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2.3.3 Land-Stadt-Wanderung und Verstädterung
Оглавление2.3.3.1 Land-Stadt-Wanderung
Migration in der Agrargesellschaft
Bevölkerungsbewegungen aus ländlichen Räumen in die Städte gehören zu den wichtigsten und seit alters beobachteten Wanderungsprozessen. Bereits in vorindustrieller Zeit beruhte in Europa jegliches stärkere Bevölkerungswachstum der Städte in aller Regel zu einem ganz erheblichen Teil auf der Zuwanderung von Landbewohnern. Hauptursachen waren einerseits „push“-Faktoren in den Dörfern, wie z. B. Übervölkerung ländlicher Räume mit unzureichenden Erwerbs- und Ernährungsmöglichkeiten oder unerträgliche Steuer- und Abgabenlast durch die Grundherren, andererseits „pull“-Faktoren der Städte: erhoffte rechtliche Besserstellung („Stadtluft macht frei“), größere Chancen sozialen Aufstiegs, Ausbildungs- und berufliche Möglichkeiten u. Ä. Meist liegt eine Erklärung für derartige Migrationsprozesse in einer Kombination beider Faktorengruppen: ländliche „Abstoßung“ und städtische „Anziehung“. Die Zuwanderung in die Städte war zwar häufig strengen Restriktionen unterworfen, die z. T. nur nach starken Bevölkerungsverlusten durch Kriege, Seuchen u. a. gelockert wurden, doch kann für die agrargesellschaftliche Zeit in Europa von einer relativ starken Land-Stadt-Migration ausgegangen werden.
Migration in der Industriegesellschaft
Eine noch wesentlich wichtigere Rolle spielte die zentripetal auf die Städte gerichtete Wanderung im Zeitalter der Industrialisierung, ja sie gehört zu den bedeutendsten bevölkerungsgeographischen Charakteristika dieser Epoche. Zwei unterschiedliche Entwicklungen trafen hier zusammen: zunächst die hohe Bevölkerungszunahme, die im Modell des „demographischen Übergangs“ durch das Bild der sich öffnenden „Bevölkerungsschere“ gekennzeichnet ist (vgl. z. B. KULS/KEMPER 2000, S. 162 ff.). Die noch durch agrargesellschaftliche generative Verhaltensweisen verursachten hohen Geburtenzahlen und die bereits durch Fortschritte der Medizin und der Hygiene sowie Verbesserung der Ernährungslage rapide gesunkenen Sterbeziffern führten in jener Zeit zu einem überaus starken Wachstum der ländlichen Bevölkerung. Auf der anderen Seite hatten die sich kräftig entwickelnden Industrien, der Bergbau, aber auch das Dienstleistungsgewerbe, in den wachsenden Städten einen hohen Arbeitskräftebedarf, der sich leicht aus den ländlichen Bevölkerungsüberschüssen decken ließ. Eine große Wanderungsbereitschaft, teilweise sogar Abwanderungsnotwendigkeit der ländlichen Bevölkerung, traf also auf starken Bedarf an Arbeitskräften in den Städten.
Historischer Mobilitätshöhepunkt
Durch das Zusammenwirken beider Entwicklungen erlebte West- und Mitteleuropa, vor allem in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, eine außerordentlich kräftige Land-Stadt-Wanderung. In Deutschland waren es insbesondere die Städte der Montanindustrie im Ruhrgebiet, aber auch Industriestädte im Rheinland, in Sachsen, in Oberschlesien u. a., Hafenstädte wie Hamburg und Bremen, Hauptstädte und Verwaltungszentren wie Berlin und München, die eine wahre „Bevölkerungsexplosion“ durch die Migration aus dem näheren Umland und aus weiter entfernten ländlichen Räumen (z. B. Ostdeutschland und Polen) erlebten. So bestand in vielen deutschen Industriegroßstädten die Bevölkerung zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur noch zu einem Drittel und weniger aus Ortsgebürtigen; es überwogen die Nah- und Fernwanderer aus ländlichen Räumen. Diese Phase der Land-Stadt-Wanderung im Industriezeitalter ist sehr deutlich im Modell des Mobilitäts-Übergangs nach ZELINSKY (1971) erkennbar, mit dem versucht wird, die Intensität der verschiedenen Formen räumlicher Mobilität im Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft darzustellen (vgl. Abb. 2.3). SCHAFFER (1972, S. 128ff.) zeigte mit Beispielen aus deutschen Großstädten, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts – vor allem durch die Land-Stadt-Wanderung – die Mobilität ein später nicht mehr erreichtes Ausmaß angenommen hatte.
Abb. 2.3: Formen der Mobilität zwischen Stadt und Land. Vorherrschende Wanderungs- und Verkehrsbewegungen von der Agrar- zur Industriegesellschaft (verändert nach KULS/KEMPER 2000, S. 207 bzw. ZELINSKY 1971, S. 233).
Migration in der Nachkriegszeit
Gegenüber jenem Höhepunkt der Land-Stadt-Wanderung, für die umgangssprachlich auch die – allerdings zu stark vereinfachende – Bezeichnung „Landflucht“ gebraucht wird, sind die Mobilität insgesamt und die Zuwanderung in die Städte in Deutschland stark zurückgegangen. Nur in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg gewann die Abwanderung aus ländlichen Gebieten in die Mittel- und Großstädte noch einmal stärker an Bedeutung. Ursachen waren nun die Rückwanderung der während des Krieges Evakuierten in die nach den Kriegszerstörungen im Wiederaufbau befindlichen Städte, die Abwanderung eines großen Teils der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge aus den ländlichen Gebieten, in denen sie aus Gründen der Wohnungs- und Nahrungsmittelversorgung zunächst untergebracht worden waren, und die durch den wirtschaftlichen Strukturwandel nach dem Zweiten Weltkrieg verursachte starke Abwanderung aus der Landwirtschaft in Industrie und Dienstleistungsgewerbe.
Migration seit den 1970ern
Seit den 1970er Jahren hat in der Bundesrepublik Deutschland – analog zu den Verhältnissen in anderen westeuropäischen Ländern – die Land-Stadt-Wanderung stark an Bedeutung verloren, obwohl sich die Abwanderung aus landwirtschaftlichen Berufen unvermindert fortsetzte. Vor allem zwei Ursachen sind dafür verantwortlich, dass die Abwanderung aus ländlichen Räumen nicht nur nachließ, sondern sogar in einigen Regionen umgekehrt in eine gewisse Zuwanderung umschlug: einerseits die Ansiedlung von Industrie- und Gewerbebetrieben in ländlichen Gemeinden, die häufig großzügig bemessene Gewerbegebiete auswiesen und mit geringeren Gewerbesteuerhebesätzen als in den Städten warben, andererseits die in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg rasant zunehmende private Motorisierung der Erwerbstätigen. Letztere ermöglichte es, auch beim Fehlen eines adäquaten öffentlichen Personennahverkehrs einen Arbeitsplatz im nächst gelegenen städtischen Raum als Pendler aufzusuchen. Es entfiel also der Zwang, mit der Übernahme eines städtischen Arbeitsplatzes auch umzuziehen und eine Wohnung in der Stadt zu nehmen, wie es seit Beginn der Industrialisierung fast immer notwendig gewesen war; die Land-Stadt-Wanderung wurde, vor allem in den großstadtnahen ländlichen Räumen, weitgehend durch den Pendelverkehr ersetzt.
2.3.3.2 Verstädterung
Definition
Mit dem Begriff der Verstädterung wird die Vermehrung und Vergrößerung der Städte eines Raumes nach Anzahl, Fläche und Einwohnerzahl bezeichnet. Der Begriff wird teils absolut, teils relativ, d. h. im Verhältnis zu den nicht-städtischen Siedlungen und zur ländlichen Bevölkerung gebraucht; außerdem dient er sowohl zur Kennzeichnung eines Entwicklungsprozesses als auch zur Beschreibung eines erreichten Zustandes, der sich im Verstädterungsgrad ausdrückt. Damit ist das Ausmaß der Verstädterung gemeint, gemessen am prozentualen Anteil der städtischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung eines Raumes. Auch die Begriffe Verstädterungsquote und Verstädterungsrate werden hierfür verwendet.
Verstädterung im Ländervergleich
Der Vergleich des Verstädterungsgrades verschiedener Länder dient oft der Kennzeichnung der Siedlungs- und Bevölkerungsstruktur, ist jedoch sehr problematisch, da städtische Bevölkerung und städtische Siedlung häufig länderspezifisch unterschiedlich definiert werden (vgl. 2.1.3). Außerdem lässt der Verstädterungsgrad keine Rückschlüsse darauf zu, ob sich die städtische Bevölkerung in einer großen Metropole oder mehreren bevölkerungsstarken Großstadtagglomerationen konzentriert oder ob sie eher dezentral in vielen kleineren Städten lebt. Zur Unterscheidung wird daher auch der Metropolisierungsgrad berechnet, definiert als Anteil der Bevölkerung in städtischen Agglomerationen mit mehr als einer Million Einwohnern. Abbildung 2.4 zeigt die Problematik einer undifferenzierten Darstellung des Verstädterungsgrades auf der Basis von Staaten. Hohe Anteile der Stadtbevölkerung treten einerseits in relativ dicht besiedelten Industriestaaten mit einem engen Netz von Städten unterschiedlicher Größenordnung auf (z. B. Deutschland, Großbritannien), andererseits jedoch auch in vielen sehr dünn besiedelten Staaten, in denen sich die Bevölkerung in wenigen großen Städten konzentriert (z. B. Australien, Argentinien, Saudi-Arabien, Libyen). Länder mit geringer bis mäßiger Verstädterung, d. h. mit einem noch hohen Anteil an Menschen in ländlichen Siedlungsformen, finden wir heute fast nur noch in Süd- und Ostasien (vor allem Indien und China) sowie in den zentralen und östlichen Teilen von Afrika südlich der Sahara.
Abb. 2.4: Die Verstädterung der Erde. Anteil der Stadtbevölkerung in den Staaten der Erde 2003 / 2004 (BÄHR/JÜRGENS 2005, UN 2005).
Verstädterung in Industrieländern
Theoretisch könnte die Ursache der Verstädterung eines Landes oder einer Region in höheren Geburtenüberschüssen städtischer gegenüber ländlichen Siedlungen begründet sein. In der Realität ist jedoch überdurchschnittliches Städtewachstum praktisch immer das Ergebnis von Migrationsvorgängen, entweder der Land-Stadt-Wanderung innerhalb eines Landes oder der Einwanderung (Immigration) aus dem Ausland. Dementsprechend war nicht nur in Deutschland, sondern im ganzen westlichen Europa der Verstädterungsprozess während der Zeit der Industrialisierung und dadurch verursachter großräumiger und zahlenmäßig sehr kräftiger Wanderungsbewegungen in die entstehenden Industriestädte besonders stark ausgeprägt (vgl. 2.3.3.1). Gegenwärtig verstärkt sich hier die Verstädterung kaum noch. In gewissen Regionen sind sogar Bevölkerungsrückgänge von Agglomerationsräumen zu beobachten, die als sog. Counterurbanization gedeutet werden (meist arbeitsplatzbedingte Abwanderung aus städtischen Agglomerationen bei gleichzeitigen Wanderungsüberschüssen ländlicher, kleinstädtisch geprägter Regionen).
Verstädterung in Entwicklungsländern
In fast allen Entwicklungsländern schreitet demgegenüber die Verstädterung seit mehreren Jahrzehnten aufgrund hoher Abwanderungsraten aus ländlichen Räumen in die Städte sehr rasch voran. Die Ursachen sind in push- und pull-Faktoren zu sehen. „Abstoßende“ Faktoren ländlicher Siedlungen sind z. B. agrare Überbevölkerung, Arbeitslosigkeit, unzureichende Ernährung und Verschuldung vieler Dorfbewohner, mangelnde bauliche und technische Infrastruktur der Siedlungen, in vielen Staaten, insbesondere in Afrika, auch Kriegswirren, Terrorismus, verbreitete Unsicherheit und Willkürherrschaft lokaler und regionaler Machthaber. Die Städte, vor allem die großen Metropolen, wirken demgegenüber anziehend durch bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen – oder zumindest entsprechende Möglichkeiten –, Chancen auf Bildung bzw. Ausbildung und sozialen Aufstieg, größere Chancen, an Lebensmittelhilfslieferungen und sonstigen Hilfen humanitärer Organisationen zu partizipieren usw. Zwar entspricht die reale Lebenssituation der meisten Zuwanderer in informellen Elendssiedlungen (favela, barriada, bidonville, shanty town) selten den ursprünglichen Vorstellungen vom Leben in der Stadt, doch wirkt zweifellos allein die vage Möglichkeit eines besseren Lebens anziehend (vgl. HAUSER 1991, S. 507).
Häufig wird die Verstädterung in Entwicklungsländern auch durch Programme der Regierungen indirekt gefördert, die beim Bau von Wohnungen, Straßen, technischer Infrastruktur, sozialen und Bildungseinrichtungen überwiegend in den großen Städten investieren. Auch Industrie- und Gewerbeansiedlungen ausländischer Investoren, die das niedrige Lohnniveau in Entwicklungsländern für die Errichtung exportorientierter Produktionsanlagen ausnutzen, finden weitestgehend in städtischen Agglomerationen, häufig in der Hauptstadt selbst statt. Dies trägt natürlich ebenso zu ihrem Wachstum bei und fördert die Verstädterung. Während in den seit dem 19. Jahrhundert industrialisierten Staaten Westeuropas die Verstädterungsrate heute in der Regel auf hohem Niveau – meist über 75 % – stagniert, ist für fast alle Entwicklungsländer eine starke Zunahme charakteristisch (vgl. z. B. STEWIG 1983, S. 114 ff., HAUSER 1991, S. 479 ff., HEINEBERG 2001, S. 31 ff.). Inzwischen hat die Verstädterungsrate beispielsweise in Mexiko 75%, in Brasilien sogar 80% überschritten; in den meisten afrikanischen Ländern liegt sie inzwischen bei mehr als 35%. Im bevölkerungsreichsten Staat der Erde, in der Volksrepublik China, ist sie in den letzten Jahren auf fast 40 % angestiegen – mit stark zunehmender Tendenz – und in Indien nähert sie sich der 30%-Marke.
Interpretation des Verstädterungsgrades
Die Aussagekraft dieser Werte ist jedoch zwischen Industrie- und Entwicklungsländern unterschiedlich zu beurteilen. In wirtschaftlich hoch entwickelten Staaten zeigt ein weit fortgeschrittener Verstädterungsprozess einen ausgeprägten Modernisierungsgrad an, gemessen an der Entwicklung des Industrie- und insbesondere des Dienstleistungssektors und am soziokulturellen Entwicklungsstand. Demgegenüber ist ein hoher Verstädterungsgrad in Entwicklungsländern kaum geeignet, gesicherte Aussagen über den Stand der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation zu machen. Hier stellt die Land-Stadt-Wanderung häufig gerade nicht die Folge ökonomischer Entwicklung und der dadurch initiierten Schaffung von Arbeitsplätzen in den Städten dar, sondern ist oft eher die Folge wirtschaftlichen Niedergangs und sich dadurch verschlechternder Lebensbedingungen auf dem Land. Für diese Situation wird gelegentlich der Begriff der Überverstädterung gebraucht, der anzeigt, dass die Zuwanderung aus ländlichen Räumen in die Städte, insbesondere in die Metropolen, diese überfordert und ihre Integrationskraft und die wirtschaftlichen Möglichkeiten weit übersteigt.
Unterschiede im Verstädterungsprozess
HAUSER (1991, S. 484) fasst sehr deutlich die Unterschiede im Verstädterungsprozess der heutigen Industrieländer während der Zeit der Industrialisierung einerseits und der Entwicklungsländer in der Gegenwart andererseits zusammen. Er sieht fundamentale Gegensätze: Der Verstädterungsprozess der altindustrialisierten Länder vollzog sich „relativ langsam, war endogen verursacht und vor allem integriert mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen“. In den heutigen Entwicklungsländern erfolgt er „rasch,,exogen und vor allem nicht integriert in den gesamten sozio-ökonomischen Wandel“. Der Industrialisierungsprozess sowie gesellschaftliche, soziale und kulturelle Veränderungen gehen hier nicht, wie im Europa des 19. Jahrhunderts, als wichtigstes verursachendes Moment der Verstädterung voraus, sondern sie folgen ihr erst, und zwar – unter entwicklungspolitischem Aspekt gesehen – viel zu langsam und in unzureichendem Maße.