Читать книгу Giftgas - Rainer Müller-Hahn - Страница 17
Brüssel, Donnerstag, 19. Mai
ОглавлениеMoussard ist erst am Vormittag in seiner Brüsseler Wohnung aufgewacht. Bei seiner Ankunft am gestrigen Mittwochabend fühlte er sich sehr erschöpft und ist todmüde ins Bett gefallen. Die Anstrengungen und der Ärger in der letzten Zeit haben sich deutlich bemerkbar gemacht. Nach dem Aufstehen findet er eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter vor, in der ihm ein neuer „Beratungsauftrag“ angeboten wird. Eigentlich hatte es sich vorgenommen, ein paar Tage zu Hause zubleiben, ehe er nach Marseille geht, um Jarcols Wohnung unter die Lupe nehmen. Später wird er sich über den neuen Auftrag informieren, um zu entscheiden, ob er seine Pläne ändern muss. Seine Idee, aufzuhören kommt ihm dabei wieder in den Sinn. Das ist wohl der Grund, weniger neugierig zu sein, als sonst bei solchen Anrufen.
Bei diesem Wetter hat er keine Lust, außerhalb zu frühstücken. In Brüssel ist es kühl und regnerisch, wahrlich kein Frühsommer wie in Berlin. Mit einigen Resten aus dem Kühlschrank wird schnell etwas Eßbares zubereitet und bei diesem kargen Frühstück beginnt er, die nächsten Schritte zu planen. Zwei Probleme gilt es zu lösen:
Er muss an die Herstellungsprotokolle gelangen und Jarcol ausfindig machen und festsetzen. Um an die Protokolle zu kommen, sieht er nur eine einzige realistische Möglichkeit. Er nimmt den Zettel von Schmidt in die Hand und betrachtet ihn aufmerksam. Er wird diesen d’Aquitaine zwingen, die Daten oder die Disketten für ihn zu stehlen. Über ihn weiß er nicht viel, kennt nur dessen Namen und Telefonnummer, die ihm das kleine aufgeregte Männchen gegeben hat. Er informiert sich nun im Internet über d’Aquitaine und erfährt, dass dieser eine hohe Position im Konzern bekleidet. Das erklärt, warum es jemand in dieser Position möglich war, strengvertrauliche und präzise Kenntnissen aktueller Forschungsergebnisse zu kennen und weiterzugeben. Sicherlich muss dieser Mann unter starkem finanziellen Druck gestanden haben, ein so wichtiges Firmengeheimnis zu verraten.
Dass er an die Daten kommt, die jetzt erheblich gesichert sein werden, ist - wenn überhaupt - nur dann möglich, solange der Mann nicht enttarnt ist. Moussard geht davon aus, dass die Firma mit Nachdruck versucht, das Informationsleck zu finden. Für den Fall, dass d’Aquitaine ausfällt, bleibt nur noch die Gefangennahme Jarcols als Ausgleichslösung.
Er hatte kurz er erwogen, mithilfe eines Computerspezialisten, eines „Hackers“, in den Zentralcomputer des Konzerns einzudringen, aber diese Idee sogleich aus mehrerlei Gründen verworfen: Zeitaufwand, einen solchen Spezialisten zu finden, erhebliche Kosten, Abhängigkeit und Mitwisserschaft. Beschafft ihm dieser d’Aquitaine aber die Unterlagen, ist sein Auftrag erledigt. Es ist nicht sein Problem, wer die Auswertung der Protokolle durchführt und wer den Stoff letztlich herstellt. Jarcol zu ergreifen, ist für ihn ebenso wichtig, wie für Schmidt. Hier treffen sich Schmidts und seine eigenen Interessen. Für ihn ist er ein gefährlicher Zeuge des Mordes an dem Wachmann. Er muss ihn beseitigen - leichter gesagt als getan. Zuerst muss er ihn oder seine Familie ausfindig machen. Umbringen kann er ihn aber nicht sofort, weil Schmidt ihn benötigt. Wenn das Gift tatsächlich nur über sehr viele komplizierte Arbeitsschritte entwickelt werden kann, dann hätte ein anderer Fachmann, auch mithilfe der Protokolle, große Mühe, es zu reproduzieren. Das würde bei ungewissem Erfolg, ziemlich viel Zeit in Anspruch nehmen, Zeit die Schmidt wohl nicht hat. Jarcol ist also für eine zügige Herstellung des Stoffs nicht zu ersetzen. Aber selbst, wenn er ihn in seine Gewalt bekäme, ist das Problem nicht gelöst. Ein gefangener Jarcol wird nicht bereit sein, zu kooperieren. Folter würde hier nicht viel nutzen. Durch physische und psychische Torturen wäre Jarcol nicht in der Lage, schwierige Produktionsarbeiten durchzuführen. Moussard hat sich dazu ein anderes Vorgehen überlegt. Er hält es für viel wirkungsvoller, wenn man die Familie findet, sie als Geiseln nimmt und mit dem Tod bedroht. Damit kann man Jarcol sowohl aus seinem Versteck locken, als auch zur Mitarbeit zwingen. Gelingt es aber, Jarcol zuerst zu ergreifen, dann ist es nicht mehr nötig, nach seinen Angehörigen zu fahnden. Es genügt die Drohung, das Versteck der Familie mit großem Aufwand herauszufinden und ihnen etwas anzutun, wenn er nicht kooperiert. Ist er bereit mitzuarbeiten, würde man Frau und Kinder in Ruhe lassen. Moussard ist von dieser Strategie überzeugt.
„Es bleibt dabei, ich muss Jarcol oder die Familie in die Finger bekommen. Es macht nichts aus, Jarcol erst nach Abschluss seiner Arbeiten zu erledigen. Solange er bei Schmidt im Gewahrsam ist, kann er mir als Zeuge nicht gefährlich werden. Zunächst muss ich in seiner Wohnung nach Spuren seines Aufenthalts und denen der Familie suchen. Das alles ist ziemlich kompliziert und aufwändig.“ Er trifft eine Entscheidung und murmelt halblaut:
Ich werde die Sache also durchziehen, wenn Schmidt dabei mitspielt", er betrachtet den Zettel erneut und legt fest, „heute Abend werde ich diesen d’Aquitaine anrufen und ihm die Hölle heiß machen. Jetzt aber will erst einmal sehen, worum es sich bei dem neuen Auftrag handelt. Wenn er lohnend ist und nicht mehr als ein paar Tage dauert, werde ich ihm noch dazwischenschieben. Danach beginnt die Jagd nach Jarcol in Marseille, wenn das erledigt ist mache ich Schluss.“
Er ruft den Vermittler an und vereinbart, dass die Instruktionen und Informationen sofort in einem toten Briefkasten hinterlegt werden. Als er am Nachmittag mit den Unterlagen zurückkehrt, hat er einen einfachen, aber einträglichen Job übernommen. Die Sache eilt. Es handelt sich um ein Attentat in Amsterdam, das an diesem Sonnabend unbedingt ausgeführt werden muss. Es bleibt ihm nur ein Tag, um die Aktion vor Ort vorzubereiten. Wenn er zusagt, wird er einen Schlüssel für ein Schließfach am Hauptbahnhof erhalten. Nach erfolgreicher Erledigung des Auftrages folgt die gleiche Prozedur für den Restbetrag.
Er ruft in der Agentur an und erklärt seine Bereitschaft, den Auftrag anzunehmen. Am Nachmittag überbringt ihm ein Bote einen Umschlag mit einem Schlüssel für ein Schließfach am Hauptbahnhof. Gleich darauf macht er sich auf den Weg, die erste Rate abzuholen. Im Schließfach findet er die Hälfte des vereinbarten Geldes und mehrere Bilder der Zielperson sowie genaue Angaben über ihre Gewohnheiten und Bewachung, wo und wann er sie antreffen wird.
Moussard ist zufrieden und beginnt, die Fahrt nach Amsterdam vorzubereiten und sein Äußeres zu verändern. Dies nimmt einige Zeit in Anspruch. Nach der Verwandlung ergreift er das Handy und wählt die Telefonnummer von d’Aquitaine. Den Rest des Abends verbringt er entspannt mit Fernsehen.