fahrer ihn dabei beobachten kann. Diese Art der Müllentsorgung ist hier üblich.

Am Flughafen angekommen, vermeidet er beim Durchqueren der Halle, so gut wie möglich, ins Blickfeld der Überwachungskameras zu geraten. Ehe er zum Check-In geht, besucht er die Toilette. Vor dem halb blinden Spiegel überprüft er sorgfältig sein Äußeres. Der graue Vollbart und die dunkel getönte Hornbrille lassen ihn älter und wie einen Wissenschaftler erscheinen. Beim Einchecken zeigt er seinen belgischen Diplomatenpass und die Papiere, die den Koffer als Diplomatengepäck ausweisen. Als Diplomat darf er nicht ver­haftet und sein Gepäck nicht kontrolliert werden.

Die erste Etappe des Fluges ist die Hauptstadt Libreville. Kurze Zeit später geht ein Anschlussflug nach Paris. Von dort folgt der Weiter­flug nach Brüssel, wo er am frühen Sonntagmorgen ankommen wird.

Im Warteraum des Abflugbereichs widmet sich Moussard jetzt Jar­cols Handy. Er möchte das Gerät so schnell wie möglich loswerden. Gerade als er beginnen will, die Daten im Speicher zu untersuchen, meldet das Handy den Eingang einer SMS. Er liest die Nachricht. Nach einem Blick auf seine Uhr, muss er still in sich hinein grinsen und denkt:

Doktor, du bist ein ganz schön ausgekochter Bursche, ich sollte dich besser nicht unterschätzen. Aber hiermit kannst du mich nicht noch einmal hinters Licht führen.“ Er schaltet das Gerät aus und versteht jetzt, warum ihm keine Polizei auf dem Weg nach France­ville begegnete und warum hier am Flughafen auch keine Unifor­mierten in größerer Zahl aufgetaucht sind.

Du hast im Labor nie mit der Polizei gesprochen, sonst wäre diese SMS nicht erst nach Ablauf der Luftreinigung gekommen. Jetzt aber, wo du wieder frei bist, muss ich mich tatsächlich in Acht neh­men. Ich habe die Papiere aus deiner Brieftasche. Da werde ich schon genügend Hinweise finden, mit denen ich deine Spur und die deiner Familie aufnehmen kann.“ Aus dem Lautsprecher ertönt der Aufruf, an Bord zu gehen. Mous­sard wickelt das Handy in eine Zeitung, die auf dem Sitzplatz neben ihm zurückgelassen wurde, und wirft das Päckchen in einen Müll­behälter. Dann reiht er sich in die Schlange der Fluggäste ein.

Während des Fluges geht Moussard noch einmal minutiös die Er­eignisse im Laboratorium in Gedanken durch. Etwas beunruhigt ihn: Er hatte nicht die ganze Zeit über Handschuhe getragen. Erst als er auf Jarcol wartete, hatte er sie übergestreift. Sie erschienen ihm bei einem bloßen Einbruch in ein Gebäude, in dem viele Menschen ar­beiten, nicht notwendig zu sein. In dem Moment, wo er sich selbst diese Erklärung gibt, weiß er, dass es sich um eine Scheinbegründung für sein unprofessionelles Vorgehen handelt. Tatsächlich waren dafür die hohen Temperatu­ren in der Nacht maßgeblich und die Annahme, dass es eine Routi­neaktion, ohne größere Komplikationen, sein würde.

Du wirst leichtsinnig und gehst aus Bequemlichkeit erhebliche Risi­ken ein. Wenn du das nicht in den Griff bekommst, dann solltest du besser den Job aufgeben“, schalt er sich. Er glaubt zwar, dass er vor seinem Rückzug alles abgewischt hat, was er angefasst hatte. In der Eile könnte aber die eine oder an­dere Stelle übersehen worden sein. Er beruhigt sich mit dem Gedanken, dass die einheimische Polizei kaum gründlich nach Fingerspuren suchen wird. Früh am Sonntagmorgen landet Moussard in der belgischen Haupt­stadt. Auf seiner Mailbox hat er von seinem Auftraggeber eine knappe, befehlsähnliche Nachricht erhalten, sich bei ihm am Mittwoch um 14:00 Uhr mit dem Material einzufinden.

* * *

Nach zwei Stunden ist Jerôme aus seinem Laborgefängnis befreit. Kurz vor Ende der Reinigungsprozedur erwacht er aus seiner Le­thargie.

Sofort wird ihm die Bedrohung seiner Familie bewusst, und es pa­cken ihn Angst und Panik. Er muss Jacqueline so schnell wie mög­lich erreichen.

Endlich ist es soweit, der Luftaustausch ist abgeschlossen. Er hat den Schutzanzug wieder angelegt, um unversehrt durch die Schleu­se zu gelangen.

Als sich die Kabinentür schließlich zum Umkleideraum öffnet, streift er hastig den Schutzanzug ab und läuft zunächst zur Toilette. Hier löst sich körperlich die gesamte Anspannung der Stunden zuvor, und es scheint, dass er mithilfe der Toilettenspülung sich nicht nur seiner Notdurft, sondern auch seiner Angst entledigt hat. Wieder zurück stellt er fest, dass alle seine Sachen, die Brieftasche und die Schlüssel, sogar die Quittungen, verschwunden sind. Das Handy hatte der Killer ihm ja bereits in der Eingangshalle abgenommen. Damit besitzt der Mann fast alle Informationen über ihn und seine Familie sowie die Schlüssel zur Wohnung in Marseille.

Er hastet zur Steuerzentrale im Eingangsbereich. Dabei kommt er an der Personalküche vorbei, in der die Leiche von Joseph liegt. Die Tür ist offen, aber er schaut nicht hinein. Auf dem hellen Stein­fußboden hat das Blut Flecken und Streifen hinterlassen. Sie sind nun fast schwarz. Es gelingt ihm, das Bild zu ignorieren, denn es gilt jetzt so schnell, wie möglich, seine Frau in Marseille anzurufen. In der Schaltzentrale gelingt es ihm aber nicht, die vom Eindringling unterbrochenen Telefonverbindungen wiederherzustellen.

So geht er voller Widerwillen in die Küche, um das private Handy des toten Joseph zu finden. Ein starkes Würgegefühl überkommt ihn, allein bei der Vorstellung, in den Taschen des Toten zu greifen. Aber er bringt es unter Kontrolle. Ohne langes Suchen findet er das Handy in dessen Brusttasche. Glücklicherweise ist es eingeschaltet.

„Was ist passiert, mein Schatz?“, fragt seine Frau mit verschlafener Stimme. Er berichtet die wichtigsten Ereignisse in Kurzform. Zu­nächst kann sie seinem Bericht nicht ganz folgen, erst langsam be­greift sie die Bedeutung seiner Worte. Jerôme beschwört sie instän­dig:

„Bitte fahre mit den Kindern so schnell wie möglich zu dem Ehepaar mit dem Baby, die wir mal im Urlaub kennengelernt haben. Du weißt doch, wo die beiden wohnen. Sie ist Lehrerin und er Vorstand einer großen Firma, ihr Hund heißt Benni. „Aber ich kann doch nicht so ohne Weiteres bei denen einfallen ...“, protestiert Jacqueline.

„Mach dir keine Sorgen, ich werde sie auf euch vorbereiten, das geht in Ordnung“, unterbricht er beschwichtigend und fährt fort, „der Killer hat meine Brieftasche, die Schlüssel zu unserer Wohnung und mein Handy an sich gebracht. Er kann Namen und Adressen unse­rer Verwandten, Freunde und Bekannten finden. Da ich nicht genau weiß, wer alles im Handy erfasst ist - ich meine, es sind in der Mehrzahl geschäftliche Kontakte - bitte ich dich, lass’ alles verschwinden, was auf Wohnorte und Arbeitsstätten unserer Leute hinweist. Ich werde sie warnen. Denke auch an Geschäfte, in denen du öfter eingekauft hast, also Quittungen und Rechnungen, an Fo­tos, Urlaubskarten, Videos und Anrufbeantworter oder sonstige Hin­weise. Du musst das ganz gründlich tun“, beschwört er sie und fügt hinzu, „hol’ bitte alles Geld von meinem Konto und lass‘ die Scheckkarten sperren.“

„Mein Gott, das ist ja fürchterlich, aber …“. Erneut schneidet er ihr das Wort ab und entgegnet energischer:

„Kein ‚aber’ mein Schatz, glaub’ mir, es ist dringend. Wir haben es mit einem Profikiller zu tun, der dich und die Kinder als Faustpfand benötigt, um Informationen aus mir herauszupressen“, er senkt die Stimme und fährt fort, „und noch etwas. Wenn ihr die Wohnung ver­lasst, dann klemm’ unbedingt ein kleines Stück Streichholz so zwi­schen Tür und Rahmen, dass es von außen nicht zu sehen ist. Das ist sehr wichtig. Wenn ich übermorgen in die Wohnung gehe und das Stück Holz ist noch an seinem Platz, dann weiß ich, dass der Kerl nicht schon vor mir in der Wohnung war oder dort auf mich wartet. Wahrscheinlich wird in den nächsten beiden Tagen noch nichts geschehen. Er kann erst morgen früh in Marseille an­kom­men, dann hat er wegen seiner Fracht sicherlich erst einmal ande­res zu tun. Aber bitte versprich mir, dass du alles befolgst und so schnell wie möglich die Zelte in Marseille abbrichst. Kann ich mich darauf verlassen?“

„Natürlich, Liebling, das kannst Du. Aber ist das wirklich alles not­wendig?“

„Ja, glaube mir, ihr seid in allergrößter Gefahr.“

„Aber …, aber, wäre es dann nicht besser, die Polizei einzuschal­ten?“

„Das nutzt nichts, ich sagte es schon, er ist ein Profikiller!“ „Wie soll es aber weitergehen, wir können doch nicht unser Leben lang vor diesem Scheusal weglaufen. Und was ist mit dir?“

„Nein, so wird das nicht sein. Ich werde dem Spuk ein Ende berei­ten.“

„Du gegen einen skrupellosen Profikiller? Das darfst du nicht, was soll aus uns werden, wenn dir etwas passiert?“

„Was soll aus mir werden, wenn euch etwas zustößt?

„Lass‘ nur Schatz, ich habe einen großen Vorteil. Er unterschätzt mich, kann sich nicht vorstellen, dass er als Jäger ein Gejagter werden könnte. Wir werden erst Ruhe haben, wenn ich ihn zur Strecke gebracht habe.“

„Und wenn du ihm die Unterlagen gibst, die er verlangt?“

„Darum geht es nicht allein. Ich habe ihn gesehen und das, was er getan hat. Solche Zeugenschaft kann er sich nicht leisten.“ Am anderen Ende der Leitung kommt nur ein lauter Seufzer und dann sehr traurig:

„Ja, wenn du meinst! Wir werden so schnell wie möglich verschwin­den. Pass‘ auf dich auf, ich habe solche Angst. Riskier‘ bloß nicht zu viel, du bist nicht so erfahren wie er. Wann sehe ich dich wieder?“

„Ich weiß noch nicht. Ich besorg’ mir ein neues Handy und ruf‘ dich an, dann siehst du meine Nummer. Wechsle dann deine SIM-Karte und ruf‘ mich zurück. Ich liebe und umarme Dich.“

„Ich liebe dich auch, sei vorsichtig …“, ihre letzten Worte ertrinken in Tränen. Er wartet noch einen Moment, dann beendet er das Ge­spräch. Jerôme wäre es nicht lieb, wenn die Polizei den Mann zu fassen bekäme. Er will das selbst erledigen. Deshalb hat er es nicht so eilig und will zunächst seine Firma informieren. Noch während er die Nummer seines Chefs, Malin, in Marseille wählt, fällt Jerôme etwas siedend heiß ein: „Die Protokoll-CDs, wo sind die CDs? Die müssen noch im Schutz­anzug stecken, oder habe ich sie zurück in den Schrank gelegt?“, fragt er sich. Ein Moment lang unsicher, ist ihm dann aber klar:

Nee, die Dinger müssen sich noch in der Schutztasche befinden. Ich habe sich nicht zurückgelegt.“

Eilig macht er sich auf den Weg zurück zum Umkleideraum des La­bors. Er findet die beiden CDs im Schutzanzug.

Soll ich sie wieder an ihren Platz ins Labor bringen?“ Die Vorstel­lung, die gesamte Desinfektionsprozedur jetzt noch einmal durch­laufen zu müssen, schreckt ihn ab und er beschließt, die CDs mit nach Marseille zu nehmen.

Als nächstes ruft er Malin an. Der scheint noch wach zu sein. Je­rôme teilt ihm kurz gefasst mit, was geschehen ist. Malin ist ent­setzt. Er werde so­fort Maurice Trouvaille informieren und ihn in Kürze zurückrufen. Jerôme weist ihn darauf hin, die Nummer, die er auf seinem Display sieht, beim Rückruf zu wählen.

Sein nächster Anruf gilt der Polizei in Franceville. Jerôme schildert auch hier die Geschehnisse und gibt die Beschreibung des Mannes weiter. Man verspricht, sofort nach dem Mann mit dem Koffer zu suchen und ins Forschungslabor zu kommen. Er soll dort unbedingt auf sie warten.

Nach einer halben Stunde erreicht ihn der Rückruf aus Marseille. Es ist nicht Malin, sondern der Konzernchef Maurice Trouvaille.

„Mein lieber Jerôme, das ist ja eine fürchterliche Geschichte! Haupt­sache ist aber, dass Ihnen nichts geschehen ist. Wir müssen unbe­dingt verhindern, dass das Zeug in falsche Hände gerät, das heißt, wir müssen den Kerl zu fassen bekommen.“

„Ganz Ihrer Meinung, Monsieur Trouvaille. Ich bin sicher, wir wer­ den ihn kriegen. Hoffentlich ist es dann, was das Thrombotoxin an­betrifft, nicht zu spät“, antwortet Jerôme entschlossen.

„Ja, das hoffe ich auch“, antwortet Trouvaille, „Sie sollen wissen, dass ich sofort ein Team von Kriminaltechnikern und Spezialisten nach Franceville auf den Weg bringe. Die Kriminaltechniker werden mir der Polizeipräsident von Marseille ausleihen und einige geeignete Leute von uns werden auch dabei sein. Sie sollen das Labor gründ­lich nach Spuren dieses Mannes absuchen. Sie wissen schon, DNA und Fingerspuren und so etwas. Ich setze kein großes Vertrauen in die Fähigkeiten der dortigen Polizei. Deshalb habe ich eben den Innenminister Gabuns aus dem Bett geholt und ihn dringend gebe­ten, dafür Sorge zu tragen, dass, nachdem die Leiche des bedau­ernswerten Wachmannes herausgebracht worden ist, der gesamte Gebäudekomplex bewacht wird. Niemand darf es bis zur Ankunft der Truppe betreten. Etwaige Spuren des Täters müssen unbedingt erhalten bleiben. Der Mann hat mir zugesichert, meinen Wunsch umgehend zu erfüllen.“ Nach einer kurzen Pause sagt er dann:

„Ich weiß Jerôme, dass Sie nach diesem Vorfall Ruhe und Abstand benötigen und sich vor allem um Ihre Familie kümmern wollen, den­noch bitte ich Sie, so schnell wie möglich in die Zentrale zu kom­men. Für Mittwochmittag werde ich mittags eine Vorstandssit­zung einberufen. Wir müssen dringend geeignete Sicherungsmaßnah­men treffen. Dazu benötige ich von Ihnen einen ausführlichen Be­richt über die Geschehnisse. Vielleicht liegen bis dahin sogar schon Erkenntnisse unseres Teams vor. Schaffen Sie das Jerôme?“

„Natürlich, ich habe mich schon wieder einigermaßen gefangen und bin beruhigt, dass sich die Familie unverzüglich an einen sicheren Ort begeben wird.“

„Hervorragend, bitte nutzen Sie die Zeit bis Mittwoch, um sich aus­zuruhen“, kommt es vonseiten Trouvailles, und er beendet das Ge­spräch mit den Worten:

„So, mein lieber Jerôme, das sind die ersten Maßnahmen. Über weitere werden wir in Marseille sprechen. Ich möchte übrigens, dass ab sofort jeder Kontakt von Ihnen zur Firma ausschließlich über mich geführt wird. Sie werden alle notwendigen Kontaktdaten von mir erhalten. Ich freue mich, Sie bald zu sehen. Bis dahin wün­sche ich Ihnen alles Gute und eine ruhige Nacht.“

„Das wünsche ich Ihnen auch, alors, à bientôt!“, antwortet Jerôme und ist erfreut über die schnelle Reaktion seines obersten Chefs. Er überlegt einen Moment, wählt die Rufnummer seines eigenen Han­dys und sendet eine SMS mit folgendem Wortlaut:

„Wie ich vermute, sind Sie der Polizei entkommen. Sie sollten je­doch wissen, dass ich das Handy bereits orten lasse. Wenn Sie es nicht abgeschaltet haben, steht bald ein polizeiliches Empfangskomitee für Sie bereit. Wenn das nicht geschieht, werden wir uns mit Sicherheit wieder begegnen. Das wird ein Wiedersehen sein, das für Sie ein ungutes Ende nehmen wird.“

Jerôme weiß, dass dies nur ein schwacher Versuch ist, den Killer daran zu hindern, die Adressen von Freunden und Verwandten aus dem Speicher des Telefonapparates zu entnehmen. Wenn der aber die Finte ernst nimmt, muss er das Handy ausschalten. Ohne Zu­gangscode besteht erst einmal kein Zugriff auf den Speicherinhalt. Allerdings können die Daten aus der SIM-Karte ausgelesen werden. Das aber erfordert einen größeren Aufwand, den der Killer auf der Flucht nicht leisten kann und er, Jerôme, gewinnt Zeit, seine Frau und Kinder zu schützen.

* * *

Jetzt steht er vor dem Gebäude und wartet auf das Eintreffen der Polizei. Es dauert nicht lange, bis eine Wagenkolonne mit Blaulicht und Sirene den Sandweg zum Gebäudekomplex heranschaukelt. Sie besteht aus Mannschafts- und Polizeiwagen sowie Rettungs­fahrzeugen und mehreren.

Polizisten steigen aus und verteilen sich entlang des Zaunes. Ein Gruppe Männer in Zivil betritt das Gelände und kommt auf ihn zu. Zwei in weißen Schutzanzügen und Schuhüberziehern führen eine Trage mit sich.

Der ranghöchste Offizier begrüßt Jerôme und fragt, wo man den Toten finden kann. Jerôme zeigt den Männern den Weg. Der Offi­zier schärft den beiden Trägern ein, bei der Bergung des Toten kei­ne Spuren zu zerstören und möglichst keine eigenen zu hinterlas­sen. Ein Polizeioffizier bringt ihn zum Hauptquartier in die Stadt. Es folgt eine langatmige Vernehmung. Jerôme ist klar, dass sie zu nichts führen wird. Der Killer dürfte längst außer Landes sein. Er hat auch den Eindruck, dass man hier eine Pflichtübung durchführt, wahrscheinlich auch mit Unbehagen, weil der Innenminister sich mit strikten Anweisungen in die Polizeiarbeit eingemischt und landes­fremde Spezialisten für die Aufklärung zugelassen hat. Wenn man wirklich wollte, dass der Gesuchte festgenommen werden soll, müsste man so schnell wie möglich das Flughafenpersonal befra­gen und die Überwachungsbänder von ihm, dem Einzigen, der den Killer gesehen hat, sichten lassen.

Jerôme weist darauf hin, wohl wissend, dass sein Hinweis nicht be­achtet wird. Der Polizeioffizier strahlt und sagt enthusiastisch, dass das ein sehr wichtiger Fahndungsvorschlag sei. Er hebt dabei die Hand und bewegt den Zeigefinger mehrmals hin und her, um die Bedeutung des Vorschlages zu betonen. Dann aber fährt er gespielt bedauernd fort, dass man zunächst ein genaues Protokoll anferti­gen müsse.

Jerôme hat gelernt, dass es in diesem Land nahezu unmöglich ist, Vertreter der öffentlichen Verwaltung mit Argu­menten umzu­stim­men. Mit einem mehr oder minder großen Bündel Geld geht das jedoch sehr leicht.

Bei der geforderten Beschreibung des Eindringlings bleibt Jerôme bewusst vage und behauptet, dass er das teilweise vermummte Ge­sicht nicht hätte genau erkennen können, und bei vielen anderen Details unsicher sei, da er unter Schock gestanden habe.

Mit diesen Ungenauigkeiten möchte er verhindern, dass die Polizei den Killer festnimmt, bevor er ihn gefunden hat.

Giftgas

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