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3. Maastricht
ОглавлениеÜber den Vertrag von Maastricht bekam die Integration eine neue Dynamik: Die Europäische Gemeinschaft wurde um die beiden Säulen einer zwischenstaatlichen Zusammenarbeit in den Bereichen Außen- und Sicherheitspolitik bzw. Justiz und Inneres erweitert, und neben einigen Kompetenzerweiterungen sah der neu beschlossene Unionsvertrag die Einführung einer Währungsunion vor. Das Bundesverfassungsgericht nutzte erneut die Möglichkeit, sich grundsätzlich zu den Europäischen Gemeinschaften zu positionieren. Mit seinen Stellung-nahmen stieß es direkt die Debatte über die Frage an, was denn unveräußerlicher Bestand-teil des vom Grundgesetz über Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Kernbestandes der Verfas-sungsidentität sei:
Art. 38 GG verbürgt nicht nur, daß dem Bürger das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag zu-steht […]. Gibt der Deutsche Bundestag Aufgaben und Befugnisse ab, insbesondere zur Ge-setzgebung und zur Wahl und Kontrolle anderer Träger von Staatsgewalt, so berührt das den Sachbereich, auf den der demokratische Gehalt des Art. 38 GG sich bezieht […]. Art. 38 GG schließt es im Anwendungsbereich des Art. 23 GG aus, die durch die Wahl bewirkte Legitima-tion von Staatsgewalt und Einflußnahme auf deren Ausübung durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so zu entleeren, dass das demokratische Prinzip, soweit es Art. 79 Abs. 3 iVm. Art. 20 Abs. 1 und 2 für unantastbar erklärt, verletzt wird. 208
Zu dem gem. Art. 79 III GG nicht antastbaren Gehalt des Demokratieprinzips gehört, daß die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben und die Ausübung staatlicher Befugnisse sich auf das Staatsvolk zurückführen lassen und grundsätzlich ihm gegenüber verantwortet werden. Die-ser notwendige Zurechnungszusammenhang läßt sich auf verschiedene Weise, nicht nur in einer bestimmten Form, herstellen. Entscheidend ist, daß ein hinreichend effektiver Gehalt an demokratischer Legitimation, ein bestimmtes Legitimationsniveau, erreicht wird. 209
Das Demokratieprinzip hindert mithin die Bundesrepublik Deutschland nicht an einer Mit-gliedschaft in einer – supranational organisierten – zwischenstaatlichen Gemeinschaft. Vor-aussetzung der Mitgliedschaft ist aber, daß eine vom Volk ausgehende Legitimation und Ein-flußnahme auch innerhalb eines Staatenverbundes gesichert ist. 211
Die Europäische Union ist nach ihrem Selbstverständnis als Union der Völker Europas ein auf eine dynamische Entwicklung angelegter Verbund demokratischer Staaten; nimmt er hoheit-liche Aufgaben wahr und übt dazu hoheitliche Befugnisse aus, sind es zuvörderst die Staats-völker der Mitgliedstaaten, die dies über die nationalen Parlamente demokratisch zu legiti-mieren haben. 212
An anderer Stelle führte das Gericht weiter aus:
Im Staatenverbund der Europäischen Union erfolgt mithin demokratische Legitimation not-wendig durch die Rückkopplung des Handelns europäischer Organe an die Parlamente der Mitgliedstaaten. 213
Es wird deutlich, dass die Staaten und nicht wie nach der hier vertretenen Ansicht das Volk unabhängig vom Staat, der legitimierende Bezugspunkt dieses Staatenverbundes sein sollen. Wie noch zu zeigen sein wird, liegt hierin ein maßgeblicher Grund dafür, dass das Bundesver-fassungsgericht eine Interpretation des Grundgesetzes, das der weiteren Integration offen gegenübersteht, nicht anwendet. Der Staat wurde mithin zur Vorbedingung für eine auf Menschenrechten basierende Souveränität und Demokratie gemacht, die er jedoch ur-sprünglich nicht war. So heißt es auch:
Demokratie, soll sie nicht lediglich formales Zurechnungsprinzip bleiben, ist vom Vorhanden-sein bestimmter vorrechtlicher Voraussetzungen abhängig, wie einer ständigen freien Aus-einandersetzung zwischen sich begegnenden sozialen Kräften, Interessen und Ideen, in der sich auch politische Ziele klären und wandeln und aus der heraus eine öffentliche Meinung den politischen Willen verformt. Dazu gehört auch, dass die Entscheidungsverfahren der Ho-heitsgewalt ausübenden Organe und die jeweils verfolgten politischen Zielvorstellungen all-gemein sichtbar und verstehbar sind[…]. 214
In engem Zusammenhang damit stehen die folgenden Ausführungen: Jedes der Staatsvölker ist Ausgangspunkt für eine auf es selbst bezogene Staatsgewalt. Die Staaten bedürfen hinreichend bedeutsamer eigener Aufgabenfelder, auf denen sich das jeweilige Staatsvolk in einem von ihm legitimierten Prozess politischer Willensbildung entfalten und artikulieren kann, um so dem, was es – relativ homogen – geistig, sozial und politisch verbindet, rechtlich Ausdruck zu geben. 215 216 Erst die Staatlichkeit der EU-Mitgliedstaaten vermittle demnach der EU ihren eigenen Charakter und führe zu der heutigen weitreichenden Integration. Wie noch zu zeigen sein wird, errichtete das Bundesverfassungsgericht schon in diesem Urteil mit dem „Mittel zur Integration“ – der Staatlichkeit – damit die eigentliche Barriere für dieselbe. 217
Insofern wird es im Folgenden nicht nur darauf ankommen, die staatliche Souveränität und die Demokratie konzeptionell zu untersuchen, sondern vor allem auch die Volkssouveränität, um so die Unabhängigkeit dieses letzten Konzepts vom Staat kenntlich zu machen. Zunächst soll aber auf darauf eingegangen werden, ob es einen Ansatz gibt, der es ermög-licht oder sogar verlangt, die staatszentrierte Perspektive des Bundesverfassungsgerichtes auf das Grundgesetz aufzugeben und daraus ein neues Verständnis vom Grundgesetz und seinem Potential für die Integration in einen übergeordneten Staatsverband zu entwickeln.