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ОглавлениеCHAPTER VIER
2016
Pling.
Das Handy auf dem Tisch machte Geräusche.
Minna, die europäische Sumpfschildkröte, saß in ihrem Terrarium auf der Anrichte und guckte hoch.
Vor fünfundzwanzig Jahren hatten Josefine und Tom sich ihr Haus gekauft. Damals war die Schildkröte schon da gewesen.
Die Vorbesitzerin des Hauses hatte sie mitsamt Terrarium und allem, was dazu gehörte, bei ihrem Auszug einfach stehen lassen.
Minna war die Kurzform von Wilhelmine. Josefines Großmutter hatte so geheißen und sie war überzeugt: Das war genau der richtige Name für diese Schildkröte.
Es war angenehm warm in der Küche, fand Minna. Sie hatte genügend zu fressen. Es gab immer frisches Wasser und Holz zum Klettern. Auf einer kleinen Insel wuchsen Kräuter und die drei glatten großen Steine waren Minnas Platz an der Sonne. An zwei Sonnen, um genau zu sein. Eine lachte immer wieder mal durchs Fenster hinter ihr und eine kleinere hing zusätzlich über ihrem Lieblingsplatz. Die lachte vielleicht nicht, aber sie leuchtete und wärmte auch. Heute war es vor allem die Sommersonne, die für Minna das Leben liebenswert machte.
Groß war ihr Lebensraum nicht, aber der Schildkröte genügte es. Sie hatte ohnehin nicht vor, irgendwohin zu gehen. Sie saß lieber still auf einem Stein und beobachtete.
Ihre kleine Welt war die Küche, die Anrichte, auf der ihr Terrarium stand, und das Fenster, durch das sie immer sehen konnte, was im Garten los war.
Und da gab es viel zu beobachten: Katzen, die sich balgten, Mäusefamilien auf der Flucht, Vögel, die sich am Leben freuten und übermütig zwitscherten.
In der Küche war es meistens ruhig.
Nur manchmal, da wurde der Raum lebendig. Dann klapperten hier Töpfe und Pfannen. Es brutzelte und blubberte und die Frau, die in der Küche zu Hause war und die Schildkröte versorgte, plapperte.
Tom musste zuhören.
Die Küche war der Lieblingsplatz von Minnas Menschen. Sie saßen sich an einem kleinen Tisch gegenüber. Und genau wie Minna schienen sie Freude daran zu haben, das Treiben im Garten zu beobachten.
Doch heute fand es Minna viel spannender, zu sehen, was da am Küchentisch los war. Da lag etwas und das machte “Pling”. Immer wieder.
“Dein Handy piept”, machte Josefine Tom darauf aufmerksam. Minna sah zu, wie das Ding auf dem Tisch mit jedem Pling ein kleines bisschen über den Tisch hüpfte. Die Menschen nannten es “Smartphone”, “Handy”. Das hatte Minna schon oft gehört. Bei manchen saß eine Spinne drauf. Das wusste sie. Denn einmal hatte sie gehört, wie jemand zu Josefine gesagt hatte: “Oh, dein Display hat eine Spider-App.”
Aber nun war die Spinne weg. Das Display war geblieben.
Der Mann nahm das Handy in die Hand, wischte darauf herum.
“Die meisten Nachrichten sind von Vera”, sagte er und las.
Ungläubig starrte Tom auf die Texte.
“Vera fragt, ob es uns gut geht. In Reutlingen soll es einen Amoklauf gegeben haben. Gerade hätten die Nachrichten darüber berichtet.” Er suchte im Netz nach weiteren Informationen.
“Ein Amoklauf in Reutlingen. Mehr weiß bis jetzt scheinbar niemand. Ich finde nichts im Internet,” kommentierte Josefine und klopfte weiter auf ihrem Handy herum.
“Die Bildzeitung berichtet über den ‘Macheten-Mann’. Eine Tote und zwei Verletzte habe es gegeben. Weitere Einzelheiten seien nicht bekannt, steht da.”
“Es gibt ein Bild.” Tom hielt seiner Frau das Handy entgegen.
Minna beugte sich so weit vor, wie sie konnte.
Sie sah einen dunkelhaarigen Mann mit Vollbart am Boden liegen.
Verletzt.
Der Mann auf dem Bild hatte Ähnlichkeit mit dem Sohn der Familie.
Die Haare waren ein bisschen länger.
Der Bart auch.
Josefine stand auf und ging unauffällig durch den Flur. In der Mitte blieb sie stehen und lauschte.
Minna beobachtete sie dabei und bemerkte, wie sie einen tiefen Atemzug tat, umkehrte und sich wieder an den Tisch setzte. Entspannt.
Der Sohn schien zu Hause zu sein.
Alles war gut.
Josefine stand auf, ging zum Terrarium. Sie zupfte ein paar Blätter von dem Salat, der schon für das Abendessen bereit lag, und hielt sie Minna hin. Sie schien erstmal genug von solchen Nachrichten zu haben.
Minna saß auf einem großen Stein und ließ sich die Sommersonne auf den Panzer brennen. Sie mochte das. Ihren Hals hatte sie weit aus dem Panzer gestreckt. Das Köpfchen hoch aufgerichtet.
Die kleine Schildkröte sah aus, als hätte sie die ganze Zeit aufmerksam zugehört und Josefine hatte das Gefühl, als wüsste sie viel mehr über all die Dinge, die passierten, als die Menschen ahnten.
Schildkröten, so sagt man, seien weise.