Читать книгу Minnas Buch - Regina Störk - Страница 22
ОглавлениеWilhelmine war nach dem Abendessen gleich in ihrer Kammer verschwunden.
Bevor sie ging, hatte sie sich noch ihre Schildkröte geschnappt, die immer noch hinter dem Holzstapel beim Herd gesessen hatte. Das Tier gab ihr irgendwie Trost. Es strahlte Ruhe aus, Gelassenheit. Und manchmal hatte Wilhelmine fast das Gefühl, die Schildkröte könne nicht nur ihre Gedanken lesen, sondern sie kriege es auch immer wieder hin, dass Wilhelmine sich entspannte, wenn sie das Tier ansah. Und oft fand sie dann sogar Antworten auf Fragen, die sie gar nicht gestellt hatte.
Wilhelmine saß in ihrer Kammer, hatte die Schildkröte auf dem Schoß und streichelte ihr Köpfchen.
Manchmal hatte sie das Gefühl, das Tierchen genoss es.
Schrecklich still war es abends wieder am Tisch gewesen.
Niemand hatte mit Wilhelmine gesprochen.
Der Vater nicht und auch nicht einmal die Mutter.
Seitdem Guste Lonzewski vor einer Woche erfahren hatte, dass Wilhelmine guter Hoffnung war, hatte sie nur noch das Nötigste mit ihrer Tochter geredet. Außer “Hast du die Enten gefüttert?” Oder “Gib mir bitte die Butter herüber” kam da nichts von ihr.
Wenn Minna nicht wäre, hätte sie niemanden, mit dem sie reden konnte, dem sie ihr Herz ausschütten konnte.
Ihre Freundinnen wollte sie da nicht mit hineinziehen.
Die Schildkröte verstand sie. Ihr konnte sie alles anvertrauen.
Bei ihr konnte sie sicher sein, dass sie nichts weitererzählen würde. Nichts brauchte ihr peinlich zu sein.
“Meinst du, ich sollte zu Juri gehen? Es ihm sagen? Dass er Vater wird?”
Wilhelmine hatte Angst vor der Konfrontation. Wie würde er reagieren? Wie würde seine Familie reagieren?
Die Schildkröte antwortete nicht.
“Wenn du meinst, ich soll, dann gehe ich eben.” Entschlossen stand Wilhelmine auf, schnappte sich das Tier, trug es in die Küche zu seinem Lieblingsplatz auf dem Holzstapel neben dem Herd und schlich sich aus dem Haus.
“Kochanka! Co się dzieje? Was ist los, mein Herz?”
Juri war erschrocken, als er Wilhelmine sah.
Sie war blass.
Ihren Augen fehlte der Glanz.
Stattdessen waren sie rot geweint.
Diese schöne, starke, selbstbewusste Frau sah aus wie ein Häufchen Elend. Es musste etwas passiert sein. Etwas Schlimmes.
Juri saß mit seiner Mutter und den Geschwistern noch in der alten Bauernküche auf der Bank. Die Familie war bereits mit dem Abendbrot fertig. Der Herd brannte noch und es war angenehm warm. Jetzt würde man ihn langsam ausgehen lassen, um Brennmaterial zu sparen.Die Mutter hantierte mit Töpfen und Geschirr am Herd.
Juris jüngere Geschwister hatten irgendwo ein Kartenspiel aufgetrieben und sich an den Küchentisch gesetzt. Eine kleine Petroleumlampe verbreitete ein schwaches, aber warmes Licht.
Die Küche war klein. Viel kleiner als die Küche auf Lonzewskis Hof. Die Menschen rückten näher zusammen. Das gab Geborgenheit
Wilhelmine entspannte sich etwas. Hier waren Menschen, die sie mochten. Noch jedenfalls. Solange sie ihre schreckliche Nachricht für sich behielt.
Sie hatte das Gefühl, die Menschen hier interessierten sich sehr viel mehr dafür, wie es ihr ging als ihre Leute zu Hause.
Noch, meldete sich eine leise Stimme in ihrem Kopf.
“Komm, setz dich zu mir auf die Bank und dann erzählst du mir, was dir so großen Kummer bereitet. Mamka hat Tee auf dem Herd. Der wird dir gut tun. Und dann tun wir einen Schuss Wodka hinein. Wodka hilft immer. Und zwar gegen alles.”
Wilhelmine setzte sich zu ihrem Liebsten. Sie nahm den heißen Emaillebecher in beide Hände. Die Wärme des Tees, der Duft nach Kräutern entspannte Wilhelmine. Sie seufzte tief und schmiegte sich ganz eng an Juri.
Juri hatte seinen kleinen Brüdern einen Wink gegeben und dann waren sie mitsamt ihrem Kartenspiel aus der Küche verschwunden.
Die Mutter hatte Juri und Wilhelmine den Rücken zugewandt und hantierte immer noch am Herd mit ihren Töpfen.
“Juri …”, begann Wilhelmine stockend und dann war ihre Stimme weg. Tränen stiegen ihr in die Augen.
“Langsam, Kochanka, lass dir Zeit.”
Juri streichelte zärtlich ihre Hände. Es zerriss ihm fast das Herz, die Frau, die er liebte, so leiden zu sehen. Doch er konnte nur da sitzen und zuhören.
Wilhelmine begann zu erzählen. Erst unsicher, zögernd und dann immer flüssiger. Wie sie gemerkt hatte, dass irgendetwas anders war, wie sich ihr Körper veränderte und dass sie überzeugt davon war, im Mai einem kleinen Mädchen, Juris kleinem Mädchen das Leben zu schenken. Und wie furchtbar das alles war, dass ihre Eltern nicht mehr mit ihr sprachen. Dass ihre Eltern selbst aber auch völlig verzweifelt waren. Dass Wilhelmine nicht damit gerechnet hatte, dass es sie so hart treffen würde.
Denn eigentlich könnte doch alles so einfach sein. Sie brauchten doch nur zu erlauben, dass sie Juri heiraten durfte. Sie würden alle zusammen auf dem Gut leben. Die Eltern wären versorgt und das Kindchen. Niemand brauchte erfahren, dass sie schon vor der Hochzeit schwanger geworden war. Es wurden häufig Kinder nur wenige Monate nach der Hochzeit geboren. Das war nichts Ungewöhnliches. Es wurde ohnehin Zeit für sie, eine Familie zu gründen. Schließlich war sie schon vierundzwanzig Jahre alt. Fast ein altes Mädchen. Dass sie Herbert von Herwaden heiraten würde, konnte ihr Vater doch nicht tatsächlich geglaubt haben.
Nun wollte der Vater endgültig nichts mehr von ihr wissen.
Er redete nicht mehr mit ihr.
Das war schlimm für Wilhelmine.
Sie liebte ihren Vater.
Von der Mutter bekam sie auch keine Unterstützung.
Niemand sprach zu Hause auch nur noch ein einziges Wort mit ihr.
Sie war unerwünscht.
Sobald sie einen Raum betrat, verstummten alle Gespräche. Die Leute verließen den Raum und täuschten dringende Arbeiten vor.
“Dabei merke ich doch ganz genau, dass sie mir einfach nur aus dem Weg gehen wollen.”
Und wieder liefen Wilhelmine Bäche von Tränen die Wangen hinunter.
Juri hatte sie die ganze Zeit nicht ein einziges Mal unterbrochen. Er hatte sie reden lassen, sie im Arm gehalten, ihre Hände gestreichelt.
Ein Kind. Sein Kind. Sein Kind von der Frau, die er über alles liebte. Das war das einzige, woran Juri denken konnte. Mehr passte nicht in seinen Kopf. Dieser eine Gedanke füllte jede Ecke bis in den hintersten Winkel aus.
Genau so sollte es sein, dachte er. Dass Kinder entstanden, weil man sich wirklich ganz und gar liebte. War das nicht großartig?
Nein, war es natürlich nicht. Er war Pole. Ein Habenichts. Nie würde Wilhelmines Vater ihn als Schwiegersohn akzeptieren.
Am liebsten würde er sein Marjellchen einfach hier zu Hause behalten und nie mehr fort lassen. Hier in seinem Zuhause. Bei seiner Familie.
“Bleib bei mir, Kochanka”, flüsterte Juri. “Hier bei mir. Bei meiner Familie. Wir lieben dich hier alle. Wir freuen uns auf das Kindchen. Ihr zwei hättet es gut bei uns. Mamka würde für euch sorgen, wenn ich nicht da bin. Du bist volljährig. Wozu brauchen wir die Erlaubnis deiner Eltern? Wir können auch ohne ihren Segen heiraten. Bleib bei mir.”
Mamka klapperte noch immer mit ihren Töpfen.
Ihr Gesichtsausdruck war besorgt.
Wenn das so einfach wäre, dachte Wilhelmine. Aber das war es nicht. Sie hatte Verantwortung. Für ihre Eltern, das Gut, die Landarbeiter, die Instleute. Die hatte sie schon immer gehabt. Das war eine feste Größe in ihrem Leben.
Und nun hatte sie versagt. Sie hatte einen Sommer lang nur an sich gedacht und damit alles zerstört. Ihr Leben, das ihrer Eltern und auch das ihres ungeborenen Kindes. Es passte alles nicht zusammen. Es gab keine Lösung und auch keinen Ausweg.
“Ich muss gehen.” Wilhelmine war aufgestanden. Ihr Blick war entschlossen.
“Minka, bleib hier.” Juri sah sie flehend an. “Bleib bei mir. Bei uns. Du, nein ihr - wir sind hier zu Hause. Du … ihr seid hier versorgt. Ich sorge für euch. Für uns.”
Wilhelmine sah sich in der kleinen Wohnstube um. Das Märchen von Hänsel und Gretel fiel ihr ein. Und die Umschreibung, wie sie in Märchen häufig vorkam: “einfach, aber sauber” und “bescheiden, aber reinlich.”
Sie dachte an ihr Kind und wie es in dieser Umgebung aufwachsen würde. Bescheiden und reinlich. Damit alles hier reinlich sein würde, wäre Wilhelmine verantwortlich. Ohne die Hilfe von Annka, Yvonnka und allen guten Geistern aus dem Insthaus der Lonzewskis, die dafür sorgten, dass Haushalt und Landwirtschaft reibungslos liefen. Sie würde putzen, kochen, backen müssen. Zum Markt fahren, um einzukaufen und die eigenen bescheidenen Erzeugnisse des Gemüsegartens dort verkaufen.
“Vielen Dank, dass ihr heute Abend für mich da wart”, sagte sie.
Noch einmal umarmte sie Juri, verabschiedete sich von seiner Mutter und verließ das Haus.
Juri saß immer noch auf der Bank in der Küche. Inzwischen vor dem dritten Glas Wodka.
Ich werde Vater, dachte er.
Das muss ich erstmal verdauen.
Vater des Kindes von der schönsten Frau auf der Welt.
“Ich liebe sie”, nuschelte er, als er das nächste Glas Wodka in sich hinein kippte. “Und sie liebt mich.”
“Juri …” Juris Mutter wischte sich die Hände an der Schürze ab. Sie sah ihren Sohn besorgt an und tat einen tiefen Seufzer. “Wie stellst du dir das vor?”
“Wir heiraten.” Juris Augen schimmerten glasig.
“Aber erst muss ich mal.” Er stand auf, schob den Tisch mit einem lauten Geräusch zur Seite, schwankte noch etwas und ging vors Haus.
Er genoss die Luft dieses kühlen Herbstabends, stellte sich vor den Apfelbaum hinterm Haus, öffnete seinen Hosenladen, holte den Teil seines Körpers hervor, der ihn anatomisch zum Mann machte und hielt ihn in den Wind. “Damit habe ich ein Kind gemacht.” Staunend und irgendwie auch stolz guckte er auf das Wunder in seiner Hand. Er kicherte, während er Tee und Wodka dem Apfelbaum anvertraute, verstaute sein bestes Stück wieder in die Hose, schloss seinen Hosenladen und ging ins Haus.
Juri setzte sich auf die Bank, goss sich noch ein Glas Wodka ein, legte den Kopf auf die Arme und schlief ein.