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ОглавлениеCHAPTER SECHS
2016
Der Himmel ist so blau, als wäre nie etwas gewesen. Die Vögel zwitschern, der Garten liegt friedlich in der Sonne. Der Rasen ist lange nicht gemäht worden, so dass Gänseblümchen und Klee ihre Köpfe der Sonne entgegen strecken. Die Gefahr, hier zertreten zu werden, ist relativ gering. Hier ist selten jemand. Die Welt des Katers, der sich den Gartenstuhl ausgesucht hat, um sich seiner Körperpflege zu widmen, scheint in Ordnung.
So lange ihm der Nachbarkater sein Revier nicht streitig macht.
Unser Kater ist ein kleiner Raufbold. Und er trägt seine Kratz- und Bisswunden mit einem gewissen Stolz.
Sind Menschen anders?
Ich sehe den Kater, der sich in Macho-Manier einfach gerne prügelt. Er versteckt sich hinterm Sessel, wartet, dass eine Katze vorbeikommt, und greift an.
Das soll er früher auch mit den Familienhunden der Vorbesitzer gemacht haben. Deshalb musste er weg.
Bei uns darf er bleiben.
Er ist ein Kater.
Die sind so.
Unsere Katzen wissen das.
Weil sie Katzen sind.
Leicht war Sammys Leben nie.
Immer wieder Tierarzt, Operationen, ohne die er Unfälle oder Krankheiten nicht überlebt hätte.
Er hasst den Katzentransportkorb.
Er verbindet damit unangenehme Tierarztbesuche, Umzüge, Familienwechsel.
Niemand ist mit ihm klargekommen.
Immer wieder musste er sich an neue Menschen, neue Mittiere, eine neue Umgebung gewöhnen.
Sich ein neues Revier suchen, sich immer wieder mit anderen Nachbarkatern auseinander setzen.
Ist er deshalb so aggressiv?
Zu uns ist er das nicht.
Zu uns ist er das liebste, schmusigste Tier, das man sich vorstellen kann.
Er ist immer da.
Fast wie ein kleines Hündchen.
Aber auch sehr fordernd.
Er braucht Aufmerksamkeit und die holt er sich.
Wenn es sein muss, indem er auf den Schreibtisch springt und sich mitten auf die Tastatur legt, so dass arbeiten unmöglich ist.
„Der Mensch ist nichts anderes als ein dressierter Affe, der Auto fahren kann.“
Diesen Satz habe ich vor wenigen Tagen gehört und er geht mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf.
„Und selbst das kann er meistens nicht richtig“, grinst mich der Mann an, mit dem ich Tisch und Bett teile.
Diesmal teilen wir den Tisch.
Er sitzt mir gegenüber.
Ich hatte die Sache mit dem Affen laut ausgesprochen.
„Nein, aber ganz im Ernst - irgendwie ist das doch alles bescheuert.“
„Ja, klar. Im Grunde schon. Aber was genau?“
„Na, die Welt eben. Die Menschen. Überall brodelt es. Krieg in Syrien, der IS in den arabischen Staaten, der findet, dass die Menschen den falschen Göttern hinterherlaufen und sich nicht der richtigen Religion entsprechend verhalten.
Die deshalb Leute umbringen oder es zumindest ständig versuchen. Viel zu oft schaffen sie es.
Ein komischer Präsident in der Türkei, der sich verhält wie Hitler in seinen Anfangszeiten.
Ein Militärputsch, der selbst bei Leuten, die sonst nichts so sehr mit Verschwörungstheorien am Hut haben, ein komisches Gefühl hinterlässt.
Und dann jetzt hier die letzten beiden Amokläufe. Am Freitag in München und gestern bei uns in Reutlingen.
Die einen wünschen sich, die Täter seien Flüchtlinge, Moslems. Die anderen hoffen, die Sache den Nazis anhängen zu können, hoffen auf politische oder wenigstens religiöse Motivationen und sind enttäuscht, dass es sich nun ‘nur’ um ein Beziehungsdrama in Reutlingen und um eine Art erweiterten Selbstmord in München gehandelt haben soll.“
„Na ja, die Sache in München hatte durchaus schon Potenzial, das man der Politik, der Gesellschaft zuschreiben kann. Der Täter wurde in der Schule gemobbt, saß den ganzen Tag am Computer und spielte Counter Strike, hatte außer seinen virtuellen Internetbekanntschaften im Darknet keine sozialen Kontakte. Und ich glaube, gekifft hat er auch noch.“
„Nein, das ist jetzt Quatsch. Wenn er gekifft hätte, wäre das nicht passiert. Kiffer sind friedlich.“ Ich grinse meinen Göttergatten an.
Minna, die Schildkröte, sitzt in ihrem Terrarium auf der Anrichte in der Küche und schließt in angenehmer Erinnerung die Augen.
Sie erinnert sich an einen Sommer, als ihr Terrarium auf dem Nachbarbalkon stand. Damit sie ein bisschen richtige Sonne abbekommen sollte und nicht immer mit der Wärme von der Lampe auf dem Küchentisch zufrieden sein musste.
Auf dem Balkon standen Pflanzen. Manchmal hatte sie daran geknabbert.
Und dann die Sonne noch viel mehr genossen.
Und wenn sie gewusst hätte, was Reggae ist, hätte sie genau diese Musik gehört und vermutlich auch getanzt.
Das Bedürfnis danach hatte sie jedenfalls.
Irgendwann waren die Pflanzen dann weg gewesen.
Was schade war.
Fand Minna.
„Die tun nichts, die wollen nur spielen.“
Ich denke an unseren Sohn.
Ein paar dieser Kriterien treffen auch auf ihn zu.
Ein Amoklauf?
Im Leben nicht.
Er ist offen, hilfsbereit, herzlich.
Bis auf manchmal.
Wenn er beim Zocken seine Mitstreiter übers Headset anbrüllte, weil die ihm seinen Angriff versaut hatten.
Oder sonst irgendwie nicht richtig funktionierten.
„Da gehört mehr dazu. Hass. Woher auch immer der kommen mag, das Gefühl, vom Leben betrogen worden zu sein - weiß der Himmel, was.“
Der Amokläufer von München soll sich ein Jahr lang auf die Tat vorbereitet haben. Auch nach Winnenden, wo es 2009 einen Amoklauf gegeben hatte, soll er gefahren sein. Er hatte sich vor Ort ein Bild davon machen wollen, was damals passiert war.
„Stell dir vor, die Presse, die Medien, egal ob soziale Medien oder andere, würden diese Taten einfach nicht zur Kenntnis nehmen. Die Täter hätten keine Publicity, die Bevölkerung also auch keine Angst, weil sie nicht wüsste, was da passiert.
Meinst du nicht, dass dann vielleicht auch weniger passieren würde? Wozu denn, wenn es niemand merkt?“
Minna macht ihre Augen wieder auf.
Sie hat keine Angst.
Sie liest aber auch keine Zeitungen.
Sie kann auch gar nicht lesen. Schildkröten haben andere Fähigkeiten.
„Vielleicht hast du Recht, aber wenn man die Menschen nicht informiert, lässt man sie dann nicht einfach ins offene Messer rennen? Ist es nicht wichtig, zu erfahren, dass es gerade keine gute Idee ist, zum Beispiel ins Olympia-Einkaufszentrum in München zu fahren, wenn man überleben will?“
„Vielleicht würde es ja auch reichen, wenn man die Leute nur ein bisschen informieren würde. Man könnte beispielsweise sagen, dass da gerade jemand zusammengebrochen ist, oder man würde sagen ‘Meidet die Gegend, da gibt es Probleme’”.
Minna ist gegen Informationen. Dinge passierten oder passierten nicht. Egal, ob man es vorher wusste oder nicht.
„Und du glaubst, das würde irgend jemanden davon abhalten, da hin zu fahren, wo es ‘Probleme gegeben hat’ oder ‘jemand zusammengebrochen ist’? Nein, ich denke, einen triftigen Grund müsste man schon angeben, sonst zieht man doch womöglich eher noch Schaulustige an.“
Schaulustig, denkt Minna und lässt das Wort verwundert auf der Zunge zergehen. Was ist denn daran lustig?
„Ja, aber die Publicity, der Hype, der in den sozialen Medien darum gemacht wird, das ist doch genau das, was die IS-Anhänger unterstützt. Die Bevölkerung wird in mindestens zwei Gruppen gespalten. Niemand traut dem anderen. Es gibt wüste Beschimpfungen, Hass-Kommentare und Gewalt. Die Menschen haben Angst und reagieren wie weidwunde Raubtiere. Sie beißen um sich. Und wehren sich schon mal vorsichtshalber, bevor etwas passiert. Was dabei raus kommt, sind bürgerkriegsähnliche Zustände. Wie schön für den IS.“
„Und am Ende heißt es dann einfach pauschal: Der Islam ist schuld und alle Moslems werden erstmal unter Generalverdacht gestellt.“
Herr Gauland möchte keine muslimischen Flüchtlinge mehr aufnehmen und Herr Trump will die Grenzen sicherheitshalber für Deutsche und Franzosen auch gleich dicht machen.
Was von hier kommt, erscheint ihm nicht mehr vertrauenswürdig.
Oder die Juden. Oder die Polen, dachte Minna.
Denn sie lebt schon sehr lange und weiß mehr, als die Menschen ahnen.