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1 Die Stadtgeographie als Teildisziplin der Anthropogeographie
ОглавлениеTeildisziplinen der Siedlungsgeographie
Gliederungen der Anthropo- bzw. Humangeographie enthalten jeweils als eine der „Teilgeographien“ die Siedlungsgeographie (vgl. z. B. BOBEK 1957; UHLIG 1970; BORSDORF 1999). Diese wiederum wird üblicherweise – entsprechend der althergebrachten groben Untergliederung der Siedlungen in ländliche und städtische – in die Geographie der ländlichen Siedlungen und die Stadtgeographie bzw. Geographie der städtischen/urbanen Siedlungen oder der urbanen Räume (GAEBE 2004) gegliedert. Aber nicht nur die Geographie beschäftigt sich mit dem Phänomen Stadt. Die Stadtgeographie ist gleichzeitig auch eine der Teildisziplinen der Stadtforschung, zu der auch Stadtsoziologie, Stadtökonomie, Stadtökologie, Stadtgeschichte, Städtestatistik und andere Wissenschaften beitragen, zusätzlich im Bereich der angewandten Wissenschaften Stadtplanung, Architektur und Städtebau (vgl. Abb. 1.1).
Selbstverständlich ist zwischen diesen verschiedenen Teildisziplinen keine strenge Abgrenzung möglich, auch nicht wünschenswert, da sie sich gegenseitig stark befruchten. Teilweise werden ähnliche oder sogar gleiche Fragestellungen die Stadt betreffend von zwei oder mehr der genannten Wissenschaften aufgegriffen, aber durchaus differenziert analysiert und beantwortet, entsprechend dem unterschiedlichen Forschungsinteresse und der verschiedenen Forschungsmethoden der jeweiligen Wissenschaften. So lässt sich etwa die Frage der Bevölkerungszusammensetzung einer Stadt sowohl aus geographischem („Stadtgeographie“) als auch aus soziologischem („Stadtsoziologie“) Blickwinkel betrachten, und die Städtestatistik kann die gleiche Frage aus statistisch-methodischer Sicht behandeln. Die Ergebnisse tragen gleichermaßen zur Erforschung des Phänomens Stadt bei, wobei im Rahmen geographischer Untersuchungen natürlich immer der räumliche Aspekt im Vordergrund steht. Die Abbildung zeigt anschaulich die Überlappung der Forschungsgebiete einiger der Wissenschaften, die sich mit der Stadt als Siedlungskörper befassen.
Stadtgeographie als Pionierdisziplin
Bei einer Betrachtung der Disziplingeschichte der Geographie als Wissenschaft – hier speziell auf den deutschsprachigen Bereich bezogen – zählt die Stadtgeographie (zunächst als Teil der Siedlungsgeographie) zu denjenigen Teilgebieten, mit denen sich Pioniere der Geographie schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts und in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg beschäftigten. Namen von Forschern aus jener Zeit sind Ferdinand von Richthofen, Friedrich Ratzel, Alfred Hettner, Otto Schlüter, Kurt Hassert, Hugo Hassinger, Ernst Oberhummer (vgl. HOFMEISTER 1999, S. 8f.). Als erstes deutschsprachiges Lehrbuch der Stadtgeographie gilt das Werk „Die Städte geographisch betrachtet“ von K. HASSERT (1907).
Historisch-genetische und physiognomische Stadtforschung
Thematische Schwerpunkte der Stadtgeographie waren in dieser Anfangszeit Fragen der Genese und der Lage von Städten – in der Natur- wie in der Kulturlandschaft. Oftmals wurde in enger Zusammenarbeit mit Historikern den Entstehungsbedingungen, den Standortfaktoren und der topographischen Lage von Städten nachgegangen. Vor allem der natürlichen Lage maß man großes Gewicht bei. Vielfach wurden Abhängigkeiten vom Relief, vom Klima und von den hydrographischen Gegebenheiten behauptet, die später als „Geodeterminismus“ kritisiert wurden. In einer weiteren Forschungsrichtung der Stadtgeographie – HOFMEISTER (1999, S. 9) spricht von einer „morphologischen“ oder „physiognomischen Phase“ – wurden schwerpunktmäßig die äußere Stadtgestalt sowie Grundriss- und Aufrissformen der Stadt untersucht. Führend war hier O. SCHLÜTER (1906), der den Begriff der „Morphologie der Kulturlandschaft“ prägte und in der Analyse des äußeren Erscheinungsbildes des städtischen wie des ländlichen Raumes die wichtigste Aufgabe der Kulturgeographie sah.
Abb. 1.1: Die Stadtgeographie im Verbund wissenschaftlicher Fragestellungen (verändert nach BORSDORF 1999).
Funktionale Stadtforschung
Eine bedeutende Zäsur in der stadtgeographischen Forschung deutete sich mit der Arbeit von BOBEK (1927) über Grundfragen der Stadtgeographie an. Die physiognomisch ausgerichtete Forschung über Städte beurteilte BOBEK als zu einseitig; stattdessen legte er den Schwerpunkt auf die räumliche Verflechtung der menschlichen Lebensbereiche in der Stadt, auf die wirtschaftliche Bedeutung der Städte, auf ihre Funktionen und deren Reichweiten. Das bedeutendste und in seinen Auswirkungen weitreichendste Werk dieser Zeit, später als „funktionale Phase“ der Stadtgeographie bezeichnet, war zweifellos die Arbeit von CHRISTALLER (1933) über Die zentralen Orte in Süddeutschland. Mit diesem ersten Entwurf eines funktionsräumlichen Modells wurde nicht nur eine Theorie der städtischen Funktionen, der städtischen Einzugsgebiete und der Verteilung der Städte im Raum, sondern auch eine wirtschaftsgeographische Standorttheorie für den tertiären Sektor entwickelt (vgl. 2.5.1). Seit BOBEK und CHRISTALLER hat die funktionale Betrachtungsweise einen festen Platz in der Stadtgeographie; bei Forschungen zu Stadt-Umland-Beziehungen (vgl. 2.4.2), zum Stadt-Land-Verhältnis (vgl. 2.3), bei Untersuchungen zur innerstädtischen Viertelsbildung (vgl. 3.1.2) oder zu Standortsystemen innerhalb einer Stadt (vgl. 3.2) werden notwendigerweise funktionale Beziehungen und Verflechtungen analysiert.
Internationalisierung der Forschung
Nach dem Zweiten Weltkrieg begann die stadtgeographische Forschung sehr rasch, sich stark auszudifferenzieren, so dass es nicht mehr möglich ist, von einzelnen Phasen zu sprechen. Man kann stattdessen verschiedene Forschungsrichtungen und Themenschwerpunkte nennen, die parallel betrieben werden. Speziell für die deutsche Stadtgeographie ergab sich erst seit dem Ende des Krieges und der weitgehenden Abschottung gegenüber ausländischen Einflüssen während der Nazi-Herrschaft wieder die Möglichkeit, international aktiv zu werden, Forschungsreisen zu unternehmen und wissenschaftliche Kontakte mit Fachkollegen in anderen Ländern aufzunehmen bzw. wieder zu beleben. Eine Folge war, dass sich deutsche Geographen seit den 1950er Jahren verstärkt dem vergleichenden Studium von Städten in ausländischen bzw. außereuropäischen Kulturkreisen zuwandten (USA, Lateinamerika, Orient, Japan u. a.; vgl. 3.5.2) und vor allem in den 1960er bis 1980er Jahren eine Vielzahl von Studien zur international vergleichenden Stadtstruktur- und Stadtentwicklungsforschung verfassten; im Übrigen lässt sich seit dieser Zeit nicht mehr von spezifisch deutschen Entwicklungslinien der Stadtgeographie sprechen, da in der Gegenwart Forschungsthemen und -methoden internationalisiert sind.
Wissenschaftssprache Englisch
Eine seit dem Zweiten Weltkrieg festzustellende Tendenz, die sich vor allem ab den 1970er Jahren erheblich verstärkt hat, ist der wachsende Einfluss englischsprachiger, insbesondere US-amerikanischer Wissenschaftler, die häufig als „Trendsetter“ für neue Forschungsrichtungen auftreten. Verstärkt wird diese Entwicklung natürlich durch den wachsenden Einfluss der englischen Sprache als internationale Wissenschaftssprache (im Bereich der Stadtgeographie vor allem auf Kosten der französischen und deutschen Sprache). Dieser führt dazu, dass auch in Deutschland, in Frankreich, im skandinavischen Raum und in Südeuropa rasch zunehmend in englischer Sprache publiziert wird. Seit dem Zerfall des „Sowjetblocks“ hat auch in Ostmittel- und Südosteuropa das Englische die russische Sprache als Wissenschaftssprache weitgehend verdrängt. Um sich über die Fortschritte der Wissenschaft aktuell zu informieren, ist es daher auch in der Stadtgeographie heute unumgänglich, die englischsprachige Fachliteratur heranzuziehen.
Qualitative vs. quantitative Forschungsmethoden
Eine weitere international zu beobachtende Entwicklung ist auch in der Stadtgeographie – wie in der gesamten geographischen Wissenschaft – der im Zusammenhang mit dem Aufkommen der elektronischen Datenverarbeitung stark zunehmende Einsatz quantitativer gegenüber den vorher dominierenden qualitativen Arbeitsmethoden. Allerdings hat sich zuletzt ein gewisses Gleichgewicht eingependelt. Nach einer Zeit des dominierenden und nicht selten übertriebenen Einsatzes EDV-gestützter quantitativer Forschungsmethoden, die gelegentlich zum Selbstzweck geworden zu sein schienen, gewinnen seit einigen Jahren qualitative Forschungen wieder erheblich an Boden.
Sozialgeographischer Forschungsansatz
Einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Stadtgeographie hatte der sozialgeographische Forschungsansatz. In Deutschland und Österreich waren es vor allem Autoren wie Bobek, Hartke, Schöller, Lichtenberger, Ruppert, Schaffer und Stewig, die den Blick auf die Akteure stadtgeographischer Entwicklungsprozesse richteten und das raumwirksame Handeln sozialer bzw. sozialgeographischer Gruppen innerhalb der Stadt analysierten. Insbesondere Studien zur sozialräumlichen Gliederung von Städten, zu Segregationsvorgängen, zum Einfluss ethnischer, religiöser und anderer Minoritäten auf die Stadtentwicklung spielen seitdem eine große Rolle (vgl. 3.1.3). Auch Studien zur Raumbewertung, zum Image von Städten, zu differenzierten „mental maps“ bei verschiedenen Sozialgruppen gehören in diesen Bereich sozialgeographischer Stadtforschung, wobei selbstverständlich enge Beziehungen zu Forschungsarbeiten von Stadtsoziologen bestehen. Ebenso ist in diesem Zusammenhang die Gender-Forschung zu nennen. Hier stehen im Hinblick auf das Leben und Arbeiten in der Stadt der geschlechtsspezifische Aspekt der Stadtbewohner und das eventuell unterschiedliche Verhalten von Frauen und Männern im Vordergrund.
Funktionaler Forschungsansatz
Der funktionale Forschungsansatz wurde vor allem in Fortführung und Erweiterung des Modells von WALTER CHRISTALLER weiter verfolgt (vgl. 2.5.1). Die Zentrale-Orte-Theorie war den meisten deutschen Geographen erst in den 1950er Jahren auf dem Umweg über englischsprachige Literatur bekannt geworden. Trotzdem setzte rasch eine intensive wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Modell ein, die bald zu Versuchen führte, über Bestandsaufnahmen von Zentralen Orten und ihren Einzugsgebieten (z. B. KLUCZKA 1970) zur praktischen Anwendung im Bereich der Raumordnung, Regional- und Landesplanung zu kommen (vgl. 2.5.1.2). Inzwischen sind zentralörtliche Modelle als Instrumente der Landesplanung in vielen in- und ausländischen Raumordnungs- und Landesentwicklungsplänen vertreten.
Forschungsansatz Stadt – Umland
Eine ähnliche Praxisnähe wiesen (und weisen bis heute) Forschungen zum Thema Stadtregion, Stadtumland, Suburbanisierung usw. auf (vgl. 2.4). Die bald nach dem Zweiten Weltkrieg sich verstärkenden Prozesse der Bildung und Vergrößerung von großstädtischen Agglomerationen und von sozio-ökonomisch intensiv verflochtenen Stadt-Umland-Bereichen sowie von rasch fortschreitender Suburbanisierung der Bevölkerung und der Wirtschaft regten eine Erforschung dieser Phänomene von Verstädterung und Urbanisierung an und führten zu vielfachen Versuchen von Modellbildungen (z. B. BOUSTEDT 1967), aber auch zur Mitarbeit von Stadtgeographen in der Raumplanung. Ebenso war bei den Gemeindegebietsreformen in den 1970er Jahren stadtgeographische Expertise dort gefragt, wo es um Eingemeindungen, Gemeindeneugliederungen am (Groß-)Stadtrand und im stadtnahen ländlichen Raum sowie um die Organisation und den räumlichen Zuschnitt von Stadt-Umland-Verbänden ging.
Forschungsansatz Standorttheorien
Studien zu innerstädtischen Wirtschaftsstandorten (Industriestandorte, Büro- und Einzelhandelsstandorte) wurden häufig aufgrund von Entwicklungen angeregt, durch die die traditionellen Standortstrukturen und -verteilungen obsolet wurden (vgl. 3.2). Zunächst verließen vor allem Industrien ihre alten Standorte in den Innenstädten und innenstadtnahen Vororten und wanderten an den Stadtrand und in das Stadtumland (vgl. 2.4.1.2); ihnen folgten Gewerbe des tertiären Sektors, vor allem des Einzelhandels, aber auch z. B. der Banken und Versicherungen (vgl. 2.4.1.3), und veranlassten eine Vielzahl von Fragen nach Ursachen und Auswirkungen. Für Stadtgeographen ist somit ein breit gefächertes Forschungsfeld entstanden (z. B. DECKER 1984; HEINRITZ 1999). Aber nicht nur bei der Standortforschung und -planung, auch im Bereich der Verkehrsplanung und generell bei Fragen der Stadtentwicklung zeigt sich die große Nähe der Stadtgeographie als stark angewandt arbeitende Wissenschaft zu Gebieten wie Städtebau, Stadtplanung und Architektur.
Forschungsansatz Wirtschaft
Bei der wirtschaftlichen Betrachtung der Städte (z. B. Untersuchung der ökonomischen Funktionen einer Stadt, vgl. 3.4) standen bis in die 1990er Jahre die als besonders stadttypisch geltenden Wirtschaftsbereiche wie Industrie, Handwerk, Groß- und Einzelhandel, Verkehrswesen, Finanzdienstleistungen u. Ä. im Vordergrund. Erst in den letzten Jahren rückte auch der Tourismus als ein für viele Städte wichtiger Wirtschaftsbereich in den Fokus stadtgeographischer Forschung. So sind in den letzten Jahren Themen wie Städtetourismus und seine Grundlagen, die ökonomische Bedeutung des Kulturtourismus einerseits, des Kongress- und Messetourismus und des Geschäftsreiseverkehrs auf der anderen Seite, zunehmend auch von Geographen – neben Tourismus- und Wirtschaftswissenschaftlern – aufgegriffen worden. Schließlich sei erwähnt, dass Stadtmarketing, d. h. die „Vermarktung“ einer Stadt für Gewerbeansiedlungen, aber auch als touristische Destination und für zuziehende Wohnbevölkerung unter dem Aspekt von Wirtschafts- und Bevölkerungsrückgängen, seit einigen Jahren ein stadtgeographisches Thema ist.