Читать книгу Anaïs Tagebuch - Ralf During - Страница 8
25. Dezember 1968
ОглавлениеFür uns Kinder war eine Jahreszeit von ganz besonderem Reiz. Der Winter. Hatte er doch in diesem Jahr früh Einzug gehalten und unseren Ort seit Wochen unter einer weißen Schneeschicht begraben. Überall auf der Straße hörte man es am Morgen kratzen und schaben. Die Leute räumten die Bürgersteige vor ihren Häusern und ich drehte mich nochmal in meinem kuscheligen Federbett um. Nur schlafen konnte ich nicht mehr, zu aufgeregt wartete ich, dass es endlich hell genug wäre, damit wir auf den See konnten. Ich hatte neue Schlittschuhe zu Weihnachten bekommen und brannte darauf, sie auszuprobieren. Die Eisschicht auf dem Weiher war mittlerweile so dick, dass man sogar mit einem Pferdegespann den Weg zum Nachbarort abkürzen konnte.
Doch noch mehr freute ich mich, Mathéo wieder zu sehen. Wir hatten uns seit dem verunglückten Kuss mehrmals getroffen, oft zufällig. Manchmal aber schien es mir, passte er mich ab, wenn wir von der Kirche oder aus der Stadt zurückkamen. Dann stand er meist am Tor unseres Hauses oder half meinem Großvater beim Heuwenden im Stall. Wir sprachen nicht viel miteinander. Manchmal erzählte ich ihm, wie es in der Stadt gewesen war, manchmal unterhielt er mich mit Mutproben, die die Jungs im Dorf für gewöhnlich anstellten, um die Mädchen zu beeindrucken. Doch Mathéo war noch viel zu jung, um da mit zu machen.
Heute aber würde er Sarah, ihre Schwester und mich auf den See begleiten und vielleicht würden wir wie früher Hand in Hand übers Eis laufen.
Ich hatte meinen dicksten Winterpulli angezogen, den roten, den ich so gern mochte und von dem meine Großmutter immer sagte, er würde so gut zu meinen dunkelblonden Haaren passen. Dazu eine weiße Daunenjacke mit Latzhose. Die Pudelmütze mit der roten Bommel passte hervorragend zu meinem Pullover. Ich liebte es, so dick angezogen in der Kälte herum zu toben, den eigenen Atem aufsteigen zu sehen und so zu tun, als ob man heimlich rauchen würde.
Sarah hatte eine grüne Winterkombination an, unter der sie ebenfalls einen roten Pulli trug. Sie stand darauf, dass wir uns manchmal wie Zwillinge anzogen, auch wenn sie mit ihren roten Haaren und den grünen Augen eher meiner Schwester Marcelle glich, als mir. Noch mehr aber liebte sie es, grüne Sachen anzuziehen. Sie hatte viele grüne Kleider, die es unmöglich machten, sie im Wald zu finden, wenn wir im Sommer dort Verstecken oder Fangen spielten. Heute aber würde sie im Weiß des Sees für jedermann weithin sichtbar und ich die Unsichtbare sein.
Nicht so für Mathéo. Unverkennbar hatte er nur Augen für mich, ignorierte Sarahs Werben und half mir auf, wenn ich über meine eigenen Füße stürzte. Er konnte schon ziemlich gut Schlittschuh laufen, viel besser als ich damals, aber er war ja auch ein Jahr älter. Leon hingegen blieb dem See fern. Er traute dem Eis nicht, seit er – ungefähr in meinem Alter – beim Eisfischen mit seinem Vater eingebrochen und fast ertrunken wäre. Manche sagen sogar, er war für Minuten bewusstlos und ist seitdem etwas langsam im Kopf. Ich aber kenne ihn nur so. Zumindest meidet er das Eis und alles, was man Tolles darauf anstellen kann.
Am meisten aber freute sich Hugo 2. Er tobt den lieben langen Tag hinter uns her, rutschte bäuchlings über das Eis und bellte, wenn wir ihn mit Schneebällen bewarfen. Einige der älteren Dorfbewohner spielten auf einer extra frei geräumten Bahn Eisstockschießen und schimpften, wenn mein Hund dem Zielpuk nachjagte und ihn mit seiner Schnauze verschob. Wie selbstverständlich gingen wir am späten Nachmittag Hand in Hand zurück nach Hause. Sarah rechts und ich links, Mathéo in der Mitte.