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Kapitel 15

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Sebastian Brahm parkte sein Auto vor einer kleinen Kirche in einem der Dörfer, auf seinem Weg zurück. Er befand sich nur wenige Kilometer von seiner eigenen entfernt, diese schien aber für seine Zwecke ausreichend zu sein.

Der Pfarrer, der die Gemeinde leitete, hatte bisher wenig mit ihm zu tun, was ihm aber auch gerade recht kam. Als er wieder nach Deutschland zurückgekommen war, hatte es einen gewissen Widerstand gegen ihn gegeben. Natürlich war den umliegenden Pfarrern vom Bischof persönlich verboten worden, öffentlich über seine Vergangenheit zu reden, was die Leute aber nicht davon abhielt, hinter verschlossenen Türen über ihn zu urteilen.

Diese Kirche war nicht annähernd so groß wie jene, die er oder Franz geleitet hatten, was ihm ein gewisses Überlegenheitsgefühl brachte. Sie wirkte, als ob sie höchstens fünfzig Gläubige fassen konnte, und der Pfarrer war einer dieser jungen, modernen, Gottesdiener.

Er stieg gemächlich aus und schritt auf die Pforte zu, als ihm jemand den Weg verstellte. Ein hochgewachsener Mann, mit aschblondem Haar starrte böse auf ihn herab.

„Was wollen Sie hier?“, fragte er ihn und betonte dabei das „Sie“ besonders.

„Ich muss mit dem Pfarrer reden. Bitte gehen Sie mir aus dem Weg.“

Brahm musste sich zusammenreißen, um keinen aggressiven Tonfall anzuschlagen, doch der großgewachsene Hüne bewegte sich keinen Millimeter.

„Ich glaube nicht, dass unser Pfarrer mit Leuten wie Ihnen irgendetwas zu bereden hat“, sagte er nur, die Augen nicht vom anderen Mann nehmend.

„Hans! Es ist schon in Ordnung. Lass ihn durch“, kam eine Stimme aus dem Kirchenschiff.

Ein junger Mann hatte gerufen und stand nun lässig auf der obersten Stufe, die von der Kirchentüre hinabführte.

Er machte ein paar Schritte auf sie zu und der Riese trat endlich zur Seite.

„Woher wussten Sie, dass ich gerade hier anzutreffen bin?“, fragte er den älteren Pfarrer und streckte dabei die Hand aus.

„Zufall“, entgegnete Pfarrer Brahm. Wenn er hier niemanden vorgefunden hätte, wäre er einfach zur nächsten Kirche weitergefahren. So sparte er sich aber den Weg.

Er ergriff die Hand des jungen Pfarrers und stellte sich vor.

„Pfarrer Brahm, ich bin der Leiter der Nachbargemeinde. Ich glaube nicht, dass wir schon das Vergnügen hatten.“

Aus der Nähe betrachtet sah er jetzt die graublauen Augen seines Gegenübers. Augen, die einem das Gefühl gaben, vollkommen durchschaut zu werden.

Sebastian Brahm wollte sie ihm hier und jetzt aus dem Kopf drücken.

„Nein, hatten wir nicht. Christian Stolz ist mein Name. Hoch erfreut“, entgegnete er ihm.

„Gehen wir lieber in mein Büro, da können wir ungestört reden.

Hans, bitte kümmere dich um die Äste“, sagte er noch zu dem großgewachsenen Mann, bevor er sich umdrehte und seinem Besucher anzeigte, ihm zu folgen.

Der Riese brummte nur und ging davon.

„Sie wissen ja wie das ist. Die Leute bauen eine Verbindung zu ihrem Priester auf und sind dann sehr argwöhnisch, wenn Fremde auftauchen.“

Pfarrer Brahm nickte und gab sich Mühe, mit dem Jüngling Schritt zu halten.

Das Innere der Kirche machte einen größeren Eindruck als es von außen den Anschein hatte. Die Holzbänke waren zwar nicht blankpoliert, wie jene auf denen er heute Morgen gesessen war, sie machten aber dennoch einen imposanten Eindruck.

Der Altar, leicht erhoben im hinteren Teil des Kirchenschiffs schaute, für Sebastian Brahms Geschmack, ein wenig zu neu aus, aber die Kirchenfenster erschienen in der vormittäglichen Sonne in unwiderstehlichem Glanz.

Sie durchquerten das Kirchenschiff und gingen auf der rechten hinteren Seite durch eine kleine, unauffällige Türe. Das Büro, das sich dahinter verbarg, rundete den Eindruck, den er von dem jungen Pfarrer hatte, vollkommen ab. Ein Laptop befand sich auf seinem Schreibtisch, hinter dem ein großer, lederner Chefsessel stand. Für Besucher waren zwei bequeme Polsterstühle bereitgestellt und ein Flachbildfernseher hing an einer der Wände.

So etwas würde es bei ihm nie geben, dachte sich Pfarrer Brahm. Ein Büro hatte respekteinflößend zu wirken, und nicht wie das Zimmer eines 15-Jährigen.

Pfarrer Stolz setzte sich in seinen Chefsessel und wies seinen Besucher an, auf einem der Polsterstühle Platz zunehmen, was dieser aber nicht tat.

„Ich stehe lieber, wenn es Ihnen nichts ausmacht“, sagte Pfarrer Brahm und sein Gegenüber zuckte nur mit den Schultern.

„Wie es Ihnen recht ist. Nun, warum sind Sie heute hier?“

„Ich möchte die Beichte ablegen.“

Der junge Pfarrer runzelte seine Stirn und betrachtete sein Gegenüber ein paar Sekunden lang argwöhnisch.

„Ich habe die Geschichten über Sie gehört. Also die von damals, aber auch einige von heute.

Es ist wahrscheinlich nicht in meinem Interesse, dass ich sie hier nochmals genauer höre. Sie sollten zu Ihrem Kollegen, Pfarrer Steiner gehen, er kann das auch für Sie machen und zwar ohne in ein moralisches Dilemma hereingezogen zu werden.“

Sebastian Brahm wurde bleich. Der Anblick seines Freundes, auf dem Boden seiner Kirche liegend, erschien ihm wieder vor seinem geistigen Auge. Er räusperte sich, um sich wieder zu fangen und erwiderte:

„Pfarrer Steiner ist tot. Er wurde heute in der Nacht angefallen und umgebracht und ich habe berechtigte Sorgen, dass ich der Nächste bin.“

Die Augen des jungen Mannes weiteten sich im Schock.

„War es eine dieser Morde?“, stammelte er.

Nun war es an Pfarrer Brahm, seine Stirn in Falten zu legen.

„Was meinen Sie damit?“

„Es gibt Gerüchte, dass in letzter Zeit vermehrt katholische Priester umgebracht werden. Aber das so etwas in unserer Mitte passiert!

Woher wissen Sie das mit dem Mord überhaupt?“

Unruhig ging der ältere Pfarrer vor dem Schreibtisch auf und ab.

„Ich war heute Morgen bei ihm in der Kirche. Als ich das Gebäude betrat, befand sich schon die Polizei dort. Irgendwie habe ich es geschafft, mich an den ganzen Uniformierten vorbei zudrücken und stand auf einmal vor seiner Leiche. Er war wirklich schlimm zugerichtet. Und seitdem, verfolgt mich etwas.“

„Was genau verfolgt Sie?“, fragte der junge Pfarrer.

„Ein Geist … oder mehrere. Ich habe das Gefühl, sie beobachten mich. Sie sagen mir Dinge, die niemand außer mir wissen kann …

Und versprechen mir, dass sie mich heute Abend als Nächsten holen werden.“

Pfarrer Stolz schüttelte seinen Kopf.

„Kann es sein, dass Sie einen Nervenzusammenbruch erlitten haben? Ich meine, es könnte ja sein, dass Sie sich das alles nur einbilden …“

„Nein“, sagte der Besucher vehement. „Nein. Diese Dinger spielen mit mir. Sie können von Menschen Besitz ergreifen, und zumindest einmal hat es auch die Mutter eines Kindes miterlebt.“

„Sie haben doch nicht etwa … Sie wissen schon …?“, fragte der junge Pfarrer, während er ziellos Gesten mir seinen Händen vollführte.

Sebastian Brahm verstand sofort, was sein Gegenüber meinte.

„Nein, nein. Dem Kind habe ich nichts getan. Ich war bei so einer Hellseherin, die mir übrigens absolut nicht weiterhelfen konnte. Ihr Kind hat mir dann gesagt, dass ich nur noch bis heute Abend Zeit haben werde …“

Pfarrer Stolz runzelte nun die Stirn und überlegte ein wenig.

„Na gut. Ich kann Ihnen gerne die Beichte abnehmen, wenn Sie dazu bereit sind. Wollen sie in den Beichtstuhl gehen, oder wäre es Ihnen auch hier recht?“

„Ich glaube, es ist auch in ihrem Büro möglich. Auf das ganze Drumherum können wir getrost verzichten.“

Mit diesen Worten setzte sich Pfarrer Brahm und beide bekreuzigten sich.

„Gelobt sei Jesus Christus“, fing der junge Pfarrer an und der Beichtnehmer antwortete mit:

„In Ewigkeit. Amen.“

Pfarrer Stolz rezitierte einen kurzen Bibelvers, während sein Gegenüber sich noch einmal konzentrierte und im Stillen betete.

„Ich bin heute hier, um in Demut meine Sünden zu bekennen“, fing er an, sobald der junge Pfarrer mit dem Bibelvers zu Ende war und geriet ins Stocken.

Er hatte noch nie jemandem die ganze Wahrheit über seine Taten erzählt. Sogar, als er eine genaue Befragung über sich ergehen lassen musste, konnte er gewisse Details verschweigen. Aber wenn er sich jetzt von wirklich allen seinen Sünden befreien wollte, musste er ehrlich sein.

„Ich bin oft der Versuchung erlegen … Vor allem, seitdem ich Pfarrer bin. Ich habe meine Ministranten unsäglich berührt und mein Verhalten danach damit gerechtfertigt, dass sie es doch auch wollten. Je öfter ich es machte, desto weiter wollte ich gehen.

Die Eltern vertrauten mir, und machten es mir viel zu leicht. Das erste Mal, als mir das Berühren nicht mehr ausreichte, flößte ich einem 10 Jahre alten Mädchen Alkohol ein und verging mich dann an ihr. Sie hat es nie ihren Eltern gesagt und ich tat es wieder.

Das „Brechen“ von neuen Kindern machte mir am meisten Spaß. Ein Junge beging Selbstmord, als seine Eltern ihm nicht glaubten und stattdessen mich verteidigten. Diese Tat tut mir mittlerweile besonders leid.

Hätte er doch nichts gesagt, wäre er heute vielleicht noch am Leben …

ich zügelte meine Gelüste danach etwas, aber es dauerte nicht lange, bevor ein weiteres Kind auspackte. Diesmal glaubten die Eltern mir nicht, und immer mehr und mehr Leute schienen mich zu meiden. Während dieser Zeit lernte ich eine junge Frau kennen, mit der ich eine kurze Affäre hatte. Sie war auch eine Außenseiterin, und ich war froh, jemand gefunden zu haben, der mich nicht von vornherein verurteilte. Sie wurde schwanger und, nachdem sie das Kind behalten wollte, musste ich mich von ihr distanzieren.

Eine offizielle Untersuchung des Vatikans fand statt und ich wurde aufgefordert, über all die Vorfälle zu schweigen. Meine Versetzung nach Südamerika kam kurz danach.

Als ich in Kolumbien ankam, versuchte ich, mich zu bessern, aber es half nichts. Ich schaffte es, die Zahl der Kinder gering zu halten, aber hin und wieder übermannte mich die Versuchung. Waisenkinder schienen das einfachste Ziel zu sein. Ich fand auch genügend Gleichgesinnte und all die Jahre, die ich dort verbrachte, bekam ich nicht ein einziges Mal Probleme mit den Eltern oder dem Gesetz.

Nach 17 Jahren wurden meine Gebete endlich erhört und ich durfte nach Deutschland zurückkehren. Mir war klar, dass ich einen Neustart machen musste, und so nahm ich mir vor, mich an die Regeln zu halten.

Dies ging auch gut, bis ich Franz Steiner kennenlernte. Er sagte mir bei unserem ersten Treffen, dass er wusste, wer ich war, mich aber verstand. Zuerst glaubte ich noch, eine gleiche Seele gefunden zu haben, aber schon bald brachte er mich dazu, wieder auf meine alten Bahnen zurückzukehren.

Er selbst hatte schon ein paar Kinder und ich nahm an seinen, wie er sie nannte „Abenden“, teil. Heute Morgen wollte ich ein paar Fotos abholen, die er von uns gemacht hatte, und ich konnte sie an mich bringen, bevor die Polizei sie finden konnte.“

Der ihm gegenübersitzende Pfarrer schüttelte nur seinen Kopf.

„Dies sind alle meine schweren Sünden. Ich bitte um Verzeihung“, damit schloss Pfarrer Brahm seine Beichte.

„Meine Güte … Herr Brahm … wie Sie wissen, funktioniert eine Beichte nur, wenn der Beichtende seine Sünden aufrichtig bereut. So wie ich das sehe, müssen sie sich der Polizei stellen. Das ist der einzige Weg, wie Sie wirkliche Buße vollbringen können. Wenn Sie ins Gefängnis kommen, was ich annehme, versuchen sie, ihre Opfer zu erreichen und bitten Sie inständig um Vergebung.“

Tränen begannen, an Pfarrer Brahms Wangen herunterzulaufen. Er nickte und der junge Priester erhob sich.

„Gott, der allmächtige Vater, hat durch den Tod und die Auferstehung seines Sohnes die Welt mit sich versöhnt und uns den Heiligen Geist gesandt zur Vergebung der Sünden. Durch den Dienst der Kirche schenke er Dir Verzeihung und Frieden. So spreche ich Dich los - von all Deinen Sünden: Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes."

Dabei machte er das Kreuzzeichen über den Sünder und beendete somit die Beichte.

Sebastian Brahm sammelte sich noch ein paar Sekunden, bevor er sich die Tränen von den Wangen wischte und aufstand.

„Vielen Dank“, sagte er und fügte hinzu: „Ich weiß, dass ich ein schwerer Sünder bin. Haben sie zufälligerweise einen Rasierer für mich? Ich muss mich noch herrichten, bevor ich zur Polizei fahre.“

Pfarrer Stolz legte ihm eine Hand auf die Schulter und führte ihn in eine kleine Kammer mit einem Waschbecken und einem Badezimmerspiegel.

„In dem Kasten hinter dem Spiegel finden Sie alles, was Sie brauchen. Normalerweise ist diese Kammer für mich reserviert, damit ich mich vor der Messe nochmals fertig machen kann. Lassen Sie sich aber ruhig Zeit, ich bin nebenan in meinem Büro.“

Nachdem die Türe hinter ihm zugezogen wurde, machte er sich an die Arbeit.

Pfarrer Stolz musste nur ungefähr eine Viertelstunde warten, bis die Türe zu seinem Büro aufging und ein vollkommen veränderter Mann vor ihm stand.

Sebastian Brahm hatte sich das Haar zur Gänze abgeschoren, seine Jeans und das Hemd und seine Jacke hielt er sauber gefaltet in den Händen und ein reumütiger Ausdruck lag auf seinem Gesicht.

„Hier, Sie können meine Gewänder jemandem geben, der sie dringender benötigt“, sagte er.

Überrascht, aber angetan von der offensichtlichen Buße, erwiderte der junge Pfarrer:

„Ich halte es zwar nicht für notwendig, dass sie wie ein Sünder aus dem Mittelalter durch die Gegend laufen, aber wenn es Ihnen ein Anliegen ist, kann ich das gerne für Sie erledigen.

Aber bitte, nehmen sie zumindest eine der alten Decken mit, damit Sie sich nicht auf dem Weg zur Polizei eine Lungenentzündung holen.“

Nachdem sie ihm die alte Decke besorgt hatten begleitete der junge Priester ihn noch bis zum Kircheneingang, wo sich ein sichtlich überraschter Hans beim Anblick bekreuzigte.

„Ich wünsche Ihnen viel Glück. Möge Gott mit Ihnen sein und Sie beschützen“, sagte Pfarrer Stolz, als sich der ältere Mann in sein Auto setzte und davonfuhr.

Sebastian Brahm fühlte sich besser. Er hatte nicht das Gefühl, jetzt sicher zu sein, aber zum ersten Mal seit langer Zeit war er mit sich selbst wieder im Reinen. Was auch immer jetzt passieren würde, lag in Gottes Hand.

Als er vor der Polizeistation vorfuhr und ausstieg, hatte er nicht das Bedürfnis, wegzulaufen. Ruhig und mit gefasster Miene ging er auf die gläserne Türe zu und wich im letzten Moment noch einem rothaarigen Mann aus, der ihn auf eine seltsame Art und Weise an den jungen Priester erinnerte, der ihm die Beichte abgenommen hatte.

Die Polizisten auf der Polizeistation schauten ihn zuerst nur seltsam an, und wollten ihn schon wegschicken, als er das Bündel Fotos auf den Rezeptions-tisch legte und darauf bestand, eingesperrt zu werden.

Auf dem Weg in die kleine Zelle der Station dachte er nochmals an Maria. Sie würde es am härtesten treffen. Heute Abend, wenn er nicht aufkreuzte, würde sie den Umschlag öffnen, seinen Brief lesen und das Sparbuch finden.

Zumindest musste er ihr nicht persönlich erzählen, warum sie ihn nicht mehr sehen konnte.

















Sünder

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