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CHAPTER SIEBEN

1922

Minnas Schildkrötenherz hüpfte, als sie sich in das wunderbar kühle Wasser der Skottau gleiten ließ. Das Ufer war wunderbar glitschig. Minna genoss es. Sie öffnete ihr Mäulchen bis ihr ein winziges Fischlein in den offenen Mund schwamm. Sie schluckte und machte das Mäulchen gleich noch einmal auf. Dann wartete sie darauf, dass ein wenig Entenflott in ihren Magen gespült wurde. Auch Gemüse ist schließlich wichtig, dachte die kleine Schildkröte und fühlte sich wie im Schlaraffenland.

Fressen war angenehm, dachte sie.

Vor allem, weil sie ja gar nicht viel dafür tun musste.

Sie saß im Wasser, öffnete ihr Maul und das Futter schwamm hinein.

Leben war schön.

Aus den Augenwinkeln sah Minna das Mädchen da am Ufer sitzen. Es hatte Schuhe und Strümpfe ausgezogen und spielte mit den Zehen im Wasser. Ein paar kleine Fische ergriffen die Flucht. Die zappelnden Zehen sahen gefährlich aus. Minna gefielen sie. Sie fand’s spannend und beobachtete, wie sich die Zehen auf und nieder bewegten.

Das Mädchen schien von ihren eigenen Füßen ebenfalls fasziniert zu sein. Sie beobachtete versonnen das Leben ihrer Zehenspitzen.

Und weil sie so versunken in ihr Spiel mit den Füßen war, hatte sie den Mann, der leise um die Ecke geradewegs auf das Mädchen zu kam, nicht bemerkt.

Plötzlich stand er vor ihr, und sie guckte hoch. Minna konnte förmlich sehen, wie ihr Herzschlag kurz aussetzte und dann los hoppelte wie das Herzlein eines kleinen Hasen.

“Juri!”, rief sie überrascht. “Was machst du denn hier?” Ihre Wangen färbten sich rot, als sie zu dem Mann aufblickte.

Minna ahnte, dass Menschen auf diese Weise Paarungsbereitschaft signalisierten. Genau wusste sie es nicht. Vielen paarungsbereiten Menschen war sie bisher noch nicht begegnet.

Der Mann guckte die junge Frau an.

Er sah ihr in die Augen.

Das Mädchen schien diesen Blick ganz woanders zu fühlen, denn es guckte jetzt auf seine Hände.

“Es ist warm heute”, sagte Juri schüchtern und versuchte sich etwas Kühlung zu verschaffen, indem er die Finger zwischen Hals und Kragen schob.

Er lächelte das Mädchen an.

“Schön, dich zu sehen”, sagte er dann.

Er hatte seine Stimme nicht im Griff, dachte Minna. Er klang heiser. Immer wieder musste er sich räuspern.

“Ich hab Magda getroffen”, erzählte Juri. “Sie hat davon gesprochen, dass du hier unten am Wasser bist.”

Wilhelmine guckte hoch.

Es gibt intelligente Gesichtsausdrücke und weniger intelligente, dachte Minna. Diese hier gehörte eindeutig zu den weniger intelligenten, fand sie.

“Ich war mit ihr hier verabredet …”, sagte Wilhelmine langsam und es hörte sich an, als müsste sie jedes einzelne Wort tief aus ihrem Inneren hervorkramen und es erstmal behutsam drehen, damit sie es von allen Seiten begutachten konnte, bevor sie es vorsichtig aussprach.

“Das hat sie nicht erwähnt”, wunderte sich der Mann.

Schick sah er aus in seiner Uniform. Das fand sogar die Schildkröte.

“Vielleicht ist ihr etwas dazwischengekommen.”

Oder sie wollte nicht stören. Minna sah die Sache anders. Denn in manchen Situationen reicht es aus, wenn zwei Menschen beieinander sind. Ein dritter wäre dann genau einer zu viel.

Wilhelmine sagte nichts. Sie sah aus, als hätte sie gerne etwas zur Unterhaltung beigetragen, doch ihr war ganz einfach nichts eingefallen.

Die beiden saßen eine Weile still nebeneinander. Minna konnte die Spannung zwischen ihnen fast körperlich spüren. Sie sah, wie Juri überlegte, was er sagen konnte.

Schließlich nahm er allen Mut zusammen und öffnete den Mund.

“Wie geht es dir?”, kam heraus.

Keine besonders intelligente Frage, fand Minna.

“Gut”, antwortete Wilhelmine.

Dann war sie wieder still und schaute auf ihre Hände.

“Und deiner Familie?”, fragte Juri nach einer kleinen Pause.

Minna hörte weiter interessiert zu und war gespannt, ob da irgendwann noch etwas Intelligenteres kam.

“Auch”, sagte Wilhelmine.

Dann war das Thema erschöpft.

Meine Güte, waren die Menschen kompliziert, dachte Minna.

“Wilhelmine … “ Juri zerrupfte einen Grashalm.

“Ja?” Wilhelmine schaute hoch.

“… ach verdammt”, platzte Juri dann mit einem Mal heraus. “Ich will doch gar nicht wissen, wie es deiner Familie geht.” Er hatte den Faden verloren. “Das heißt, doch. Natürlich interessiert es mich, wie es deiner Familie geht.” Er machte eine Pause und versuchte, seine Gedanken zu sortieren.

“Aber im Moment gerade … also … eigentlich bist du das einzige, woran ich denken kann. Aber ich hab keine Ahnung, was ich sagen soll. Ich kann so was nicht. Ich kenn mich mit unverbindlicher höflicher Konversation einfach nicht aus. Mir liegt dieser lockere leichte Plauderton nicht.”

Oh Mann, dachte Minna. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, aufzuhören, um den heißen Brei herum zu reden.

Wilhelmine sagte immer noch nichts.

Ich kann hören, wie heftig ihr Herz klopft, stellte Minna fest.

“Wilhelmine …” Juri holte noch einmal tief Luft.

“Ja?”

“Ich liebe dich. Und ich wäre der glücklichste Mensch auf der Welt, wenn ich dich heiraten könnte. Du bist die schönste und klügste Frau, der ich je begegnet bin. Ich weiß, dass wir aus völlig verschiedenen Welten kommen. Dass ich nicht fühlen dürfte, was ich fühle. Aber ich spüre doch, dass ich dir ebenfalls nicht egal bin. Meinst du, es gibt einen Weg für uns?”

Wilhelmines Augen leuchteten. Ihr Gesicht sah aus, als wäre darin gerade die Sonne aufgegangen.

Nun war es raus. Juri wirkte erleichtert.

“Juri …”, stammelte Wilhelmine und dann sagte sie etwas, das für Minna klang wie “Ja, ich will…”

“Juri …”, Das Mädchen schien nicht zu wissen, wo es hinsehen sollte. Ihr Blick wanderte von Juris Augen zu seinem Mund. Sie beobachtete seine Bewegungen, schaute auf seine Hände. Und wandte sich dann schnell ab. Sie sah auf ihre Zehen, die immer noch im Wasser zappelten.

“Es ist so warm”, sagte Juri heiser.

Dann legte er seine Hand auf Wilhelmines. Schüchtern sah sie zu ihm hoch. Sein Gesicht kam ganz langsam näher.

Minna sah zu.

Juris Augen fingen Wilhelmines Blick.

Er führte Wilhelmines Hände an die Lippen. Berührte sie zart. Wilhelmine bekam Gänsehaut. Das Gefühl schien ihr nicht unangenehm zu sein. Juri legte eine Hand in ihren Nacken, streichelte ihre zarte Haut. Wilhelmine entfuhr ein tiefer Seufzer. Er klang, als käme er ganz tief aus ihrem Bauch zu kommen. Wenn nicht sogar noch von sehr viel weiter unten.

Wilhelmine schmiegte sich an den Mann. Dass er nach Rasierwasser duftete, roch sogar Minna.

Der Träger von Wilhelmines Sommerkleidchen war verrutscht.

Juri versuchte, ihn wieder zurück an seinen Platz zu schieben. Ganz leicht berührten seine Finger dabei Wilhelmines Haut, wanderten von der Schulter sanft und leise in ihr Dekolleté.

Wilhelmine rührte sich nicht, saß da, wie gelähmt. Sie sah aus, als sei sie mit dieser Situation heillos überfordert.

“Juri…”, stotterte sie. “Du darfst nicht… ich kann nicht …”

Juri sagte nichts.

“Wir dürfen nicht… ich darf …”

Ihre Unterlippe zitterte.

Ob sie gleich weint?, überlegte Minna. So traurig fand sie das, was sie da zu sehen bekam, doch gar nicht.

Juri beugte sich über das Mädchen und legte seine Lippen auf ihre.

Minna rückte noch ein bisschen weiter nach links, damit sie besser sehen konnte, was da auf der anderen Seite des Flusses gerade vor sich ging, verlor das Gleichgewicht, rutschte ins Wasser, rappelte sich wieder hoch und kletterte die Böschung wieder hinauf.

Als sie das Schauspiel weiter verfolgen konnte, lag Wilhelmines Hand auf der Brust des Mannes. Es sah aus, als hätte sie zumindest versucht, ihn von sich zu schieben, sei aber dann gescheitert.

Bei Menschen sind die Männchen stärker, dachte sie und war froh, dass das bei Schildkröten anders war.

Aber dieses Mädchen schien überhaupt gar keine Kraft zu haben. Die Finger hingen schlaff herunter. Und dann sah sie, wie sich die Finger um die Grasbüschel am Ufer klammerten. Keine besonders Erfolg versprechende Art, sich zu wehren, dachte Minna.

Die Grasbüschel würden dem Griff nicht lange standhalten.

Und dann sah sie, wie sich Wilhelmines Hände entspannten, wie sie ihre Arme um den Hals des Mannes schlang, wie ihre Körper mit einem Male ganz dicht aufeinander lagen. Der Stoff von Wilhelmines dünnem Sommerkleidchen zwischen ihnen sorgte für das letzte bisschen Anstand.

Ganz still saß Minna auf ihrem Beobachtungsposten. Sie konnte ihre Augen nicht von den beiden Menschen lassen.

Das geht nicht gut, wusste sie. Sie sah, wie Juri erst Wilhelmine und dann sich selbst langsam auszog. Es schien der Frau zu gefallen. Minna vernahm immer wieder leise ein wohliges Stöhnen ganz tief aus Wilhelmines Herzen. Oder von welcher Stelle ihres Körpers auch immer dieses Wohlbehagen ausgelöst worden sein mochte.

Juri nahm das Mädchen zärtlich in die Arme und legte sie in das weiche warme Gras am Ufer. Die Frau wehrte sich nicht. Minna fiel ein Zitat von Goethe ein: “Halb zog sie ihn, halb sank er hin.” In dem Gedicht versanken die Liebenden allerdings schließlich im Wasser und “ward nicht mehr geseh’n”. Das würde hier nicht passieren, da war sie sich sicher. Die Skottau war nicht tief genug.

Minna sah, wie Männlein und Weiblein ineinander versanken.

Ein bisschen wunderte sie sich noch darüber, dass Wilhelmine den Kopf nicht einzog. Schildkröten tun das. Damit das Schwänzlein mit allem, was darunter war, hinten aus dem Panzer rutschen konnte. Damit das Männchen fand und auch erreichen konnte, was es suchte.

Bei Menschen schien das einfacher zu sein.

Da störte kein Panzer. Alles, was sie für die Paarung brauchten, war ganz leicht freizulegen. Sie hatten aber auch kein Schwänzchen. Zumindest das Weibchen nicht.

Minna war traurig. Sie wusste, wie die Geschichte weitergehen würde. Dabei fand sie es einfach wunderbar, wenn zwei sich liebten. Menschen waren manchmal merkwürdig.

Wilhelmine und Juri lagen nebeneinander im Gras. Juri hatte sich halb aufgerichtet und dem Mädchen zugewandt. Er betrachtete ihren warmen weichen Körper. Sie duftet, dachte er. Nach Sommerwiese und Glück. Er beobachtete, wie sich ihr Oberkörper mit jedem Atemzug hob und senkte. Er konnte sehen, wie ihr Herz hüpfte. Sonst rührte sie sich nicht. Juri streichelte sanft ihr Gesicht, ihren Hals, ihren Nacken. Seine Hand zitterte leicht, als er sich zu seiner Geliebten herunterbeugte, um sie zu küssen.

Wilhelmine hielt den Atem an, öffnete leicht ihre Lippen und schloss die Augen.

Sie wollte, dass der Moment nie vorbeigehen würde.

Doch irgendwann würde sie ihre Augen wieder öffnen müssen.

Und dann würde die Realität sie einholen.

Minna seufzte, drehte sich um, kletterte aus dem Wasser, die Böschung hoch, und legte sich unter einen Lavendelstrauch. Sie mochte den Geruch und knabberte ein bisschen an den Blättern.

Hier gefiel es ihr. Das Leben kann ganz schön sein, dachte sie und fiel in einen zufriedenen Schildkrötenschlaf.

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