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Byblis und Kaunos

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Bevor wir Kreta verlassen, ist noch von der Minostochter Akakallis zu berichten, die von Apollon verführt, einem Knaben das Leben schenkte, aber ihn aus Angst vor ihrem Vater aussetzte. Wölfe nährten Miletos, und Hirten zogen ihn auf. Der Herangewachsene war von solcher Schönheit, dass Sarpedon und Minos dem Jüngling nachstellten. Miletos entschied sich für Sarpedon, und beide entflohen Kreta. Wir berichteten bereits, dass Sarpedon sich nach Lykien wandte, Miletos aber zog nach Karien, wo er Kyanee, eine Tochter des Flussgottes Maiander, heiratete und die nach ihm benannte Stadt gründete. In historischer Zeit kamen aus der berühmten Stadt Milet nicht nur die Philosophen Anaximander und Anaximenes, sondern auch Thales, dessen Satz über rechtwinklige Dreiecke noch heute als Satz des Thales gilt.

In Milet wuchsen Byblis und Kaunos, Kinder des Miletos und der Kyanee, auf. Byblis liebte ihren Bruder nicht, wie es einer Schwester geziemen sollte. Anfangs erkannte sie nicht, welches Feuer in ihr brannte, hielt es für geschwisterliche Zuneigung, wenn sie öfter Küsse tauschte oder Kaunos mehr und mehr umhalste. Noch war sie sich dessen nicht bewusst, doch im Inneren glühte sie, ließ sich schon lieber »Byblis« statt »Schwester« nennen. Aber im Traume sah sie, was sie sich wach nicht eingestand, wie sich ihr Leib mit dem des Bruders vereinigte.

»Weh mir«, dachte sie, »warum sah ich nur diesen Traum? Wenn ich derlei zu begehen nur nicht im Wachen versuche, so darf mir der Schlaf noch oft solche Bilder gönnen. Welche Wollust wurde mir zuteil! Dürfte den Namen ich wechseln und mich so mit dir verbinden. Schönster, du darfst mir nur Bruder bleiben. Aber haben die Götter nicht selbst ihre Schwestern besessen? Wenn mir auch Scham den Mund verschließt, ein geheimer Brief wird ihm meine verborgene Glut enthüllen.«

So fasste Byblis mit der Rechten den Griffel, mit der Linken die leere Fläche des Wachses. Und sie begann, hielt ein; sie schrieb, verwarf ihre Zeilen, zeichnete und tilgte, veränderte, schalt, lobte, legte die Tafel ab und nahm sie von neuem wieder auf. Endlich beendete sie den Brief, rief einen Diener herbei und befahl:

»Bringe dies meinem –«, sagte erst nach einiger Zeit »–Bruder«.

Als sie die Tafel übergeben wollte, fiel diese zu Boden. Obwohl das Siegel gebrochen war, sandte Byblis dennoch den Bediensteten, der den Brief Kaunos aushändigte. Nachdem der die Nachricht halb gelesen hatte, schrie er den Diener an:

»Scher dich fort, verruchter Bote, solange noch Zeit bleibt! Du hättest schon längst mit deinem Leben gebüßt, wenn dein Tod nicht unsere Schande offenbarte.«

Als der Diener die Worte des Kaunos überbracht hatte, erbleichte und erbebte Byblis. Doch mit ihrer Besinnung kehrte auch ihr Wahn zurück, und sie sprach zu sich selbst:

»Warum habe ich nur übereilt der Tafel diese Worte anvertraut? Ich hätte zuvor erforschen sollen, wie er gesonnen ist. Warnte nicht eine Gottheit mich, als die Tafel zu Boden fiel? Doch was ich getan, kann ich nun nicht mehr widerrufen. Jetzt gilt es durchzuhalten, denn wenn ich nun ablasse, wird es nur als brünstiges Verlangen abgetan.«

Byblis kannte kein Maß und ließ sich noch oft zurückweisen. Da kein Ende abzusehen war, floh Kaunos vor dem blutschänderischen Verlangen und gründete die nach ihm benannte Stadt Kaunos in Karien. Die Hoffnungslose verließ ebenfalls Milet und begab sich auf die Spur des geflüchteten Bruders. Ihr Ende ist umstritten. Entweder erhängte sie sich selbst, oder sie wurde infolge ihrer unstillbaren Tränen zu einer Quelle. Manche halten sie auch für die Namensgeberin der phönizischen Stadt Byblis.

Griechische Götter- und Heldensagen. Nach den Quellen neu erzählt

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