Читать книгу Ausstand - Reiner Kotulla - Страница 15
Zwölf
ОглавлениеJonas Bogner absolvierte wieder einmal seinen, ihm schon zu einer lieben Gewohnheit gewordenen, Spaziergang rund um die Halbinsel. Den Weg vorbei bei den Wieglers und Hallers nahm er seit dem letzten Besuch dort nicht mehr.
In der Bucht, die er die „Seine“ nannte, der üblich Halt, schwimmen und sonnen.
Auf dem Weg zu seiner Unterkunft machte er einen Plan, womit er sich heute beschäftigen würde. Eine umfassende Antwort auf die Frage wollte er finden, warum sich die industrielle Revolution in England, Frankreich und in den Deutschen Staaten zeitlich unterschiedlich entwickelt hatte. Im Tal der Lahn über einhundert Jahre später als in England.
Dass sie nicht mit der Erfindung der Dampfmaschine einsetzte, war ihm schon klar, dass es etwas mit dem Wechselverhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Markt zu tun hatte, dass eine Steigerung der Arbeitsproduktivität notwendig geworden war und so weiter.
Der Innenhof war zu seinem bevorzugten Arbeitsplatz geworden, ruhig, schattig, nicht zu warm und nicht zu kalt. Nach zwei Stunden intensiven Lernens ließ seine Konzentrationsfähigkeit nach.
Immer öfter schweiften meine Gedanken in eine andere Richtung, in die Vergangenheit: unsere erste Nacht in meiner Wohnung. Wir trafen uns in „unserer“ Kneipe, wie wir das Lokal am Schillerplatz bald nannten, wo wir uns kennengelernt hatten. Vera sprach von ihrem Mann, mit dem sie schon einige Jahre zusammen war. Dass sie nicht wusste, ob es noch Liebe war, was sie miteinander verband. An eine Trennung dachte sie jedoch nicht. Nun sei er oft beruflich unterwegs, und ihr fiele zu Hause die Decke auf den Kopf, weshalb sie hin und wieder um die Häuser zöge.
Ich war hingerissen, von der Art, wie sie sprach, von ihrer Mimik und Gestik, wie sie lachte.
Dann standen wir unschlüssig auf der Straße. „Machs gut, Jonas“, sagte sie, wandte sich um und ging. Kurz blickte ich ihr nach, ehe auch ich mich entfernte.
Noch keine einhundert Meter, da war sie neben mir, griff nach meiner Hand. In meiner Wohnung angekommen, zogen wir uns sofort bis auf Höschen oder Unterhose aus und stiegen in mein Bett. Wir küssten uns. Als ich versuchte, ihre Schenkel zu streicheln, hielt sie meine Hand fest und flüsterte: „Jonas bitte, noch nicht.“
Ich war zwar enttäuscht gewesen, doch das eine Wort ließ mich hoffen.
„Angenehm ist es hier“, sagte Vera Galina. Jonas Bogner hatte sie nicht kommen gehört, schreckte aus seinen Gedanken hoch.
„Wo waren Sie gerade?“
„Bei der industriellen Revolution“, log er.
„Dann will ich nicht weiter stören, bin auch, ehrlich gesagt, hundemüde.“ Sie verschwand in Nr.9 und schloss die Tür hinter sich ab.
Das kam ihm sonderbar vor. Sonst hatte sie sich immer erst zu ihm gesetzt, wenn sie von der Arbeit gekommen war. War sie heute nur abgespannt, oder hatte es vielleicht Ärger gegeben, sorgte er sich. Bald dachte er, sie schliefe schon.
Wieder in der Gegenwart, begann er erneut zu arbeiten: das Gesetz vom abnehmenden Bodenertragszuwachs. Kapitalistische Ökonomie, notwendiges Wissen, zum Verstehen eines möglichen Neuen.
Plötzlich glaubte er hinter der Tür etwas zu hören, undeutlich zunächst. Dann war er sich sicher – ein Schluchzen. Sofort war er versucht anzuklopfen, zögerte, vielleicht wollte sie nicht gestört werden. Doch es hörte nicht auf. Da klopfte er, zaghaft zuerst – keine Antwort. Nichts war mehr zu hören.
Schon wollte er sich wieder an den Tisch setzen, als sich ihre Tür einen Spalt weit öffnete.
„Ja?“
„Entschuldigen Sie bitte, ich wollte nicht stören – ist etwas passiert?“
Vera schob die Tür ganz auf, dass er erschrak ob ihres Gesichtsausdrucks. Sogleich ergriff es sie erneut, dass sie sich ihre Hände vors Gesicht hielt. Da konnte er nicht anders, nahm sie in seine Arme und wartete.
„Ich glaube, ich gebe ihn wieder auf, diesen Scheißjob. Alle sind sie gegen mich, geben mir die Schuld an der Misere.“
Langsam löste sie sich aus seiner Umarmung. „Haben Sie ein Taschentuch?“
Automatisch griff er in seine Hosentasche, zog ein großes Tuch hervor, hielt es ihr hin. Auf einmal lachte sie, immer noch unter Tränen, besah sich das Stofftuch.
„Dass es die immer noch gibt. Mein Vater trug immer ein solches bei sich.“
Wie befreit, begann auch er zu lachen.
„Meine Mutter hat immer, wenn ich aus dem Haus ging, gefragt: ‚Hast du auch ein sauberes Taschentuch eingesteckt?‘ Eine Angewohnheit, die mich an sie erinnert.“
Er war froh, Vera Galina ein wenig aufgeheitert zu haben.
„Wollen wir uns nicht setzen?“ Fürsorglich geleitete er sie zum nächstgelegenen Stuhl. „Ich glaube, ein Grappa täte uns beiden jetzt gut.“
„Einverstanden.“
Er beeilte sich, Flasche und Gläser herbeizuschaffen. Dann, als sich der erste Schluck gesetzte hatte, begann sie: „Ich habe es gleich gemerkt, dass mich die Alten nicht mögen. Richtig feindselig haben sie sich mir gegenüber verhalten. Und je mehr ich mir Mühe gab, meine Arbeit gut zu machen, desto schlimmer wurde es. Sara, eine Kollegin, war die Einzige, die meine Situation verstand, und ich freundete mich mit ihr an. Sara versuchte, zu vermitteln – vergebens. Mir berichtete sie, dass unter der neuen Leitung des Campingplatzes drastische Einsparungen vorgenommen worden waren. In der Verwaltung seien zu Saisonbeginn drei Kräfte weniger als im letzten Jahr angestellt worden. Ich war als Neue hinzugekommen. Das sei ein Trick der Geschäftsleitung: Neue Leute förderten den Konkurrenzkampf untereinander, verhinderten die Entstehung von Solidarität. Als dann die Chefs bemerkten, dass ich mich mit Sara gut verstand, haben sie sie entlassen. Das nehme ich an, möglicherweise stand sie auch schon vorher auf der Abschussliste.
Raffiniert war die offizielle Begründung: Ich arbeite so gut, schaffe für zwei. Alle sollten sich an mir ein Beispiel nehmen. Seitdem herrscht Zwietracht unter uns. Ständig warten sie darauf, dass ich einen Fehler mache, und dann rennt eine von ihnen zum Chef, schwärzt mich an. Hinzu kommt noch, dass alle Angestellten in diesem Jahr zweihundert Euro im Monat weniger bekommen, mit der Begründung, die Geschäfte liefen nicht so gut, wie man es sich erhofft hatte. Tatsächlich gibt es in dieser Saison weniger Anmeldungen als im letzten Jahr um diese Zeit. Schließlich wirft man mir vor, unbezahlten Überstunden zugestimmt zu haben. Dabei hat mich der Chef am ersten Tag lediglich gefragt, ob ich, gäbe es am Abend viele Neuzugänge, bereit wäre länger zu arbeiten. Das war für mich selbstverständlich.“
Jonas Bogner hatte sie nicht unterbrochen. Offensichtlich hatte es ihr gut getan, sich auszusprechen, denn plötzlich wirkte sie wie befreit.
„Ich hätte gern noch einen“, sagte sie, die Flasche schon in der Hand, wartete nicht auf seine Antwort, goss sich ein.
„Darf ich fragen, Vera, was Sie im Monat verdienen?“
„Eintausendzweihundert Euro.“
„Nicht gerade viel, nicht wahr. Und das für zwölf Monate?“
„Wo denken Sie hin. Ich habe einen Vertrag lediglich für vier Monate. Keine Ahnung, was danach ist. Auch da ist ein Trick dabei. Wenn man in der Saison sechs Monate angestellt war, bekommt man für den Rest des Jahres monatlich achtzig Prozent vom letzten Lohn. Deshalb machen sie jetzt nur noch Vier- oder Fünfmonatsverträge.“
„Das ist ja pure Ausbeutung“, entfuhr es Jonas Bogner wütend.
„Kann man sagen, ja.“
Er wollte sie nicht aufregen, beruhigte sich sogleich wieder.
„Und es gibt unter den Kolleginnen niemand, die Ihnen beisteht?“
„Ach, Jonas, es geht mir schon wieder besser, jetzt, da Sie mir zugehört haben.“
Er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte, fragte sie, ob sie denn heute schon etwas gegessen hätte.
„Ein paar Kekse zwischendurch.“
„Wie wär´s mit einer Pizza, wenn ich sie vom Restaurant hole?"
„Ich will Ihnen keine Umstände machen.“
„Machen Sie nicht, wo ich doch für mich auch eine geholt hätte“, sagte er nicht ganz die Wahrheit.
„Dann hätte ich gerne eine Pizza Toskana, mit viel Zwiebeln, wenn es geht.“
„Gut, die nehme ich auch.“
Sie stand auf: „Jetzt will ich mich mal ein wenig rekonstruieren“, meinte sie lächelnd und verschwand hinter der Tür von Nr.9. Er wollte ihr Zeit geben. Beeilte sich deshalb nicht. Unterwegs ging ihm alles noch einmal durch den Kopf.
Da hatte der Besitzer des Campingplatzes gewechselt. Die Käufer besaßen mehrere Campingplätze am Mittelmeer. Der hier war bisher seine letzte Erwerbung. Zu Saisonbeginn waren Unternehmensberater gekommen, deren Hauptaufgabe darin bestanden hatte, Möglichkeiten für Einsparungen zu erkunden. Die hatten sie beim Personal gefunden. Es wurde entlassen, wo es nur ging. Die neuen Herren schienen nur an einem interessiert zu sein, der Maximierung ihres Profits. Das natürlich auf Kosten der Angestellten, die sich dem gestiegenen Arbeitsdruck anpassen mussten. Da war es nicht ausgeblieben, dass sie ihren Frust untereinander abreagierten. Heute hieß das Opfer Vera Galina. Morgen würde es eine anderer sein.
Die Sache besaß für ihn Belegcharakter für das, was er gerade studierte. Tags darauf würde er ein weiteres anschauliches Beispiel für die Richtigkeit seiner Theorie bekommen. Sie sprachen, während sie aßen, nur über Nebensächlichkeiten, auch danach, und er sah ihr ihre Müdigkeit an.
„Ich glaube, ich gehe dann mal zu Bett …“
Plötzlich ertönte das markerschütternde Signal eines Rettungswagens, zuerst von oberhalb des Campingplatzes, dann immer näherkommend.
„Auch du lieber Gott, was ist denn da passiert? Ich muss ins Büro, ich habe Bereitschaftsdienst.“
Jegliche Müdigkeit schien von ihr abgefallen zu sein. Hastig ergriff sie ihre Jacke und war im nächsten Augenblick in der Dunkelheit verschwunden. Jonas Bogner beseitigte die Spuren ihres Abendessens, blieb auf der Terrasse, fragte sich kurz, was geschehen sein mochte. Nachschauen wollte er auf gar keinen Fall. Er hasste die Gaffer, die sich an Unfallorten versammeln, um sich am Unglück anderer zu ergötzen. Müde war er eigentlich nicht. Auf der Terrasse war es noch angenehm warm. Er holte seine Unterlagen, um noch ein wenig daran zu arbeiten. Auf einmal packte ihn eine innere Unruhe. Ein Blick auf seine Armbanduhr, eine Rolex, die er vor ein paar Tagen einem senegalesischen Händler abgekauft hatte, zeigte ihm, dass Vera Galina schon zwei Stunden weg war. Also musste es sich um ein größeres Unglück handeln. Inzwischen war noch ein Fahrzeug mit einer anderen Sirene zu hören gewesen. Feuerwehr oder Polizei vielleicht? Und doch nahm er sich vor, hier auf Vera Galina zu warten. Er legte sich auf sein Bett, ließ die Tür zum Atrium offen, um zu hören, wenn sie zurückkam.
Bald vernahm er ihre Schritte auf der Treppe zur Terrasse. Er sprang aus dem Bett, sah sie erwartungsvoll an.
„Jetzt brauche ich einen Grappa“, seufzte sie und setzte sich an den Tisch.
Er kam ihrem Wunsch nach, goss sich auch einen ein und setzte sich zu ihr – wartete.
„Eine Tragödie, Jonas, Maria Wiegler hat ihren Mann erstochen.“
„Wie das?“, fragte er erschrocken.
„Der Sohn von Maria und Josef, Torben, hat seinen Vater heimlich mit dieser Jennifer Haller beobachtet und nichts Eiligeres zu tun gehabt, als seiner Mutter darüber zu berichten. Mit einem spitzen Küchenmesser hat sie fünfmal auf ihn eingestochen. Jede Hilfe kam zu spät. Der Polizei gegenüber hat sie ein Geständnis abgelegt, ich habe übersetzen müssen.
Da hatte ich meine Geschichte, und Vera Galina konnte mir sicher noch mehr erzählen. Ich fragte nach.
„Sie hätten diese Frau hören sollen, die hatte alles geplant, schön länger.“
„Sie meinen, bereits als wir dort zu Gast waren?“
„Ganz sicher. Sie sagte zum Beispiel: „Mir war das von Anfang an klar.“
„Und warum hat sie dann vorher nichts unternommen?“
„Sie sagte, für mich völlig unverständlich: ‚Wenn Torben nichts gesagt hätte, hätte ich es noch nicht getan.‘“
„Sie sagten doch gerade, Maria Wiegler hätte alles schon länger geplant. Ist das nicht ein Widerspruch?“
„Nein, Jonas, beachten Sie das eine Wort: 'noch'.“
„Und wie reagierten die Hallers?“
„Die sind sofort abgereist, waren nicht Zeuge des Mordes gewesen. Deshalb hat man sie auch fahren gelassen. Die Frau Haller soll, als sie von der Tat erfuhr, geäußert haben: ‚so eine blöde Kuh.‘“