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Zwei

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Es wurde Abend in Arezzo. Er fand ein Lokal, wurde an den letzten freien Tisch geleitet. Nach Spaghetti stand ihm der Sinn. Gerade hatte er die Bestellung aufgegeben, schaute gedankenverloren auf die Straße hinaus, als ihn ihre Stimme aufschreckte: „Ist der Platz noch frei?”

Im ersten Moment fühlte er sich gestört, doch als er hochschaute, in grünblaue Augen blickte, ihr Lächeln sah, machte er eine einladende Handbewegung, auf den Stuhl hin, ihm gegenüber.

Ein Tisch nur für zwei Personen. Wenn man sich da eine Zeit lang gegenübersitzt, entsteht eine unangenehme Situation, ähnlich einer solchen im Fahrstuhl: Zuerst schaut man an seinem Gegenüber vorbei an die Wand, dann ein kurzer, verstohlener Blick, und wenn es dann echt unangenehm wird, ist man hoffentlich im richtigen Stockwerk angekommen.

Doch diese Etage gab es hier nicht, so war die Frage, wer hält den Zustand am längsten aus?

Da räusperte sie sich, als hätte sie eine Sprachbarriere zu überwinden: „Sie sprechen Deutsch, nehme ich an?“

Eine gute Ausgangssituation.

„Ja, aber woraus schließen Sie das?“

„Sie sehen aus wie ein Deutscher.“

Eine weitere Steilvorlage.

„Woran erkennen Sie einen solchen?“

„Erwarten Sie jetzt eine Personencharakteristik des typischen Deutschen?“

„Ich glaube, den gibt es nicht.“

So hätte es weitergehen können, wenn die Frau ihm gegenüber nicht plötzlich gelacht hätte und auf seinen fragenden Gesichtsausdruck hin dem Bla Bla ein Ende gemacht hätte.

„Genug gefloskelt, was hat Sie hier hergetrieben?“

„Wenn ich ehrlich bin, das Wetter und eine Gelenkstelle, die sich für mich ergeben hat.“

Kaum dass er es heraushatte, wurde er sich bewusst, dass das eine Erklärung verlangende Gegenfrage zur Folge haben würde. Die kam auch prompt: „Wie darf ich das verstehen – ich meine nicht das Wetter.“

„Ganz einfach, ich beginne gerade ein neues Leben, treibe historische Studien auch in der Absicht, mein altes Leben zu beschreiben.“

Wenn sie jetzt oberflächlich reagierte, nahm er sich vor, esse ich meine Spaghetti, trinke den Vermentino, bezahle und gehe mit den Worten: Ich will denn mal. Und sie reagierte, dass es ihm gefiel. „Ah ja?!" Jetzt war er an der Reihe: „Und Sie?"

„Nicht wegen des Wetters, wohl aber auch, um irgendwo neu anzufangen.“

„Interessant, dann haben wir ja Ähnliches im Sinn.“

Eine Weile schwiegen sie beide. Jonas Bogner wartete mit dem Bezahlen, bis auch sie fertig gegessen hatte.

Schließlich standen sie auf der Straße.

„Ja dann, war nett, Sie getroffen zu haben“, eröffnete sie den Abschied.

„Danke ebenso“, sagte er, meinte aber anderes.

Die klassische Szene, er nach rechts, die Straße hinunter, sie nach links, bergan.

Doch nichts dergleichen, beide liefen sie bergan, hatten, wie sich herausstellen sollte, dasselbe Ziel, wohnten im gleichen Hotel. Da war es selbstverständlich, nach einer Fortsetzung des Gesprächs zu fragen. Sie verabredeten, dass sie sich an der Hotelbar treffen wollten. Immer noch hatten sie sich einander nicht vorgestellt.

Jonas Bogner schätzte die Frau um die vierzig. Halblanges dunkles Haar, ungewöhnlich für ihre hellen blaugrünen Augen. Ein hübsches Gesicht, mit leicht asiatischem Einschlag. Er kam zuerst in die kleine Hotelbar, setzte sich an einen der wenigen Tische in der Ecke und wartete. Man kennt die Einstellung aus zahlreichen Filmen. Eine Person betritt den Raum. Der Wartende blickt kurz auf und sogleich wieder anderswohin. Er stutzte, Blick zurück, tatsächlich, sie war es.

Die Frau trug jetzt einen dunkelblauen, engen Rock, der ihr bis kurz über die Knie reichte. Dunkelblaue, taillierte Kostümjacke über einem schwarzen Shirt.

Sie lächelte ihn an, schien seine Überraschung zu ignorieren. „Wir treffen uns, wissen jedoch wenig voneinander, kennen jedoch nicht unsere Namen. Ich bin Vera Galina, einundvierzig Jahre alt, auf dem Weg nach Sardinien, wo ich ein neues Leben beginnen möchte.“

Vera, durchfuhr es ihn. Zunächst war er zu keiner Reaktion fähig. Doch die Andere war blond gewesen und zehn Jahre jünger. Jetzt hatte er sich gefasst und stellte sich ihr ebenfalls vor: „Jonas Bogner, fünfzig Jahre alt und wie Sie auf dem Weg, noch keine Ahnung wohin. Irgendwann zurück nach Wetzlar, eine Stadt in Mittelhessen, in der Nähe von Frankfurt am Main …“

„Ich kenne Wetzlar“, und nach einer Pause: „Er kam daher.“

„Da haben wir etwas gemeinsam. Auch sie kam daher.“

Er fragte, was sie nach Sardinen führe.

„Ich bin gelernte Reisekauffrau. Da habe ich mich um Anstellung auf einem Campingplatz beworben, mit Erfolg.“

„Was macht man als Reisekauffrau auf einem Campingplatz?“

„Sie haben jemanden aus der Touristikbranche gesucht, der Deutsch und Italienisch sprechen und schreiben kann. Ich habe mich auch beworben, um möglichst weit wegzukommen. Sie wissen, von meinem Leben zuvor.“

Er kannte Sardinien bisher eigentlich nur dem Namen nach, als eine Insel neben Korsika. Dort war er einmal gewesen.

Warum er nach dem Ort ihrer Anstellung fragte, wusste er nicht.

„Im Norden, in der Gallura, wenn Ihnen das etwas sagt?“

Sage ihm nichts, gestand er, und erzählte von seinem Korsika-Urlaub. Kleines Zelt und Rucksack. Vierzehn Tage sei er gewandert, von Nord nach Süd, eine schöne Zeit, ungebunden, ohne Ziel.

„Das klingt“, meinte Vera Galina, „als trauerten Sie dieser Zeit nach?“

„Nein, trauern ist nicht das richtige Wort. Es war schön, aber noch einmal erleben, vor allen Dingen das, was danach kam, möchte ich nicht.“

Vera Galina schaute ihn eine Zeit lang an, schien über seine Worte nachzudenken. Dann lächelte sie und sagte, auch für sie gäbe es ein Davor und ein Danach.

Jonas Bogner war überrascht. Sollte er so leicht zu durchschauen gewesen sein?

„Ihre Menschenkenntnis, Vera, erstaunt mich.“ Er hätte ihn weglassen können, aber er wollte ihn aussprechen, den Namen, den er so oft in Gedanken sagte. Dann, wenn er irgendwo stand, die Himmelsrichtung bestimmend, wo er sie vermutete und mit ihr sprach.

„Manche Leute erzählen viel, wenn sie eine Reise buchen, auch über den Grund, warum sie wohin fahren. Da erfährt man einiges. Ein Mann erzählte mir, dass er noch einmal dorthin wollte, wo er so glücklich gewesen war.“

„Aber warum, ohne die Frau, mit der er dort war?“

„Vielleicht, weil er sie dort neben sich glauben wollte.“

Jetzt hätte er sagen können, dass er das nachempfinden könnte, ließ es aber bleiben. Warum auch sollte er einer wildfremden Frau von seinem Trennungsschmerz erzählen.

„Sardinien, hat mal jemand gesagt, sei eine wilde Schönheit.“

„Das habe ich auch gehört, und bin echt gespannt. Gelesen habe ich einiges.“

Sie berichtete und es klang so, als sei sie schon einmal dort gewesen, als freute sie sich auf ein neues Leben dort. Ein wenig beneidete er sie darum, sagte, dass er sich für sie freue und hoffte, selbst auch bald so weit zu sein.

Ob er das nur gedanklich oder auch räumlich meine, fragte sie. Vielleicht ergäbe sich das eine aus dem andern, sinnierte er. Sie sah ihn eine Zeit lang an, sodass er ihr Schweigen als ein Ende des Gesprächs deutete, zumal Vera Galina verstohlen auf ihre Armbanduhr schielte. Er wollte ihr zuvorkommen und sich von ihr verabschieden, als sie einen Entschluss gefasst zu haben schien: „Wenn Sie in Wetzlar niemand vermisst, dann kommen Sie doch einfach mit. Ob Sie nun hier auf den Sommer zu Hause warten, oder dort, wo er bereits Einzug gehalten hat.“

Das hatte er nun überhaupt nicht erwartet, was sie ihm anmerkte, und fügte hastig hinzu: „Entschuldigung, ich war gerade nur so einer spontanen Eingebung gefolgt. Auf gar keinen Fall möchte ich Sie bedrängen.“

„Ich möchte darüber nachdenken.“

„Ja, dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht.“

Eilig fast erhob sie sich, nickte ihm noch einmal zu, bevor sie sich abwandte. Das hatte für ihn den Anschein, als sei ihr ihr Angebot auf einmal peinlich.

„Gute Nacht ebenfalls“, rief er ihr noch nach. Im Gehen erhob sie eine Hand, winkte, ohne sich noch einmal umzuwenden.

Später, er konnte nicht einschlafen, kam ihm das Ganze unwirklich vor. Doch es war wirklich so abgelaufen: Sie hatten sich zuerst allgemein unterhalten, hatten sich über ihre gegenwärtige Lage ausgetauscht, bis sie ihm jenen denkwürdigen Vorschlag gemacht hatte, sie nach Sardinien zu begleiten. Dorthin, wo jetzt schon der Sommer Einzug hielt.

Er überdachte seine Lage. Seine Einkünfte waren gesichert, solange der Anwalt, der Zahnarzt und der Steuerberater ihre Miete bezahlten. Er war telefonisch und per E-Mail erreichbar, für den Fall, dass er als Hauseigentümer hätte handeln müssen. Bei einem Kleinunternehmer – „Alles rund ums Haus"– war er unter Vertrag. Auch da genügte ein Anruf, etwas in die Wege zu leiten.

Ich werde ihren Vorschlag annehmen, entschloss er sich. Für neun Uhr am Morgen waren sie zum Frühstücken verabredet, da würde er es ihr sagen. Zufrieden mit diesem Entschluss schlief er ein.

Bereits um Viertel vor neun fand er sich im Frühstücksraum des Hotels ein, konnte es plötzlich kaum erwarten, Vera Galina seinen Entschluss mitzuteilen.

Neun, Viertel nach neun, halb zehn. Sie kam nicht. Vielleicht hat sie verschlafen, dachte er, lief zur Rezeption, bat die Angestellte, Frau Galina auf ihrem Zimmer anzurufen.

Die Frau stutzte kurz, wandte sich zum Schlüsselregal um, zog aus einem der Fächer ein Kuvert hervor, fragte ihn nach seinem Namen und überreichte es ihm mit dem Hinweis: „Die Signora hat mich gebeten, Ihnen das zu übergeben, bevor sie abgereist ist.“

Ausstand

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