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I. Die Lissabon-Entscheidung

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1. Das Verständnis des Bundesverfassungsgerichtes von Demokra-tie und Souveränität

Das Grundgesetz ermächtigt die für Deutschland handelnden Organe nicht, durch einen Ein-tritt in einen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands aufzugeben. 117

Schon zu Beginn seines Urteils drückte das Bundesverfassungsgericht das grundsätzliche Ver-ständnis von der Beziehung des Grundgesetzes zu den europäischen Einigungsverträgen aus. Demnach sei weder die Regierung noch der verfassungsändernde Gesetzgeber, also eine Zweidrittelmehrheit des Bundestages zusammen mit einer Zweidrittelmehrheit des Bundes-rates, imstande, die von Art. 79 Abs. 3 iVm. Art. 20 I GG verbürgte staatliche und völker-rechtliche Souveränität abzugeben. 118 Das Gericht bezog sich dabei aber nicht explizit auf die staatliche Souveränität, sondern auf das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes. Im darauf folgenden Satz zog das Gericht die Konsequenz aus dieser Aussage: Dieser Schritt ist wegen der mit ihm verbundenen unwiderruflichen Souveränitätsübertra-gung auf ein neues Legitimationssubjekt allein dem unmittelbar erklärten Willen des Deut-schen Volkes vorbehalten. 119

An anderer Stelle stellte es fest:

Das demokratische Prinzip ist nicht abwägungsfähig, es ist unantastbar. […] Mit der sog e-nannten Ewigkeitsgarantie wird die Verfügung über die Identität der freiheitlichen Verfas-sungsordnung selbst dem verfassungsändernden Gesetzgeber aus der Hand genommen. Das Grundgesetz setzt damit die souveräne Staatlichkeit Deutschlands nicht nur voraus, sondern garantiert sie auch. 120

Unter dem Eindruck der ersten Aussage, dass die völkerrechtliche Souveränität Deutschlands verbürgt bleibe, muss man die beiden zuletzt genannten Aussagen lesen und die folgenden Schlüsse ziehen:

Erstens gehört laut Bundesverfassungsgericht nicht nur die staatliche Souveränität, auch wenn sie nicht ausdrücklich im Grundgesetz zu finden ist, sondern auch das demokratische Prinzip bzw. die Forderung nach Demokratie zu den von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Ver-fassungsprinzipien, die Bestandteil der deutschen Verfassungsidentität seien und damit nicht aufgegeben werden könnten. 121 Bemerkenswert ist aber vor allem der zweite Aspekt: Das demokratische Prinzip und die staatliche Souveränität stehen aus Sicht des Bundesverfas-sungsgerichtes in einer Art Symbiose zueinander, weil sie sich gegenseitig bedingten. 122 Dies deutet zumindest die inhaltliche Verknüpfung beider Prinzipien an. Denn beide werden in einen unmittelbaren Zusammenhang gebracht, indem bei der Erklärung des einen zugleich auf das jeweils andere Bezug genommen wird. Warum das Bundesverfassungsgericht diese beiden Grundsätze als so eng miteinander verknüpft betrachtete, wird am deutlichsten im Leitsatz 1 angesprochen:

Das Grundgesetz ermächtigt mit Art. 23 GG zur Beteiligung und Entwicklung einer als Staa-tenverbund konzipierten Europäischen Union. Der Begriff des Verbundes erfasst eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grund-lage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mit-gliedstaaten unterliegt und in der die Völker – das heißt die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben. 123

Die vom Demokratieprinzip im geltenden Verfassungssystem geforderte Wahrung der Sou-veränität […]. 128

Wegen der starken Betonung des Demokratieprinzips tritt jedoch die Souveränität als ein zentraler Aspekt des Grundgesetzes in den Hintergrund. So betonte das Gericht in seinem Urteil beispielsweise die elektorale Demokratie 129 und nahm an, dass die modernen Territo-rialstaaten als Modell einer elektoralen Demokratie angesehen werden könnten. 130 Elek-torale Demokratie wird dabei vom Bundesverfassungsgericht verstanden als ein Herrschafts-verband, dessen Organe durch wiederkehrende Mehrheitsentscheidungen der Bürger gebil-det werden und die sich neben einem Dualismus von Regierung und Opposition gegenüber einer beobachtenden und kontrollierenden Öffentlichkeit verantworten müssen. 131 Hinzu kommt, dass das Bundesverfassungsgericht sich in besonderem Umfang mit dem Demokra-tieprinzip auseinandersetzte und dessen Bestandteile formulierte, die zur unveräußerlichen Identität der Verfassung gehörten und nicht derart umfänglich berührt werden dürften, dass eine Entstaatlichung möglich werde. 132 So führte es aus:

Für die vom Grundgesetz verfasste Staatsordnung ist eine durch Wahlen und Abstimmungen betätigte Selbstbestimmung des Volkes nach dem Mehrheitsprinzip konstitutiv. 133

[d]iese zentrale Demokratieanforderung […] auf der Grundlage verschiedener Modelle erfüllt werden [kann]. 135

Das Bundesverfassungsgericht machte bei seiner Hervorhebung der staatlichen Souveräni-tät/Volkssouveränität als Voraussetzung für das Demokratieprinzip deutlich, dass es ihr Ver-ständnis als eine absolute Notwendigkeit zur Bewahrung der deutschen Verfassungsidentität sehe und sich davor bewahren wollte, aus bloßem „staatsrechtlichen Traditionalismus“ an den dargestellten Vorstellungen festzuhalten. 136 Dabei bezog es sich auch ausdrücklich auf die Souveränität und hob die dem Grundgesetz inhärente moderne Vorstellung von Souverä-nität hervor:

In den Zielen der Präambel wird dieses Souveränitätsverständnis sichtbar. Das Grundgesetz löst sich von einer selbstgenügsamen und selbstherrlichen Vorstellung souveräner Staatlich-keit und kehrt zu einer Sicht auf die Einzelstaatsgewalt zurück, die Souveränität als völker-rechtlich geordnete und gebundene Freiheit auffasst. Es bricht mit allen Formen des politi-schen Machiavellismus und einer rigiden Souveränitätsvorstellung, die noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Recht zur Kriegsführung für ein selbstverständliches Recht des sou-veränen Staates hielt. 137

Zwar bekundet das Gericht an dieser Stelle, dass es sich von einer veralteten Vorstellung der Souveränität lösen will, doch blieb es, wie noch zu zeigen sein wird, in den bisherigen Vor-stellungen von der Einzelstaatsgewalt verhaftet, die Ausdruck der Souveränität des Volkes ist, nämlich die Verfügungsgewalt,

über die grundlegenden Fragen der eigenen Identität konstitutiv zu entscheiden. 138 139

Das Recht der Bürger, in Freiheit und Gleichheit durch Wahlen und Abstimmungen die öf-fentliche Gewalt personell und sachlich zu bestimmen, ist der elementare Bestandteil des Demokratieprinzips. Der Anspruch auf freie und gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt ist in der Würde des Menschen verankert. 140

Aus diesem Verständnis des Gerichtes lässt sich eine doppelte Bestandskraft für das Demo-kratieprinzip ableiten. Nicht nur ist das Demokratieprinzip über Art. 79 Abs. 3 GG geschützt, sondern auch bereits über Art. 1 GG selbst, denn die Menschenwürde kann nach de r „Ob-jektformel“ 141 nicht Gegenstand von Abwägungs- oder Verfügungsprozessen sein. 142 Diese zweite Herleitung verdeutlicht, dass nach dem Verständnis des Gerichtes das Demokratie-prinzip eine unverzichtbare Grundlage des Grundgesetzes ist und in keinem Fall eine zu starke Einschränkung erfahren dürfe. In dieser Passage wird aber nicht nur auf die wesentli-chen Ausprägungen des Demokratiegebotes Bezug genommen, und diese werden nicht nur an Art. 1 GG festgemacht; wie schon zuvor dargestellt, wird hier auch auf das Selbstbestim-mungsrecht des deutschen Volkes und damit auf seine Souveränität Bezug genommen. Das Gericht leitete sowohl Souveränität, in der volksbezogenen Variante, als auch Demokra-tie aus der Würde des Menschen ab, also sowohl individualistisch als auch kollektiv bzw. staatszentriert. 143 Die besondere Betonung und Auseinandersetzung mit der Demokratie so-wie die umfangreiche Untersuchung der Frage, ob denn bereits mit dem Vertrag von Lissa-bon eine Verletzung derselben vorliege, können aber verschleiern, dass alle diese Bereiche weniger das Demokratieprinzip als vielmehr den Anspruch nach absoluter und ungeteilter Souveränität tangieren. 144 Ob dabei auf die staatliche Souveränität oder die Volkssouveräni-tät abgezielt wird, kann an dieser Stelle offengelassen werden. 145 Es ging dem Bundesverfas-sungsgericht weniger um die Probleme der Demokratie an sich, sondern vielmehr um die de-mokratische Legitimation, um die Unabhängigkeit des deutschen Volkes, also im Kern um die Volkssouveränität als Grundlage für die staatliche Souveränität. 146 Es bezog sich bei seinen Ausführungen über Demokratie regelmäßig auf das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes und seine Souveränität. Derartiges konnte auch schon in der Entscheidung zum Ver-trag von Maastricht festgestellt werden. 147 Man kann also das Urteil dahin gehend interpre-tieren, dass das Grundgesetz aufgrund seiner Verbürgung der deutschen Volkssouveränität – als Grundlage der staatlichen Souveränität und die Demokratie verbürgend – die Integration in einen europäischen Bundesstaat für nicht zulässig erachtet.

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