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Vierzehn

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Ein Bahnhof am Meer. Jonas Bogner stand am Hafen von Arbatax und blickte mit halb geöffneten Augen auf den Zug. Das Gefährt war alt, wirkte leicht schäbig und klapprig. Er wunderte sich über den Zug, der zu Hause schon längst im Museum stehen würde. Der „Trenino Verde“ wirkte tatsächlich wie ein Ausstellungsstück, und er hoffte, dass der Zug das Vorhaben, in die Berge zu klettern, überhaupt schaffte.

Aber Jonas wollte ja unbedingt. Warum eigentlich? Vera Galina hatte ihm den Ausflug empfohlen. Und kaum saß er, und kaum ertönte das erste laute Pfeifen der Lok, begann alles großartig zu werden!

Die kleine Bahn versprühte den nostalgischen Charme der Wildwestzeit. Der Zug schnaufte und kletterte im Schneckentempo den Berg hinauf von Arbatax am Meer auf Normalnull bis nach Seui in den sardischen Bergen auf 820 Metern über dem Meer. Er hätte noch bis Mandas fahren oder an einem beliebigen anderen Bahnhof aussteigen können. Ihm reichte das Erlebnis von null auf Berg.

Die Bremsen quietschten und das Signalpfeifen vor jeder Kurve und jedem Tunnel war so laut, dass bald auch der letzte Fahrgast wach war. Der Tag hatte früh begonnen, als die Temperaturen noch erträglich waren.

An der Wand entdeckte er ein Schild, das für Schwarzfahren 1.000 bis 10.000 Lire Strafe ankündigte. Viele kleine Details im Zug und an der Strecke, die aus früheren Zeiten stammten, zauberten ihm ein Lächeln aufs Gesicht.

Während seine eigenen Kindheitsträume wach wurden, schien das Abenteuer Zug für Kinder von heute keines mehr zu sein – Lokomotivführer wollte von den mitreisenden Kindern hier sicher keines mehr werden.

Er rieb sich die Augen und genoss den sagenhaften Ausblick vom Berg ans Meer und in die Täler der Ogliastra. Aus dem offenen Fenster gelehnt bestaunte er die schönen kleinen Bahnhöfe, hörte das Pfeifen bei den Bahnübergängen, die noch von Hand geschlossen und geöffnet wurden.

In Azara, auf 800 Metern, ließ die heiße Sonne endgültig Wildwest-Feeling aufkommen. Inmitten der Landschaft – ein Arrangement aus Nadelbäumen, einem ausgetrockneten Flussbett, einer frei grasenden Kuhherde auf einer prärieartigen Wiese und verrotteten Waggons eines uralten Zuges – wurden Erinnerungen an Winnetou und Old Shatterhand wach.

Es ging vorbei an Weinhängen und über schöne Brücken aus Stein, sie passierten Wachhäuschen und Spuren ehemaliger Besiedelung, Wege, über die er auch gern gewandert oder mit dem Mountainbike gefahren wäre.

Tatsächlich stiegen irgendwann zwei Mountainbiker mit ihren Rädern aus. Sie waren von Arbatax mit hier hochgefahren, machten jetzt sicher eine Tour im Schatten der Wälder und hatten dann eine tolle Abfahrt ans Meer vor sich.

Eine himmlische Ruhe umfing ihn an seinem Zielbahnhof in Seui, wo der Trenino mit zwanzig Minuten Verspätung ankam. Aber es störte ihn nicht. Hatte er doch keine Termine.

Hier wollte er eine Zeit lang verweilen und dann weiter gen Süden fahren. Das kleine Dorf wirkte ähnlich ausgestorben wie einige Landstriche zuvor. Am Abend hoffte er, an einer Bar ein kühles Ichnusa trinken zu können.

Er erinnerte sich daran, dass ihm Vera Galina eine Sage über die Entstehung Sardiniens erzählt hatte. Danach hätte der Schöpfer der Welt am Ende seiner Arbeit noch einen Haufen Granitbrocken übrig gehabt. Nicht wissend, was damit anzufangen sei, hätte er seinen Fuß darauf gesetzt und den Berg von Steinen platt getreten, sodass der Abdruck seiner Fußsohle entstanden sei. Vom Meer umspült, eine schöne Insel, in der sardischen Sprache: Ichnusa, die Schuhsohle, wonach die Brauerei das Bier benannt hatte.

Doch die Pause reichte gerade mal für ein Glas Bier, denn wider Erwarten war das kleine Dorf vorbereitet: Vier zueinander gehörende Museen für fünf Euro pro Nase, das klang nach einem fairen Preis.

So schloss er sich einer Reisegruppe an. Der Guide zeigte ihnen alles, von der schönen Freske im Palazzo Liberty bis zu Kochgeschirr im Casa Farci. Sie erfuhren, dass der Philosoph, Literat und Gründer der sardischen Aktionspartei, Filiberto Farci, hier gelebt hatte.

Eine fast unglaubliche Geschichte fand sich im Palazzo Liberty: Hier hatte die Familie des Erfinders Augusto Bissiri gelebt – aus dessen Kopf das Prinzip der Television stammen soll. Er war 1906 in der Lage, eine Fotografie von einem Raum in einen anderen zu übertragen und 1917 schließlich von London nach New York. Nach Los Angeles ausgewandert, ließ er sich die Erfindung patentieren. Er gründete dort eine Siedlung, deren Straßen bis heute nach Flüssen und Bergen rund um sein Heimatdorf Seui benannt sind.

Das interessanteste Museum war ein altes spanisches Gefängnis, das sie sich für nach dem Mittagessen aufsparten. Denn zwischen dreizehn und fünfzehn Uhr war hier wirklich alles geschlossen. So liefen sie in dieser Zeit auf eigene Faust zur Mine “Fundu e Corongiu”, zwei Kilometer außerhalb, und machten dort ein kleines Picknick.

Später kehrten sie in einem der beiden Restaurants an der Hauptstraße ein – eines davon führte ein älteres sardisches Paar, beide sprachen Deutsch, hatten eine Zeit in Unna gelebt und freuten sich immer auf ein Schwätzchen über Sardinien, Deutschland und den “Grünzug”. Sie boten Jonas Bogner auch eine Übernachtungsmöglichkeit an.

Der Schinken zum Antipasto war großartig, die hausgemachten Culurgiones (eine Art dicke Ravioli mit einer Füllung aus Kartoffeln, Pecorino und Minze) waren noch fantastischer. Es stand frisch geriebener Käse und eine leichte Tomatensoße bereit. Dazu Bier oder Hauswein, anschließend trank man noch einen Kaffee in einer Bar.

Und dann rief ja noch das Gefängnis aus dem sechzehnten Jahrhundert – das wirklich sehenswert sei, so sagten die Wirtsleute. Das S’Omu de sa Maja, ein Haus, in dem es um religiöse Magie und vorchristliche Wunder geht, schafften sie nicht mehr, denn für die anderen war es wieder Zeit für die Rückfahrt nach Arbatax.

Wie es sich herausstellte, wollte außer ihm noch Mascha Rudow, eine jüngere Frau, so Mitte zwanzig schätzte er sie, weiter nach Süden. Sie hatte gefragt, ob sie sich ihm anschließen könne. So verabredeten sie sich darauf, am nächsten Morgen den Zug nach Mandas zu nehmen. Dort würde man dann weitersehen.

Der Trenino Verde ist eine tolle Sache, wenn man die Insel mal auf eine ganz andere Art erkunden möchte und ein schönes Kontrastprogramm zu Strand und Meer, dachte er, als er später in seinem Bett lag, die Beine angewinkelt, denn das Bett war seiner Zeit für kleinere Leute gezimmert worden.

Der Wirt weckte rechtzeitig, damit ihnen noch Zeit für ein „deutsches“ Frühstück blieb. Sich an ihre Zeit in Unna erinnernd servierten die Wirtsleute Mascha Rudow und ihm Brot, Butter, Wurst und Käse.

Welch ein Zufall, Mascha Rudow studierte Geschichte und Politik, im achten Semester. Da gab es Gesprächsstoff, nachdem er ihr von seinem Vorhaben, sich mit Historischem zu beschäftigen, berichtet hatte.

Während er sie eher verstohlen betrachtete, ertappte er sich bei dem Vorurteil, Studentinnen jener Fachrichtung sahen auch entsprechend aus: Kurzhaarschnitt und konservativ gekleidet. Zu grauen Jeans trug sie ein Sweatshirt, das ursprünglich einmal schwarz gewesen sein musste. Blaue Sportschuhe rundeten ihr Erscheinungsbild ab. Doch im Gegensatz zu ihrem Äußeren vertrat sie Ansichten, die ihm gefielen: „Glauben Sie ja nicht, ich sei der Meinung, dass die Industrialisierung durch die Erfindung der Dampfmaschine ausgelöst worden ist.“

Und sie lieferte eine Erklärung, für den in den einzelnen Ländern Europas zeitversetzten Aufbruch in den Kapitalismus:

Erfindungen werden immer erst dann genutzt, wenn es auf entsprechenden Gebieten eine größere Nachfrage nach Gütern oder Dienstleistungen gibt. So stieg in England früher als anderswo, durch die Abwanderung verarmter Bauern in die Städte, die Nachfrage nach industriell gefertigter Bekleidung. Es entstanden Spinnereien und Webereien, deren Maschinen mit Dampfkraft angetrieben wurden. Jetzt erst wurde die Dampfmaschine, die schon früher erfunden worden war, allgemein eingesetzt.

Je länger sie miteinander sprachen, sah er in ihrer gemeinsamen Reise einen Glücksfall, denn Mascha Rudow konnte ihm historische Zusammenhänge erklären, für deren Verständnis er viel Zeit an Selbststudien hätte aufbringen müssen. Sie erklärte ihm zum Beispiel die Theorie vom tendenziellen Fall der Profitrate und während sie sprach, gewann er von ihr ein völlig anderes Bild. Mimik und Gestik schienen überhaupt nicht zu ihrem Äußeren zu passen. Sie dozierte nicht, plauderte, als gäbe sie den Inhalt eines unterhaltsamen Spielfilms wieder. So verging ihm die Zeit bis zu ihrer Ankunft in Mandas wie im Fluge.

Schließlich standen sie am Ortsausgang des Städtchens am Straßenrand, versuchten einen Autofahrer zu bewegen, sie mitzunehmen.

„Entschuldigen Sie mich einen Moment“, sagte sie, als niemand ihrem Anliegen Folge leistete und verschwand, ihren Rucksack vom Rücken ziehend, in der Macchia, die sich beiderseits der Straße ausdehnte. In der Annahme, sie müsse mal, blickte Jonas Berger in Richtung Mandas, nach einem Kraftfahrzeug Ausschau haltend.

Erschrocken fuhr er herum, als ihm jemand eine Hand auf die Schulter legte, und traute seinen Augen nicht. Mascha Rudow in roten Shorts und schwarzem ärmellosen Shirt, barfuß.

„Leider“, meinte sie, als sie seinen ungläubigen Blick registrierte, „Pumps habe ich nicht dabei.“

Und tatsächlich, bald hielt ein Wagen etwa zehn Meter vor ihnen an der Straße in Richtung Villamar. Mascha Rudow lief zur Fahrerseite und er hörte sie in fließendem Italienisch fragen: „Können Sie uns mitnehmen, in die nächste Stadt?“ Was der Mann am Steuer sagte, konnte er nicht verstehen. Dann wandte sie sich zu ihm hin: „Er nimmt uns mit, bis nach Barumini.“ Mascha Rudow nahm neben dem Fahrer Platz, Jonas Bogner setzte sich in den Fond. Er hörte, was vorne gesprochen wurde, verstand allerdings kaum etwas.

Am Ortseingang von Barumini, an einer Tankstelle, stiegen sie aus. Der Fahrer wendete, winkte ihnen noch einmal zu, bevor er mit quietschenden Reifen anfuhr und in die Richtung, aus der sie gekommen waren, davonfuhr.

„Er hat mich zum Abendessen eingeladen“, meinte sie eher beiläufig.

„Und, haben Sie zugesagt?“

„Wo denken Sie hin? Waren wir denn nicht bereits dazu verabredet?“

Ausstand

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