Читать книгу Minnas Buch - Regina Störk - Страница 9
ОглавлениеCHAPTER ZWEI
2016
“Ich will einen Hut”.
Tina guckte ihre Mutter trotzig an.
Nicht mein Kind.
Nicht meine Sache.
Mich geht das diesmal nichts an.
Mein Sohn ist erwachsen.
Früher hätte ich…
Nein hätte ich nicht.
Wenn Jan einen Hut gewollt hätte, hätte er einen bekommen.
Ich war mit meiner Nichte Petra und ihren Töchtern Madeleine und Tina in Tübingen. Ich hatte versprochen, den Nachmittag mit den beiden Mädchen zu verbringen und vorgeschlagen, mit ihnen Stocherkahn fahren zu gehen. Ohne Eltern.
Jetzt war ich froh, dass Petra dabei war.
Ich konnte mich entspannt auf dem Kahn zurück lehnen.
Die Sonne schien, es war Sommer, der Neckar plätscherte friedlich vor sich hin. Der Stocherkahnfahrer erzählte von Hölderlin und Hesse, die beide in Tübingen gelebt hatten, erzählte von den studentischen Burschenschaften und zeigte Häuser.
Ich guckte mir die Menschen an, die auf dem Boot saßen und beobachtete die Spaziergänger auf der Neckarinsel.
Zwei Hunde balgten sich.
Manche Spaziergänger hatten eine dunkle Hautfarbe. Dunkle Haare. Vollbart. Woher wussten die Leute bloß immer, dass es Flüchtlinge waren, wenn sie nordafrikanisch aussehende Menschen sahen? Manche Menschen hatten einen olivfarbenen Teint. Ja und? Ich dachte an Bijan. An Daniel. Die Söhne meiner Freundin. Der Vater ist Perser. Die Jungs sind in Jans Alter. Sie waren zusammen im Kindergarten, in der Schule. Inzwischen studieren sie. Flüchtlinge, Asylanten oder einfach nur Menschen, die eine dunkle Hautfarbe haben?
Ich erkannte den Unterschied nie.
“Wieso kriegt Tina schon wieder was und ich nicht?”
Julia war sauer.
Das Zanken der Mädchen riss mich aus meinen Gedanken.
Einen Hut.
Ich glaube, ich hätte auch gern einen Hut.
So einen mit einer breiten Krempe aus Stroh.
Mit flatternden Bändern. Der zu meinem bunten Sommerkleid passt.
Ich dachte an meine Tante Christel.
Eine Frau geht nicht ohne Hut.
Sie hat mir oft von ihrer Mutter erzählt, von meiner Großmutter Wilhelmine.
Der Hut sei ihr wichtig gewesen, hatte sie erzählt. Überhaupt hätte sie sehr auf ihr Äußeres geachtet. Eine schöne, eine vornehme Frau sei sie gewesen. So hatte auch meine Mutter sie beschrieben. Ganz Dame. Ganz Gutsherrin. Sie habe gewusst, was sie ihrem Stand, ihrem Ansehen schuldig gewesen war. Und dazu habe eben auch der Hut gehört, ohne den sie niemals das Haus verlassen hätte.
Ich hatte meine Großmutter leider nie kennen gelernt. Sie war lange vor meiner Geburt gestorben.
Wie, darüber hatte meine Mutter geschwiegen.
Tante Christel hatte manchmal Andeutungen gemacht und ich hatte mich nie getraut, nachzufragen.
Ich hatte Angst, alte Wunden aufzureißen. Vielleicht wusste Tante Christel es aber auch nicht so genau. Als sie Ostpreußen verlassen hatte, lebte meine Großmutter noch.
“Kriegen wir ein Eis?”
Eine kleine klebrige Kinderhand schob sich in meine. Ich fand es ein bisschen unangenehm, aber ich ließ sie nicht los. Wer weiß, warum Tina manchmal so zickig war. Vielleicht wünschte sie sich einfach, dass man sie lieb hatte. Wie alle anderen Kinder auch. Jedes Kind hat es verdient, geliebt zu werden. Was macht da schon so ein verschwitztes klebriges Händchen.
Die Mädchen zankten. Das taten sie oft. Die Mutter versuchte jedes Mal zu schlichten. Es gab Eis für alle. Tina wollte immer noch einen Hut. Ihre Hände schienen inzwischen fast noch ein bisschen klebriger als vorher geworden zu sein. Zielstrebig steuerten die Mädchen auf ein Geschäft zu, von dem sie sicher waren, dass es da Hüte gab.
Tina war 12, Julia 14 Jahre alt. Tina, das kleine Hütesuchgerät fand die Hutabteilung auf Anhieb. Sie konnte aufsetzen, was sie wollte. Auf ihrem Kopf waren alle Hüte hübsch. Auf meinem nicht. Das Hutgesicht hatte ich nicht von meiner Großmutter geerbt. Wenn man es genau nahm, war ich auch weder elegant, noch legte ich besonders viel Wert auf mein Äußeres. Aber auf einen Sommerhut hatte ich trotzdem Lust.
Schließlich hörte ich auf meine jugendlichen Beraterinnen und entschied mich für den Hut, der den beiden am besten gefiel. Ein weicher Strohhut mit sehr breiter Krempe und flatternden Bändern. Stolz trugen wir unsere mit neuen Hüten geschmückten Köpfe durch die Stadt. Es fühlte sich nach Sommer an.