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Als Linnea Lagerbielke den Aufzug verließ, wurde sie sofort in den Sog der morgendlichen Hektik hineingezogen. Es schwärmte und summte und mehr als einmal hätte sie beinahe ihren Kaffee verschüttet, weil alles durcheinander lief. Es war der Tag vor der Deadline und natürlich hatte niemand die Zeit davor ausreichend genützt. Der Fluch eines Reporters griff immer mehr um sich und Linnea war froh, dass nicht sie dafür verantwortlich gemacht werden konnte. Immerhin konnte sie nur korrigieren was auch auf ihrem Schreibtisch landete und bevor es nicht durchgesehen war, konnte sie es nicht ans Layout weiterleiten.

Sie zwängte sich zu ihrem Schreibtisch, ihren Kaffee schützend an die Brust gedrückt und ließ sich ächzend auf ihren Stuhl fallen. Sofort sprang ihr ihre beste Freundin Kristina Einarsson zur Seite, noch bevor Linnea ihren Becher hatte abstellen können. „Morgen, Morgen! Motiviert?“ Linnea sah auf und blinzelte. „Wie eine Honigbiene.“ Sie ließ den Computer hochfahren und schaltete den Bildschirm an. Kristina, die Cheflektorin des größten schwedischen Musikmagazins, Sonic, packte auf ihrem Tisch derweilen ihr Frühstück aus und tippte ihr Passwort in den Rechner. Linnea saugte den letzten Rest Flüssigkeit aus ihrem Becher und hob einen Stapel Mappen auf, um an ihr Telefon zu kommen. Wie zu erwarten blinkte darauf die Nummer ihrer Chefin. „Mein Gott, ich bin noch nicht mal zu spät und sie schafft es trotzdem, mich nicht zu erreichen“, seufzte sie, und Kristina verdrehte die Augen. „Wenn sie sich wieder beschwert, dass die Titelstory noch nicht einmal im Layout ist, verlange ich mehr Gehalt.“ Sie hatte ihr Medienprogramm geöffnet und Joe Cocker krächzte „Let’s Go Get Stoned“. „Ach verdammt“, grinste Linnea, „genau das würde ich jetzt auch gern tun.“ Sie drückte auf den Abspielknopf des Anrufbeantworters und die Stimme ihrer Chefin beorderte sie in ihr Büro sobald sie angekommen war. Genervt stand sie wieder auf und zog ihr Shirt zurecht. „Ein Computer ist nur so schnell wie seine Prozessoren.“ „Sag ihr einfach: When you work so hard all the day long...“, sang ihr Kristina hinterher und Linnea streckte ihr die Zunge heraus.

Auf dem Weg ins Büro der Chefredakteurin begrüßte sie ein paar ihrer Kollegen und nahm noch zwei weitere Mappen in Empfang, die ihren Rotstift erforderten. Irgendwo spielte einer „Friday I’m in Love“ und Linnea ertappte sich dabei wie sie mitsummte, bevor sie in an die Tür von Karla Sundholm klopfte. „Herein!“ Linnea war immer wieder von der Ruhe fasziniert, die in diesem Raum herrschte. Fast so, als wäre die Außenwelt nicht existent. Es erschlug einen jedes Mal, sobald man die Tür hinter sich geschlossen hatte – egal ob man kam oder ging.

„Oh, guten Morgen, Linnea. – Gut, dass du so schnell gekommen bist. – Kaffee?“ Wow, Sonderbehandlung! Also konnte es nicht um die Korrekturfahnen gehen. „Gern.“ „Setz dich doch“, bat Karla, während sie ihre Sekretärin rief, um eine frische Kanne zu bringen. Linnea tat wie ihr geheißen und warf einen Blick aus dem Fenster auf Stockholm.

„So, warum ich dich hergebeten habe...“ Karla zog eine Aktenmappe aus der Schublade und klappte sie auf. „Ich weiß, du hast dich hier eigentlich als Journalistin beworben, aber wir hatten keine Stelle für dich...“ Die Sekretärin trat ein und schenkte Linnea eine Tasse echten Kaffees ein. Dieser roch schon ganz anders als das Gebräu aus dem Automaten unten in der Kantine und Linnea tauchte ihre Nase tief hinein, bevor sie einen kräftigen Schluck nahm. „Jedenfalls“, griff Karla das Thema wieder auf, nachdem Linnea die Tasse wieder abgesetzt hatte, „hast du bestimmt schon von Agents Provocateurs gehört – der Band, nicht dem Label.“ Linnea konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, nickte aber. „Ja, habe ich.“ Von beidem übrigens. „Gut, gut.“ Karla schob ihr die Mappe hin und Linnea erkannte das Cover des Spin-Magazins. Darauf erkannte sie Haydn Cavendish, Kopf der Gruppe Agents Provocateurs. Sie hatte sein Konterfei schon des Öfteren gesehen, immerhin waren ihr Freund Fotograph und ihre Mutter Stylistin für das führende skandinavische Modemagazin Bon. Außerdem las sie regelmäßig die Neuigkeiten im Musikbusiness und wusste daher, dass das Model, das für seine androgyne Erscheinung und seine Frauen bekannt war, vor einem Jahr völlig überraschend in die Band eingestiegen war. Das heißt, er hatte die Band eigentlich erst neu gegründet, da sie zuvor unter anderem Namen nur leidlich bekannt gewesen war und hatte sie praktisch über Nacht völlig verwandelt.

„Also Folgendes: Die Jungs spielen nächste Woche in Stockholm.“ Ja, auch das hatte sie schon gehört, beziehungsweise auf Plakaten gesehen und gelesen. „Und du wirst am Abend davor Haydn Cavendish interviewen.“ Wie bitte was? Linnea konnte nicht verhindern, dass ihr zumindest vor ihrem geistigen Auge die Kinnlade herunterfiel. Das war immerhin ein klassischer Moment dafür.

Karla schien ihr Erstaunen nicht zu entgehen – es war vielleicht doch ein bisschen zu offensichtlich - und verschränkte die Finger auf dem Tisch. „Okay Linnea, ich sag dir wie’s ist: Ich habe einen Haufen Journalisten da draußen, deren Portfolio weit besser war als deines.“ Das war Linnea nur zu bewusst. „Aber dieses Interview ist eine etwas delikate Angelegenheit. Haydn Cavendish ist vielleicht einer der schwierigsten Interviewpartner überhaupt.“ Und Linneas Unerfahrenheit war da natürlich von großem Vorteil. „Und ich brauche ein hübsches, junges Mädchen für den Job.“ Linnea kannte den Ruf, der dem jungen Kanadier mehr als vorausgeeilt war. Ein Mädchen in jedem Hafen und mehr als ein Gerücht über seine Beziehung zu Männern. Auch wenn sie sich nicht wirklich für Mode interessierte, sie hatte von ihm gehört: dem neuen Enfant Terrible der Glamourwelt. Der junge Mann, der die Straße zum Laufsteg machte und Skandale liebte. Sie räusperte sich und straffte ihren Rücken. „Karla“, begann sie und ihre Stimme klang nicht ganz so fest, wie sie es sich wünschte. Sie würde gleich die Chance ihres Lebens ausschlagen. „Karla, so sehr ich mich auch geehrt fühle…“ Karlas Blick machte die Sache auch nicht einfacher. „Denkst du nicht, dass es kontraproduktiv wäre, einen jungen Grünschnabel wie mich auf ihn anzusetzen? Ich meine“, räusperte sie sich wieder, „wäre es nicht besser, du würdest Bengt oder Gustaf den Job geben? Die wissen was sie tun und er flirtet nicht mit ihnen.“ „Haydn Cavendish hat eine grundsätzliche Aversion gegen Journalisten“, zuckte Karla die Schultern, als wäre das eine Entschuldigung. „Er bezeichnet sie als Spione. Ich glaube, eine Frau hätte bei ihm bessere Chancen…“ „Wird er nicht versuchen mit mir zu flirten?“ „Natürlich wird er das!“, lachte Karla. „Aber er wird dir auch deine Fragen beantworten, um dich zu beeindrucken.“ „Und du gibst mir den Job nicht nur, weil alle anderen zu feige sind?“ „Ich gebe dir hier eine Chance, Linnea. Das wolltest du doch.“ Ja, das wollte sie. Nach dem Studium hatte sie lange überlegt, was man eigentlich mit Schwedisch anfangen konnte. Etwas, das sie vielleicht vorher hätte tun sollen, aber es hatte zu aufregend geklungen Bücher zu lesen, zu analysieren, die Sprachgeschichte zu studieren. Es war ihre Mutter, die sie daran erinnerte, dass sie immer wieder nicht gänzlich unmögliche Artikel für die Universitätszeitung geschrieben hatte und versuchen sollte, bei einem Magazin unterzukommen. Zufällig hatte Sonic gerade eine freie Stelle, wie ihre Mutter durch ihre Kontakte erfahren hatte und Linnea kannte sich doch ganz gut aus mit Musik.

„Wenn du Hilfe brauchst, wende dich an Ulla oder Stena“, tippte Karla auf die Mappe, die immer noch vor Linnea auf dem Tisch lag. Das Foto schien sie ein bisschen zu verspotten, sofern das möglich war. „Ansonsten habe ich dir in dieser Mappe alles zusammensuchen lassen, was dir von Nutzen sein könnte. – Ich erwarte dein Konzept in drei Tagen auf meinem Tisch.“ Das war’s also. Linnea bekam keine wirkliche Gelegenheit sich zu rechtfertigen, sie würde einfach in den sauren Apfel beißen müssen. Und verdammt, war der sauer!

Als sie wieder vor der Tür stand, fühlte sie sich als hätte sie gerade einen Dauerlauf hinter sich und wankte zurück zu ihrem Schreibtisch, wo sie sofort von Kristina in Beschlag genommen wurde. „Was hat sie gesagt? Bist du gefeuert?“ Linnea kam schlagartig in die Wirklichkeit zurück und sah ihre Freundin strafend an. „Warum sollte sie mich feuern?“ „Was wollte sie dann von dir?“ Linnea seufzte und begann mit einem Kugelschreiber auf ihrer Schreibtischunterlage zu kritzeln. „Sie möchte, dass ich ein Interview mit Haydn Cavendish führe.“ „Du machst Witze?“ Nein, sie war nie gut darin gewesen, Witze zu erzählen. Sie konnte sie sich einfach nicht merken.


Slow Dancing In A Burning Room

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