Читать книгу Ausstand - Reiner Kotulla - Страница 4
Eins
ОглавлениеWie wird man Historiker, hatte er sich unlängst gefragt, nachdem sich für ihn so manches geändert hatte. Und er war frei, endlich. Vera war – aber das war eine andere Geschichte. Die neue Freiheit hatte er seiner Lieblingstante zu verdanken. Die war gestorben, nach kurzer schwerer Krankheit, wie es in der Todesanzeige hieß, die er selbst verfasst hatte. Solche Anzeigen haben ihn bisher überhaupt nicht interessiert. Diese Seiten der Regionalzeitung überblätterte er stets.
Er wusste, dass es Leser gab, die sie mit großem Interesse verfolgten, und das waren nicht nur die Älteren. Die lasen sie meist, um zu schauen, ob sie womöglich möglich bald an der Reihe seien, oder um zu erfahren, wer von den Ihren gegangen war.
Warum junge Leute Todesanzeigen lasen, war ihm bisher verschlossen geblieben. Die seiner Tante würde auf alle Fälle Erstere interessieren. In Wetzlar gab es sicher eine ganze Reihe Zeitgenossen, die Margarete Wiener gekannt hatten.
In der Sandgasse, oberhalb vom Eisenmarkt, hatte sie zwei Häuser besessen, die nun ihm gehörten. Ein Rechtsanwalt, ein Zahnarzt und ein Steuerberater hatten hier ihre Kanzlei, Praxis oder Büro und Wohnung. Alle drei alteingesessen mit sicherer Kundschaft, Patienten oder Klientenschaft.
Margarete, die Tante, hatte rechtzeitig restaurieren und renovieren lassen, Zentralheizung, Fahrstuhl und Dachterrasse. Reparaturen oder Renovierungsarbeiten standen zurzeit nicht an, sodass er von den Mieteinnahmen gut leben konnte.
Diese, seine gewonnene materielle Freiheit, erneuerte für ihn die Frage, die er sich schon öfter gestellt hatte: Wie wird man Historiker? Er wusste, dass dieser Beruf in der heutigen Zeit als eine brotlose Kunst galt. Aber wie gesagt, die Mieteinnahmen zweier Häuser …
Ein Freund, Archäologe, hatte ihm empfohlen, sich an der Uni einzuschreiben. Es gäbe da Studiengänge für Leute, die keinen Abschluss erwerben wollten, Senioren meist, die noch einmal etwas Neues beginnen wollten. Als ein solcher fühlte er sich allerdings noch nicht.
In Erwartung des üblicherweise unwirtlichen Februars im hessischen Wetzlar hatte er sich in die Toskana verzogen, nach Arezzo. In der Nähe der Piazza San Francesco war er in einem kleinen Hotel untergekommen. Hier wollte er bis Ende April bleiben, um dann den Frühling zu Hause zu genießen.
Er schrieb eigentlich gerne in Gesellschaft, Gespräche an Nachbartischen hörend aber nicht verstehend. Gerade wurde er bei seinen Aufzeichnungen unterbrochen, als eine Gruppe italienischer Seniorinnen und Senioren über die Terrasse herfiel. Dieses Spektakel allerdings, was die Alten hier inszenierten, ließ ihn keine klaren Gedanken mehr fassen. Deshalb verließ er fluchtartig den vormals so gemütlichen Ort.
Der Name des Cafés, auf dessen Terrasse er gerade noch gearbeitet hatte, erinnerte an den Titel eines Films, der hier vor Jahren gedreht worden war: „La Vita e Bella, das Leben ist schön“. Wenn er sich richtig erinnerte, geht es in der Geschichte um einen Vater, der seinem kleinen Sohn das Leben in einem faschistischen Konzentrationslager so schön wie möglich gestalten möchte.
Jetzt beschloss er, einen Spaziergang durch das interessante historische Zentrum dieser Stadt zu machen. Dabei setzte er in Gedanken fort, was ihm vor dem Überfall der Alten durch den Kopf gegangen war, um es später, in seinem Zimmer aufzuschreiben. Er hatte sich also entschlossen, sowohl ein Gaststudium der Geschichte an der Gießener Uni aufzunehmen, als auch sich das nötige Wissen im Bedarfsfalle anzulesen. Für einen „gelernten" Historiker mochte das überheblich klingen, doch woraus besteht ein Studium, wenn nicht aus Hören, Lesen und Anwenden von Wissen.
Vor Kurzem hatte er den berühmten Bergarbeiterroman von Emile Zola, Germinal, gelesen, was ihn auf die Idee gebracht hatte, im Tal der Lahn zu forschen. Denn hier war schon in grauer Vorzeit Eisenerz gefördert worden, zuerst im Übertageabbau und später auch tief unten im Gestein.
Etwa um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert wollte er die Geschichte ansiedeln, die auch eine tragische Liebe beinhalten sollte, eine, wie er sie selbst erlebt hatte. Erlebt, erduldet, erlitten, erhofft, erfahren, ja, was auch immer.
In seinem ersten Leben, so bezeichnete er die Zeit vor Vera Dauer, war er Journalist gewesen, besser Artikelschreiber, bei einer regionalen Zeitung. Dort bestand seine Aufgabe zum Beispiel darin, neunzigjährige Bewohner der zum Leserbereich gehörenden Ortschaften aufzusuchen und sie nach besonderen Ereignissen in ihrem Leben zu befragen.
Immer wieder hörte er sich ähnliche Geschichten an: Frauen, die von ihren Kindern, Enkelkindern und Urenkeln erzählten, und Männer, die ihre „besten Jahre" in Frankreich, Norwegen, Afrika, Kroatien oder Russland verbracht hatten. Ja, sie waren herumgekommen, hatten sich durchgeschlagen im wahrsten Sinne des Wortes, bei El Alamein, am Nordkap oder in Stalingrad. Einer hatte in seiner Gegenwart zu singen begonnen: „Ob´s stürmt oder schneit, ob die Sonne uns lacht, der Tag glühend heiß oder eiskalt die Nacht“, vom Panzer der vielen zum „ehernen Grab” geworden war. Doch der Sänger hatte überlebt, war heimgekehrt ins Egerland und hatte dort vergeblich nach seinen Angehörigen gesucht, bis er von einem Kommunisten, der hatte dableiben dürfen, erfahren musste, dass man sie davongejagt hatte, die „Henlein-Faschisten“, zurecht, wie der Mann betonte. Und er, der „Naziheimkehrer“ sollte am besten auch gleich verschwinden, nach Deutschland, von wo aus das Jahrhundertverbrechen seinen Lauf genommen hatte.
„Dieses Kommunistenschwein“, meinte der Jubilar, sei dann '68 von den tschechischen Freiheitskämpfern zurecht aufgehängt worden, hätte ihm ein „alter Kammrad“ damals geschrieben.
Er aber hätte seine Familie in Braunfels wiedergefunden, sei bald der Egerländer Gmoi beigetreten. Jahrelang hätten sie gehofft, in die alte Heimat zurückkehren zu können. Aber die sei ja von den Sozis ohne Gegenleistung verschenkt worden.
An dieser Stelle bat Jonas Bogner den Opa um ein Bild aus guten Tagen. Der kramte in einem alten Schuhkarton und förderte schließlich ein Bild zutage, das ihn als Gefreiten in der Wehrmachtsuniform zeigte.
Aus dem Gehörten formulierte er dann einen Neunhundertzeichenartikel und hatte dabei große Mühe, die Lebensweisheiten des alten Mannes zu verschweigen.
Dann war da noch das diamantene Hochzeitspaar aus Leun. Diesmal war die Frau berufen, zu berichten. Sie schwadronierte über ihre schöne Zeit beim „Bund deutscher Mädel“, zeigte ihm das Mutterkreuz, auf das sie heute noch stolz sei. Und wieder hatte er den Neunhundertzeichenartikel geschrieben. Und dazu das Hochzeitsfoto, das sie im schwarzen Kostüm und ihn in der Unteroffiziersuniform zeigte. Im Vergleich zu diesen Berichten empfand er solche über die Jahreshauptversammlung eines Kleintierzüchtervereins noch als angenehm.
Nach dem Tod seiner Erbtante und einem anderen tiefen Einschnitt in sein Leben hatte er diese Tätigkeit aufgegeben, war in eines der geerbten Häuser gezogen: drei Zimmer, Küche, Bad, mit einer kleinen Dachterrasse im obersten Stockwerk, inklusive der Aussicht auf Dächer der Wetzlarer Altstadt. Verregnet zurzeit, weshalb er geflüchtet war.