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III. Die Rechtsnatur der EU im Lichte der Dichotomie von Staaten-bund und Bundesstaat
ОглавлениеDie EU, wie sie sich heute darstellt, ist weder ein Staatenbund noch ein Bundesstaat. Um ein vollständiges Bild von der Ausgangssituation der weiteren Untersuchung zu zeichnen, soll die besondere Rechtsnatur der EU beschrieben werden.
Das „Projekt Europa“, dessen „vorläufiges“ Endprodukt die EU nach Lissabon darstellt, zeigt eine Intensität an Verflechtung zwischen den Mitgliedsstaaten, sowohl wirtschaftlich als auch politisch, die weltweit beispiellos ist. Was die Besonderheit der Rechtsnatur der EU ausmacht, wird gemeinhin mit dem Begriff der Supranationalität beschrieben. 51 Um die Komplexität dieses Begriffes zu erfassen, wird zum Teil die Untersuchung der Eigenschaften einer supranationalen Organisation in zwei Abschnitte untergliedert: Zunächst wird gefragt, ob es sich bei der Organisation um einen Staat handeln könnte. 52 54
Diese Argumentation ist in sich aber nicht schlüssig. Nur weil die Subjekte, die eine suprana-tionale Organisation in sich vereint, völkerrechtlich in ihrem Bestand geschützt sind, heißt dies nicht, dass die Bündelung dieser Subjekte es nicht ist. Es wird vereinfacht die These auf-gestellt: Weil die Staaten auf ihre Staatlichkeit nicht verzichten, kann der Organisation, die sie umspannt, keine Staatlichkeit zukommen. 57 Ein derartiges Exklusivitätsverhältnis anzu-nehmen, ist aber nicht zwingend erforderlich, wie am Ende der Untersuchung zu sehen sein wird.
Hingegen ist die Souveränität ein wichtiges Merkmal, über das die Differenzierung zwischen Staat und Nichtstaat getroffen wird. Ob eine solche besteht, kann daran veranschaulicht werden, wie für die EU im Speziellen die Machtverteilung zwischen dem Dachverband und ihren Mitgliedern konzipiert wurde. Den Ausgangspunkt hierfür bildet eine kurze Definition des Bundesverfassungsgerichtes. Ihm zufolge ist die Europäische Union eine im Prozess fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener Art, [...] auf die die Bundesrepublik Deutschland – wie die übrigen Mitgliedstaaten – bestimmte Hoheits-rechte übertragen hat. 58
Damit nennt das Bundesverfassungsgericht implizit ein wichtiges Merkmal der Europäischen Union und ihrer Supranationalität: das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Diesem von Anfang an strukturellen Grundsatz (Art. 5 EUV) zufolge benötigt die EU für jeden Rechtsakt eine ausdrückliche oder auslegungsmäßig eindeutige Rechtsgrundlage innerhalb der Verträge, die als Ermächtigung dienen kann. 59 Nur die in den Verträgen verliehenen Zu-ständigkeiten begründen die Rechtssetzungsbefugnis, wohingegen sich aus den Aufgaben der EU keine Kompetenzen ableiten lassen. 60 Diese widerruflich übertragenen Befugnisse werden gemeinhin von der Staatslehre als Indiz für das Fehlen von Souveränität begriffen. 61
Normativ kann Souveränität schon an dem Austrittsrecht gem. Art. 50 EUV der einzelnen Mitgliedstaaten festgemacht werden. 65 Ein solches stünde ihnen nicht zu, wären sie bloße Gliedstaaten wie die Bundesländer der Bundesrepublik Deutschland. Auch wenn diese eine eigene Verfassung haben, können sie sich nicht aus dem Verband lösen. Zwar könnte man bei den europäischen Mitgliedstaaten annehmen, dass sie ihre Souveränität zu Teilen mit der Übertragung von Kompetenzen aufgeben. Jedoch wird dies nicht als eine Einschränkung bzw. Übertragung der originären Souveränität verstanden, denn die Mitgliedstaaten behal-ten sich nach wie vor die Letztentscheidungsgewalt darüber vor. 66 Dies kann auch am Wort-laut des Art. 1 EUV festgemacht werden:
Durch diesen Vertrag gründen die Hohen Vertragsparteien untereinander eine EUROPÄI-SCHE UNION (im Folgenden „Union“), der die Mitgliedstaaten Zuständigkeiten zur Verwirkli-chung ihrer gemeinsamen Ziele übertragen.
Hier ist von den hohen Vertragsparteien, den Mitgliedstaaten, die Rede. Schon diese Formu-lierung zeigt an, dass es sich hier um einen völkerrechtlichen Vertrag handelt – und nicht um einen Staatsvertrag als Grundlage eines Bundesstaates. Auch darin ist wieder eine große Nähe zum Staatenbund zu sehen.
Diese grundlegende Eigenschaft beeinflusst auch den zweiten Teilaspekt: die Begrenztheit der Kompetenzen der EU. 67 Die charakteristische Breite ihrer Aufgabenbereiche darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Unionsgewalt dennoch begrenzt ist. In Art. 5 EUV heißt es u. a.:
Das Europäische Parlament, der Rat, die Kommission, der Gerichtshof und der Rechnungshof üben ihre Befugnisse nach Maßgabe und im Sinn der Verträge zur Gründung der Europäi-schen Gemeinschaften sowie der nachfolgenden Verträge und Akte […] aus. Gerade diese Begrenztheit über die bereits dargestellten Einzelermächtigungen ist untypisch für einen Staat, denn die innerstaatliche Autonomie eines Staates, innerhalb seiner Grenzen eigenständig entscheiden zu können, ist Ausfluss seiner internen Souveränität, die der EU fehlt. 68
Damit hängt wiederum eng zusammen, dass die EU keine umfassende Gebietshoheit besitzt, sondern lediglich über die begrenzte Einzelermächtigung in ihrem räumlichen Geltungsbe-reich darauf beschränkt ist, die ihr verliehenen Einzelzuständigkeiten wahrzunehmen. 69
Demnach handelt es sich bei einer supranationalen Organisation und wie der EU nicht um einen Staat, da ihr das entscheidende Merkmal der Souveränität fehlt. Eigentlich wird damit ein Bezug zum Bundesstaat obsolet, da dieser konzeptionell eine Verfassung und eine eigene Staatlichkeit verlangt, also auch Staat ist.
Dennoch gibt es eine Regelung, die in dieser Form bisher nur in der EU entwickelt wurde und eigentlich dem Konzept des Bundesstaates zugeordnet werden muss: 73 Der prinzipielle Vor-rang, den das Unionsrecht vor dem Recht der Mitgliedstaaten beansprucht. 74 Herausgelesen wird dieser u. a. aus Art. 288 Abs. 2 AEUV. Der EuGH hat in seiner Costa/E.N.E.L.- Entschei-dung zum ersten Mal festgestellt, dass das nachträglich geschaffene nationale Recht nicht dem Gemeinschaftsrecht vorgehen könne. 75 Diesen Grundsatz entwickelte das Gericht fort, indem es später festhielt, dass jede dem Gemeinschaftsrecht entgegenstehende nationale Norm unanwendbar bleibe. 76 Die Einordnung des Anwendungsvorranges in seiner Rechtsna-tur ist schwierig, da es keine bestimmte Figur der juristischen Methodologie ist. 77 Da sie le-diglich im Kollisionsfall zwischen Unionsrecht und nationalem Recht dem Unionsrecht den Vorrang einräumt, ohne gleichzeitig das nationale Recht außer Kraft zu setzen, versteht Funke diesen als eine Regel, die dem Lex-specialis-Satz sei. Dieser differenzierten Einordnung wird hier gefolgt. 78 Eine Priorisierung nebeneinander anwendbarer Rechtsnormen findet sich in typischen Staatenbünden nicht. 79 In der EU gelten also Verordnungen und in einge-schränktem Maße auch Richtlinien nicht für die Mitgliedstaaten, sondern bereits in ihnen di-rekt. 80 Bemerkenswert ist, dass dieses Sicherungsinstrument der Funktionsfähigkeit der Ge-meinschaften 81 – die Kompetenz zum Erlass von Verordnungen und Richtlinien – sich nicht nur aus Unionsrecht selbst speist, sondern auch aus dem verfassungsrechtlich verankerten Rechtsanwendungsbefehl. 82 Über diesen erhält die anzuwendende Norm des Unionsrechtes erst unmittelbare Geltung und er macht sie zum Bestandteil der deutschen Rechtsordnung. Er ist die unmittelbare Folge des auf verfassungsgeberischer Ermächtigung beruhenden Rati-fikationsaktes. 83 Dabei wird die innerstaatliche „Zusatz - Legitimation“ lediglich als Schutzme-chanismus gegenüber der unionsrechtlichen Legislative betrachtet, deren Rechtsakte ohne den innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl zu jedem Zeitpunkt wirksam würden. 84 Die-ser nationalstaatliche Schutzmechanismus darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Anwendungsvorrang einem einheitlichen Rechtsraum dienen soll, was über die Zwecke des Staatenbundes hinausgeht und im besonderen Maße den Sonderstatus der EU charakteri-siert. Dieser Anwendungsvorrang deutet an, dass sich die Rechtsordnung weder aus dem Völkerrecht noch aus innerstaatlichem Recht ableitet, sondern vielmehr originär ist. 85
Deutlich wird, wenn man sich diese unterschiedlichen und zum Teil gegensätzlichen Merk-male der EU vor Augen führt, dass die EU weder Staatenbund noch Bundesstaat ist. Zwar fußt sie konzeptionell zunächst auf dem Staatenbund, da völkerrechtliche Verträge Verfah-ren und Abläufe regeln und die einzelnen Regelungen streng die Souveränität der Mitglied-staaten wahren. Aber insbesondere der Anwendungsvorrang des Unionsrechtes gibt eben diesem ein Maß an Autorität, welches dem üblichen völkerrechtlichen Vertrag nicht zu-kommt.
Um nun zu klären, ob denn ein bundesstaatlich strukturiertes Europa mit der deutschen Ver-fassung im Konflikt steht, sollen die unterschiedlichen Optionen einer bundesstaatlichen Strukturierung erläutert werden.