Читать книгу Die Vereinigten Staaten von Europa - Rembert Graf Kerssenbrock - Страница 6

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A. Einführung

I. Zielsetzung

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde mithilfe der Europäischen Gemeinschaften versucht, Europa nachhaltig zu befrieden. Die zunächst rein wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Staaten sollte einer Entfremdung und so langfristig auch politischen Konflikten vorbeugen. In diesem Sinne sprachen damals u. a. Regierungsoberhäupter wie Winston Churchill 1 und Konrad Adenauer 2 in Anlehnung an die USA von den „Vereinigten Staaten von Europa“. Ihnen ging es also maßgeblich um die lang fristige Verwirklichung eines europäi-schen Bundesstaates. Es gab eine politische Vision von einem „vereinten Europa“, die sich auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in der Präambel desselben manife-stierte. In diesem Sinne begann eine Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften, später der Europäischen Union, die zur Folge hatte, dass sich aus der reinen Wirtschaftsunion auch eine politische Union entwickelte, deren Rechtsnatur nicht derjenigen herkömmlicher inter-nationaler Organisationen entsprach.

Die Einschätzungen der rechtlichen Situation der Gemeinschaften, der daraus entstandenen Union und ihrer darin eingebetteten Mitgliedstaaten fielen und fallen erheblich auseinander. Das Bundesverfassungsgericht nahm in diesem Prozess bereits früh die Rolle der letzten Ent-scheidungsinstanz – als „Hüter der Verfassung“ – ein 3 . die über die Konformität der europäi-schen Einigungsverträge mit dem Grundgesetz befand und zum Teil auch Änderungsforde-rungen an die Einigungs-/Reformverträge stellte.

Als das Bundesverfassungsgericht in dieser Rolle am 30. Juni 2009 sein Urteil zum Vertrag von Lissabon fällte, war schon vor Bekanntgabe des Urteils erkennbar 4 , dass das Gericht grundsätzliche Aussagen zur Integration Deutschlands in die EU bzw. das „vereinigte Europa“ machen würde. Wie zum Großteil erwartet, befand das Bundesverfassungsgericht mit Aus-nahme eines Nebengesetzes 5 den Vertrag von Lissabon mit seinen neuen Regelungen für mit dem Grundgesetz vereinbar. Besondere Bedeutung erhielt das Urteil aber nicht wegen sei-nes abschließenden Votums, sondern wegen seiner Aussagen zum Grundgesetz und dessen Grundlagen zum Einigungsprozess insgesamt. In einem nie da gewesenen Umfang nahm das Gericht die Verfassungsbeschwerden einzelner Abgeordneter zum Anlass, den Status der Eu-ropäischen Union und ihrer Entwicklungsperspektiven mithilfe seiner Interpretation des Grundgesetzes zu bewerten. Das Lissabon-Urteil erschöpfte sich aber nicht in derartigen Be-wertungen, sondern das Gericht entwickelte seine frühere Rechtsprechung und die darin ge-troffenen Feststellungen zu Europa fort. 6 Wie damals, so sind aber auch in diesem Grund-satzurteil einzelne Auslegungen und Schlussfolgerungen nicht nur widersprüchlich, sondern schon im Ansatz zweifelhaft. 7

Ein grundlegendes Problem der Aussagen ist die Tendenz des Gerichtes, Erkenntnisse über das Grundgesetz und seine Aussagen aus seinem Verhältnis zu den heutigen europäischen Einigungsverträgen 8 zu gewinnen. Zwar war gerade das Verhältnis des neuen Einigungsver-trages zum Grundgesetz der Untersuchungsgegenstand des Urteils. Das Bundesverfassungs-gericht beschränkte sich aber nicht darauf, sondern wollte auch Aussagen zum Grundgesetz treffen, die den Einigungsprozess Europas an sich behandeln. Diese Aussagen werden zentral in dieser Arbeit untersucht werden, denn mit ihnen stellte das Bundesverfassungsgericht die Behauptung auf, dass das Grundgesetz den Vereinigten Staaten von Europa als Bundesstaat – wie sie ursprünglich gedacht waren – , zumindest in der bisherigen Fassung, entgegen-stehe. Das Gericht sagte dies zwar nicht explizit, deutete es aber an: Nach Maßgabe der Integrationsermächtigung des Art. 23 Abs. 1 GG in Verbindung mit der Präambel,

Art. 20, Art. 79 Abs. 3 und Art. 146 GG kann es für die europäische Unionsgewalt kein eigen-ständiges Legitimationssubjekt geben, das sich unabgeleitet von fremdem Willen und damit aus eigenem Recht gleichsam auf höherer Ebene verfassen könnte. 9

Ziel dieser Arbeit ist es, dieses Ergebnis grundlegend zu hinterfragen und darauf aufbauend eine in sich stimmige Alternative zu den Ergebnissen des Lissabon-Urteils zu entwickeln. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Aussagen zur Integrationsfähigkeit des Grundge-setzes untersucht und unter Umständen auch widerlegt werden. Zwar ist die Integrationsfä-higkeit des Grundgesetzes auch hinsichtlich eines europäischen Bundesstaates bereits von der Literatur bejaht worden 12 , aber es ist bisher nicht gelungen herauszuarbeiten, warum diese Kompatibilität mit dem gesamteuropäischen Bundesstaat zwingend berücksichtigt werden muss.

Hinzu kommt die neue Ausgangssituation durch das viel beachtete Lissabon-Urteil. Darin sind bereits einzelne Grundaussagen für sich unzureichend begründet. Zum Beispiel betrach-tet das Gericht die Strafrechtspfleg e als „besonders sensibel“ für die demokratische Selb-stgestaltungsfähigkeit – ohne aber die spezielle Implikation mit Art. 79 Abs. 3 GG oder die Souveränität Deutschlands hinreichend zu begründen. 13 Zwangsläufig sind auch die darauf aufbauenden Schlussfolgerungen. Ähnlich wie die rechtliche Entwicklung der EU, hat sich auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes scheinbar verselbstständigt. Es wurden weniger die Artikel des Grundgesetzes selbst analysiert und neu angewandt, viel-mehr wurde die eigene bereits ergangene Rechtsprechung hinsichtlich der neuen Ausgangs-situation – der Ratifizierung des Lissabon-Vertrages durch die Bundesrepublik Deutschland – aktualisiert und teilweise losgelöst vom Grundgesetz vervollständigt. Die daraus resultieren-den Annahmen, dass der Lissabon-Vertrag zwar noch im Einklang mit dem Grundgesetz stehe, eine gesamteuropäische Verfassung dies aber nicht ohne eine Änderung des Grundge-setzes könne, ist womöglich nie von den Urhebern des Grundgesetzes intendiert und in sel-bigem auch nie angelegt gewesen.

So sollen deswegen die Hinterfragung des Urteils und Erarbeitung die einer alternativen Per-spektive auf das Grundgesetz auch stärker als das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes an das Grundgesetz angelehnt sein, um so den Einklang weniger mit früheren Urteilen als viel-mehr mit früheren Grundentscheidungen des Volkssouveräns (wieder-)herzustellen. Es geht somit um eine Rückbesinnung auf den Willen des eigentlichen Souveräns, des deutschen Volkes, die das Bundesverfassungsgericht zu Teilen zwar unternimmt, die ihm aber misslingt.

II. Gang der Untersuchung

Einführend soll unter B I. dargestellt werden, was unter einem Bundesstaat grundsätzlich zu verstehen ist. Um den Bundesstaat als staatliches Gebilde zu verstehen, muss eine Abgren-zung zum Staatenbund vorgenommen werden, also zu einem Bündnis von Staaten, das nicht auf einen einheitlichen Gesamtstaat hin ausgerichtet ist. Die Darstellung der heutigen EU hinsichtlich ihrer Vermischung von Staatenbund und Bundesstaat soll diese Einführung dann vervollständigen. Wenn das Bundesverfassungsgericht sich im Lissabon-Urteil auf die heutige EU bezieht, muss auch geklärt sein, was die wesentlichen Unterschiede zwischen dem Bun-desstaat, der das mögliche Endergebnis des europäischen Einigungsprozesses sein könnte, und dem supranationalen Staatengebilde der Europäischen Union darstellen. Auf diese Weise wird es möglich, die Untersuchung, ob das Grundgesetz maßgeblich über Art. 79 Abs. 3 GG auch einen europäischen Gesamtbundesstaat zulassen würde, fundiert nachzuvollzie-hen.

Anschließend wird im Abschnitt B II. das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes bezüglich der Aussagen untersucht, mit denen es sich zum Charakter des Grundgesetzes insgesamt äußert. Dass das Gericht maßgeblich Demokratie und Souveränität bzw. tatsächlich Volkssouveräni-tät als entscheidende Schranken betrachtet, wird an dieser Stelle herausgearbeitet, das Ver-ständnis des Gerichtes diesbezüglich erläutert und zumindest im Ansatz bereits hinterfragt. Dass diese Aussagen größtenteils im Einklang mit seinen vorigen Entscheidungen stehen, wird anhand kurzer Darstellungen vorangegangener Grundsatzentscheidungen im Abschnitt B III. erläutert werden.

Sodann erfolgt im Abschnitt C I. die Entwicklung einer Kernthese dieser Arbeit: Das Grundge-setz muss auch anhand seiner Präambel ausgelegt werden.

Mit Erarbeitung dieser Auslegungshilfe für das Grundgesetz wird dann die Präambel unter C IV. nach allen maßgeblichen Gesichtspunkten ausgelegt werden, um herauszufinden, ob die Präambel auch einen europäischen Bundesstaat billigen oder sogar befürworten würde. Dabei wird die historische Auslegung eine wichtige Rolle spielen, denn diese berücksichtigt erst die ursprünglichen Intentionen des Gesetzgebers. Schon an dieser Stelle soll die Rückbe-sinnung auf den Charakter der Präambel und des Grundgesetzes mithilfe des in dieser Arbeit entwickelten Ansatzes einer „integrationsoffenen Auslegung“ ermöglicht werden. Nach der Feststellung, dass die Präambel zumindest jeder europäischen Lösung und damit auch der bundesstaatlichen „offen“ gegenübersteht, wird deutlich, dass die Präambel mit ihrer offe-nen Ausrichtung gegenüber der europäischen Vereinigung eine Perspektive auf das Grund-gesetz werfen kann, die so vom Bundesverfassungsgericht nicht berücksichtigt wird. Bevor aber mit Hilfe der „integrationsoffenen Auslegung“ die Verfassungsprinzipien Demokratie und Souveränität neu ausgelegt werden, erfolgt die konzeptionelle Untersuchung von Demo-kratie und Souveränität unter D I 1. – 3. Dabei wird besonders auf die Entstehungsgeschichte dieser Prinzipien eingegangen, um so den Hintergrund der Grundsatzäußerungen des Bun-desverfassungsgerichtes zu beleuchten und das heutige Verständnis von Demokratie und Souveränität in ihren Grundstrukturen zu rekonstruieren. Darüber sollen die wesentlichen Bestandteile unseres heutigen Verständnisses von Demokratie und Souveränität sowie ihrer wechselseitigen Verknüpfungen deutlich werden. Schon an dieser Stelle der Arbeit wird deutlich werden, dass das Bundesverfassungsgericht ein Verständnis von Demokratie und Souveränität entwickelt hat, das zwar tatsächlich einem europäischen Bundesstaat entge-gensteht, aber nicht zwingend im Grundgesetz angelegt ist.

Darauf aufbauend soll unter D II. mithilfe der hier entwickelten Auslegung der Bedeutungs-gehalt der beiden Prinzipien offengelegt werden, wobei auf unterschiedliche Alternativen hingewiesen wird.

Neben der „integrationsoffenen Auslegung“ als Untersuchungsschwerpunkt tritt wie im Ab-schnitt E. auch die Untersuchung der These hinzu, wonach es ein europäisches Volk (noch) nicht gebe. Dessen Existenz ist die Grundlage für jede Volkssouveränität und speziell die ei-nes europäischen Gesamtvolkes; sie wird vom Bundesverfassungsgericht in einem Absatz des Lissabon-Urteils verneint. 14 Diese Feststellung könnte aber mit guten Gründen angezwei-felt werden, was die Ausgangssituation für eine europäische Demokratie grundlegend verän-dern würde. Wie noch zu zeigen sein wird, ist die Volkssouveränität ein Bestandteil des grundgesetzlichen Demokratieverständnisses und gleichzeitig auch ihre Grundlage. Könnte ein „europäisches Volk“ in naher Zukunft einen Volkswillen formulieren, würde dies die Dis-kussionen um den europäischen Gesamtstaat und auch die Integrationsfähigkeit des Grund-gesetzes verändern, denn bisher scheint das Gericht aus dem Grundgesetz einfach Schran-ken für ein Ereignis abzuleiten, dessen Eintritt rein hypothetischer Natur ist. Die Untersu-chung dieser Frage gehört trotz ihres grundlegenden Charakters an das Ende dieser Arbeit, da die Erwägungen im entsprechenden Abschnitt ein neues Auslegungsergebnis erzwingen und damit die Perspektive auf die Aussagen des Bundesverfassungsgerichtes grundlegend verändern. Mit der Ermittlung der daraus resultierenden Auswirkungen auf das Verständnis von Demokratie und Souveränität in den Abschnitten G. und H. des Grundgesetzes wird die Untersuchung abgeschlossen und das Fazit formuliert.

Die Vereinigten Staaten von Europa

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