Читать книгу Minnas Buch - Regina Störk - Страница 16
ОглавлениеWilhelmine war mit dem Zweispänner nach Neidenburg gefahren.
Und das war gut so.
Ohne die Kutsche hätte sie die Schachteln und Kartons unmöglich nach Hause transportieren können.
Sie lies sich gleich zum Zollwärterhäuschen an der polnischen Grenze kutschieren und rannte durch die Küche ins Haus.
“Magda… !” rief sie fröhlich und öffnete alle Türen im Haus. Viele waren es nicht und hinter irgendeiner musste Magda doch stecken. Wilhelmine fand sie an ihrer Nähmaschine sitzend.
“Ich war in Neidenburg und guck was ich mitgebracht habe”, plapperte Wilhelmine sofort drauf los. Magda grinste. Sie kannte ihre Freundin und ihre manchmal etwas ungestüme Art. Besonders, wenn sie sich für irgendetwas begeisterte, war sie immer ganz und gar aus dem Häuschen. So wie jetzt.
“Du hattest offensichtlich einen schönen Tag?” fragte die Tochter des Zollwärters.
“Ja, und wie…!” Wilhelmines Wangen waren gerötet. “Wir feiern doch das Fest. Also meine Eltern feiern das Fest. Na ja, es geht da schon um mich. Das heißt, nicht um mich, sondern eher darum, mich an den passenden Ehekandidaten zu verkaufen. Na ja - egal. Jedenfalls brauche ich etwas zum Anziehen und deshalb war ich in Neidenburg. Guck mal… “ Wilhelmine schleppte ihre Beute in das Nähzimmer der Freundin.
“Was machst du da?” fragte Magda und die Neugierde stand ihr mitten im Gesicht geschrieben.
“Na, ich muss dir doch zeigen, was ich erbeutet habe.” Wilhelmine sah ihre Freundin an. “Kannst du eigentlich nähen?” Gleich, als sie die Worte ausgesprochen hatte, fiel ihr auf, wie blöd die Frage war. Schließlich saß Magda an der Nähmaschine. Das Gerät war kaum als Dekoration angeschafft worden.
“Wilhelmine …”, Magda schüttelte nachsichtig den Kopf. “Vielleicht kommst du erst mal zur Ruhe? Ich mach uns einen Kaffee.”
“Au ja, das ist eine gute Idee. Ich hab uns ein paar Stücke Kuchen aus Neidenburg mitgebracht.”
Konditor-Kuchen. Aus der Kreisstadt. Magda lief bei dem Gedanken das Wasser im Munde zusammen. So etwas bekam sie nicht oft. Wann kam sie schließlich schon mal nach Neidenburg. Sie war froh, dass Sie ihre Kornkaffee-Bestände gerade aufgefüllt hatte. In der vergangenen Woche hatte sie die getrockneten Löwenzahn- und Zichoriewurzeln, die sie regelmäßig sammelte, geröstet. Daraus braute sie nun den Kaffee für sich und ihre Freundin. Bohnenkaffee gab es in dem Zollwärterhäuschen eher selten. Aber den beiden Frauen machte das nichts aus. Das Getränk war heiß und braun. Das genügte. Dazu gab es Kuchen. Was will man mehr?
“Würdest du mir ein Kleid nähen?”, fragte Wilhelmine, als die beiden schließlich vor ihrem Kuchenteller saßen.
“Und vielleicht ein Stirnband? Einen passenden Hut hab ich gekauft.”
Wilhelmine sprang auf und schleppte die Hutschachtel aus dem Nähzimmer in die Küche. Sie schälte das Kunstwerk aus dem Seidenpapier und setzte es sich auf den Kopf. Der Hut war blau, hatte etwa die Form einer Gemüseschüssel und schmiegte sich eng an den Kopf. Eine zierliche Krempe, etwa so schmal wie der Rand der Teller im Zollwärterhäuschen, war weit in die Stirn gezogen. Wilhelmines Augen waren kaum noch zu sehen.
“Hübsch”, kommentierte Magda zwischen zwei Bissen eines Baumkuchens mit Schokoglasur. “Und praktisch”, fügte sie hinzu. “Da kannst du dir den Friseur sparen. Von deinen Haaren sieht man nicht mehr viel. Und ein Stirnband brauchst du auch nicht.”
“Vielleicht könnte man eine Schleife aus dem Stoff um den oberen Teil … ungefähr so … ” Wilhelmine hatte den Hut wieder abgesetzt und versuchte nun, die Stoff-Schleife, die das Kuchenpaket zugehalten hatte, um den Hut zu schlingen.
“Wilhelmine! Leg den Hut zur Seite. Da ist Schokolade dran!” Magda war entsetzt. “Die Schokolade kriegst du nie wieder aus dem Stoff.”
Wilhelmine seufzte und legte den Hut wieder in die Schachtel. Aus einer der Tüten beförderte sie ein Modemagazin zutage. “Guck mal, meinst du, du könntest mir daraus so ein Kleid nähen?” Wilhelmine sah ihre Freundin bittend an.
“Warum nicht”, antwortete Magda, leckte die Schokolade von den Fingern, wischte sich die Finger an einem Geschirrtuch ab und zog das Magazin zu sich herüber.
Die Damen, die auf den Magazinseiten die neueste Mode präsentierten, hatten kinnlange Haare, die das Gesicht in weichen Wellen umschmeichelte. Es gab blonde und dunkle Köpfe, Seitenscheitel und Pony-Frisuren, Hüte, wie Wilhelmine einen mitgebracht hatte oder Stirnbänder mit Federn, wie Indianer sie trugen. Die Kleider waren schulterfrei oder hatten schmale Träger. Manche der Modelle trugen Federboas um die Schultern, eine lange Zigarettenspitze in der behandschuhten Hand und lange glitzernde Ketten um den Hals.
Die Mädchen waren schlank, weibliche Rundungen waren kaum zu erkennen. Die Taille hing tief auf Gesäßhöhe, der Rock endete weit über dem Knie.
“So etwas willst du anziehen?”, fragte Magda ungläubig. “Hier in Koslau?”
“Ja, warum denn nicht? Gefällt es dir nicht?”
“Es ist, sagen wir mal … anders. Anders, als die Kleider, die man sonst in Klein Koslau zu sehen bekommt.”
“Natürlich kann man in so einer Aufmachung nicht auf die Weide, aufs Feld oder in die Ställe. Das ist mir schon klar. Aber es ist ein Fest! Und meine Mutter wünscht sich, dass ich Spaß habe. Und es macht mir Spaß, mich einfach mal ganz anders zu kleiden, zum Friseur zu gehen. Und ich hab mir auch Lippenstift und falsche Wimpern gekauft. Und so eine Art Kohle, um die Augenlider zu färben. Etwas Rouge für die Wangen.”
Wilhelmine packte schon wieder eine Schachtel aus und stellte alles auf den Küchentisch.
“Na dann …” Wilhelmines Begeisterung war ansteckend und Magda bekam langsam ebenfalls Spaß an der Sache. “Dann lass uns mal deinen Stoff angucken und sehen, was wir draus machen können.”
Als Wilhelmine später nach Hause fuhr, war sie zufrieden. Sie hatte einen wunderschönen Nachmittag mit ihrer Freundin verbracht. Die beiden Frauen hatten viel Spaß gehabt und so viel gelacht, wie schon lange nicht mehr. Die Stoffe hatte Wilhelmine gleich bei ihrer Freundin gelassen. Magda würde daraus das Passende zaubern.