Читать книгу Anaïs Tagebuch - Ralf During - Страница 15
23. März 1970
ОглавлениеMarcelle war jetzt 5 Jahre alt. So alt wie ich damals, als wir mit meinen Eltern hierher aufs Dorf zogen. Sie war ein hübsches Mädchen, sehr zierlich und hatte rote Haare, weshalb viele, die uns nicht kannten, Sarah für ihre große Schwester hielten. So wie früher Clara mit mir, spielte ich oft Schule mit Marcelle. Sie lernte schnell und verbesserte immer öfter Mr. Bee, der erstaunlich wenig wusste und die meiste Zeit schwieg. Zusammen mit ihrem Hasen Chap, Emma und Clemént bildeten wir eine Klasse und übten, was ich am Vormittag in der Schule gelernt hatte.
Zu ihrem 5. Geburtstag bekam Marcelle Reitstunden auf dem Hof unserer Klassenlehrerin geschenkt. Ich begleitete sie zur Koppel und nahm Hugo 2 mit, der wenig Respekt vor den Pferden zeigte und sie tapfer anbellte. Marcelle war schrecklich aufgeregt, endlich auf einem dieser großen Tiere zu sitzen, doch zuerst musste sie lernen, diese zu füttern, zu striegeln und den Stall auszumisten. Nachdem das alles getan war, hob Monsieur Dutroux sie auf eines der kleineren Pferde, das an einer Leine im Kreis lief, während Marcelle staunend von oben zu mir herunter sah.
Ich musste lachen, dieses kleine Mädchen, deren Füße noch nicht einmal bis zu den Steigbügeln reichten, wie eine Königin auf diesem Pferd thronen zu sehen. Doch Marcelle war begeistert, so sehr, dass es am Ende der Stunde Tränen gab, weil sie nicht absteigen wollte. Monsieur Dutroux versprach, dass sie jederzeit wieder kommen könne und er ihr Pferd bis dahin versorgen würde. Natürlich war das nicht Marcelles Pferd, aber sie nickte tapfer und ließ sich endlich vom Rücken des Tieres herunter heben.
Zuhause gab es dann kein anderes Thema mehr. Stundenlang erzählte sie von der Koppel, den Pferden, dem Stall und all den anderen Mädchen, die wir dort getroffen hatten. Auch wollte sie uns zeigen, wie sie ganz allein geritten war und gab nicht eher Ruhe, bis mein Vater sie Huckepack auf allen vieren durch die Küche trug. Ab da lag sie unseren Eltern in den Ohren, um nochmal reiten zu dürfen und kurze Zeit später waren Marcelle und ich wieder unterwegs zu Monsieur Dutroux.
Marcelle bekam ein Fuchs-Pony zugeteilt. So nannte man ein kleines Pferd mit roter Mähne, passend zur Haarfarbe meiner Schwester. Er hieß Chevalier. Weil aber Marcelle das Wort nur schwer aussprechen konnte, nannte sie ihn Charlie nach dem Sohn der Dutrouxs.
Ich lernte Charles Dutroux wenige Wochen später kennen, als ich meine Schwester wieder einmal zur Reitschule begleitete. Sie war gerade in der Longierhalle und ich sah mich im Stall um, als Charles aus einer der Boxen trat und mich anlächelte. Unsicher lächelte ich zurück, war Charles doch schon älter, sicher schon 13 und mindestens einen Kopf größer als ich. Er fragte, ob ich nicht auch mal reiten wolle und als ich nicht gleich nein sagte, trat er näher, nahm mich bei der Hand und führte mich in die Box, aus der er gerade gekommen war.
Ein großes schwarzes Pferd, ein Rappe, wie mir Charles erklärte, scharrte unruhig mit den Hufen und blähte nervös die Nüstern, als wir näher traten. Ich kam mir neben dem Tier winzig vor. Charles strich ihm beruhigend über die Flanke und reichte mir einen Apfel, den ich dem Pferd geben sollte. Als aber der Rappe nach dem Apfel schnappte, zog ich mit einem spitzen Schrei meine Hand zurück und ließ ihn ins Heu fallen. Charles lachte, bückte sich und fütterte das Pferd, während ich irritiert zusah, wie dem Tier ein komischer Schlauch aus dem Bauch wuchs und an dessen Unterseite zu Boden hing.