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Kapitel 4
ОглавлениеSebastian Brahm, seines Zeichens Pfarrer einer kleinen Gemeinde im Süden Deutschlands, hatten die Nachrichten über die Mordfälle noch nicht erreicht.
Er war erst seit einem halben Jahr wieder in hier tätig, zurückgekommen aus dem Exil in Südamerika.
Seinen letzten verbliebenen Freund, der er noch am Vorabend getroffen hatte, ließ sich nicht mehr erreichen.
Als Sebastian deswegen um 8 Uhr morgens an der Kirche, in der sein Freund arbeitete, vorbeifuhr, konnte er bereits die Blaulichter der Polizeiautos aufblitzen sehen.
Die Menschenmenge ließ nichts Positives vermuten, aber er hatte hier keine Wahl. Was auch immer passiert sein mochte, er musste hinein.
Nachdem er das Auto am Parkplatz abgestellt hatte und sich auf dem Weg zum Eingang machte, versperrte ihm ein Polizist den weg.
„Kein Zutritt für Unbefugte“, lautete die Anweisung des Ordnungswächters. Mit nun rasendem Puls packte er den Uniformierten am Arm und herrschte ihn an:
„Ich bin Pfarrer in der Nachbargemeinde. Dies ist die Kirche meines langjährigen Freundes. Lass mich sofort durch, bevor ich anfange laut zu werden, und die Leute sehen, wie Männer Gottes von euch behandelt werden!“
Zu seiner großen Erleichterung trat der Polizist peinlich berührt zur Seite.
In kleineren, abgelegenen Dörfern hatten die Leute zumindest noch Respekt vor seinem Stand.
Sebastian schob sich an dem Uniformierten vorbei und trat in den Vorraum der großen Kirche, der makellos sauber war.
Franz war noch ein Mensch der alten Garde. Seine Kirche hatte er stets absolut makellos gehalten, auch wenn das hieß, dass er selbst bis spät in die Nacht damit beschäftigt war, die Heiligenstatuen abzuwischen.
Aus dem Inneren des Kirchenschiffs drang gedrücktes Murmeln an sein Ohr, fünf, in verschiedene Uniformen gekleidete Leute standen dort und flüsterten hektisch miteinander. Was auch immer sie zu tratschen hatten interessierte den Pfarrer dennoch wenig.
Ihn zog es in den hinteren Teil der Kirche, dorthin, wo die Sakristei lag.
Wichtiger war aber die ein wenig zu groß geratene Abstellkammer, die Franz zu seinem Büro umfunktioniert hatte. Was er suchte, befand sich sicherlich noch dort.
Mit besorgter Miene eilte er weiter, durchquerte die Türe zum kleinen Gang hinter dem Hauptsaal und stürmte kurz darauf in das Büro.
Zu seiner Verwunderung war der Raum unangetastet. Die zwei Kaffeetassen standen noch an der gleichen Stelle auf dem Schreibtisch, auf denen sie am Abend zuvor gestanden waren. Was auch immer die Polizisten in der Kirche machten, hier drinnen hatten sie noch nicht herumgestöbert.
Sebastian durchquerte den Raum, und fing an die einzelnen Schubladen zu durchsuchen. Es dauerte nur kurze Zeit, bis er fündig wurde.
Das Päckchen Polaroidfotos wanderte schnell in seine Tasche und er war wieder auf seinem Weg nach draußen. Im Gang wieder angekommen sah er aus seinem Augenwinkel einen Blitz aufleuchten.
Ertappt drehte er sich in die Richtung, bemerkte aber zu seiner Erleichterung, dass eine Fotografin auf etwas an der Wand fokussiert war. Neugierig geworden machte er einen Schritt auf die Frau zu,
Den roten Fleck erkannte er sofort als das, was es war: Blut.
Es sah so aus, als ob jemand mit dem Kopf gegen die Wand gerannt war. Vorsichtig, um sie nicht zu stören, näherte Sebastian sich ihrem Rücken und die private Toilette des Pfarrers kam zum ersten Mal in sein Blickfeld.
Die bunte Milchglasscheibe war zersprungen, der Bolzen um die Tür zuzuschließen hing nur noch lose am Holz und in der Mitte der sonst so sauberen Kacheln lag Franz. Mit drei schnellen Schritten, und noch bevor irgendjemand bemerkt hatte, dass er da war, war er bei seinem Freund.
Dieser Anblick konnte aus einem Horrorfilm stammen. Franz blickte leblos mit nur noch einem Auge an die Decke, Blut und ausgerissene Haarbüschel klebten in Flecken an den Wänden. Automatisch streckte Sebastian seine Hand nach dem Leichnam aus, um ihm die Augenlieder zu schließen, während er ein kurzes Gebet murmelte, aber jemand packte ihn von hinten am Kragen und riss ihn zurück.
„Sind sie vollkommen wahnsinnig?“, herrschte ihn eine fremde Stimme an. Die Fotografin hatte ihn nun doch bemerkt, „Das ist ein Tatort, lassen sie die Leiche gefälligst in Ruhe!“
Geschockt und nun auf seinem Hintern sitzend starrte der Pfarrer hinauf in ihr Gesicht.
„Ich … er braucht das letzte Sakrament … er war mein Freund …“
Tränen standen in seinen Augen und er zitterte am ganzen Körper. Er fühlte sich Hilflos, wie er nun so am Boden dasaß.
Weitere Personen waren durch das Geschrei der Fotografin herangeeilt und 4 Arme packten den Pfarrer und zogen ihn hoch.
„ Lassen sie zuerst uns unsere Arbeit machen, dann schauen wir, was sie für ihren Freund tun können“, sprach ihm eine beruhigende, junge Stimme ins Ohr.
Die zwei Polizisten zogen ihn durch den Gang in Richtung des Kirchenschiffs während der Mann nur geschockt durch die Gegend starrte.
Als sie den Spiegel vor dem Eingang zur Haupthalle passierten, der Franz immer eine letzte Möglichkeit gegeben hatte, seine Kleidung auf den richtigen Sitz zu überprüfen, sah Sebastian vier Personen darin.
Ihn selbst, die zwei Polizisten und einen groß gewachsener Jugendlichen, der ihn durch den Spiegel angrinste, während er hinter der Prozession hermarschierte.
Die Polizisten setzten den alten Pfarrer in eine der hinteren Kirchenbänke und versuchten ihm gut zuzureden, aber ihre Worte erreichten ihn nicht.
„Was haben wir getan, um so etwas zu verdienen?“, fragte der Alte ohne seinen Blick zu heben.
„Wir waren vielleicht nicht die besten Menschen, aber alles was wir gemacht haben, war für Gott. Man muss ihnen den rechten Weg weisen. Sie wollten es doch, oder? Oder?“, seine Stimme hob sich und einer der Uniformierten legte ihm die Hand auf die Schulter um ihn zu beruhigen.
Pfarrer Brahm riss seinen Blick vom Boden und starrte den Polizisten an, als ob er ihn gerade geschlagen hätte.
Der Polizist drehte sich zu seinem Kollegen und sagte ihm: „Geh und hol ihm einen Becher mit Wasser, er ist vollkommen im Schock.“
Als die zwei unter sich waren kniete er sich vor den alten Mann, der augenscheinlich nichts mehr von seinem vorherigen Elan übrig hatte, hin und redete ihm weiter gut zu. Was der Pfarrer aber jetzt hörte, war eine andere Stimme. Körperlos und verzerrt, aber so nahe bei seinem Ohr, dass ihm der Schweiß ausbrach.
„Was du getan hast, weißt du genau, Pfarrer Sebastian Brahm“, sprach sie in einem ruhigen Tonfall, „Unsere Würde können wir nicht mehr zurückbekommen, aber jetzt sind wir frei. Schnell, schnell, lauf los und sag es allen deinen Freunden. Du hast nicht mehr viel Zeit, nur noch bis heute Abend, dann kommen wir zu dir!“
Schreiend schoss der alte Mann auf die Beine und der Polizist hatte Mühe, ihn festzuhalten.
„Ich muss hier raus!“, schrie der Pfarrer hysterisch.
„Können Sie gleich, aber zuerst trinken Sie mal was“, bekam er als Antwort des Polizisten, der bei ihm geblieben war.
Der zweite Polizist trat wieder zu ihnen und reichte dem Geistlichen einen Becher Wasser, den er mit großer Anstrengung entgegennahm und in einem Zug austrank.
„… Gibt es jemanden, den wir für Sie rufen können?“, fragte einer der Uniformierten.
„Schänder!“, flüsterte die gleiche Stimme wie zuvor.
„Ja, meine Haushälterin“, hörte er seine eigene, jetzt brüchige Stimme.
Mit zitternden Händen fischte er sein Handy aus der Hosentasche und berührte dabei den Stapel an Fotos, den er eingesteckt hatte.
„Mörder!“, zischte die Stimme.
Er schaffte es erst beim dritten Versuch, sein Telefon zu entsperren, reichte es einem der Polizisten und sagte: „Maria … das ist ihr Name.“
Der uniformierte Mann wandte sich ab und telefonierte.
„Schuldig! Mörder! Schänder!“, brüllten jetzt weitere Stimmen während der andere Polizist versuchte, mit ihm Smalltalk zu betreiben.
„Ich muss raus“, sagte Sebastian noch einmal kurz und der Polizist half ihm auf und stützte ihn auf dem Weg aus dem Kirchenschiff.
Die Eingangshalle war nun mit schlammigen Fußabdrücken übersäht und der alte Mann ertappte sich dabei, wie er daran dachte, dass Franz das gar nicht gutheißen würde.
„Lauf nur. Du weißt, wir werden dich finden. Heute Abend.“
Die Stimmen wurden leiser, je näher sie der Hauptpforte kamen, die in Sonnenlicht getaucht war.
Draußen half der Polizist dem Pfarrer auf einer der Steinbänke Platz zunehmen und Sebastian Brahm konnte zum ersten Mal wieder frei durchatmen. Sein Helfer versuchte wieder mit ihm ein Gespräch zu beginnen aber der Mann hob nur die Hand und sprach:
„Bitte, geben sie mir 5 Minuten Zeit, damit ich mich ausruhen kann. Danach kann ich gerne ihre Fragen beantworten.“
Hier, im Sonnenlicht des Morgens sitzend, spürte er förmlich, wie seine Kräfte wieder zu ihm zurückkehrten.
Auch wenn ihn die Erinnerung an die Leiche seines Freundes nie ganz verließ.
Der zweite Polizist stieß wieder zu ihnen und überreichte Sebastian das Handy mit den Worten: „Fünf Minuten, länger sollte sie nicht brauchen. Sie scheinen sich wieder ein wenig gefangen zu haben, wir brauchen noch ihren Namen und ihre Adresse. Wir werden später auf sie zurückkommen.“
Der Pfarrer seufzte, gab aber Antwort.
Nur ein paar Minuten später kam ein roter Peugeot mit hohem Tempo die Straße herunter und blieb mit quietschenden Bremsen auf dem Parkplatz stehen. Eine junge Frau mit blonden Haaren schoss förmlich aus dem Wagen und war mit drei langen Schritten zwischen den Polizisten und dem Geistlichen.
„Herr Pfarrer! Um Himmels willen! Was ist hier los? Ist etwas passiert?“, schrie sie beinahe.
Pfarrer Brahm, nun wieder lebendig wirkend erhob sich langsam und hob beschwichtigend seine Hand.
„Alles ist in Ordnung, Kind. Ich erzähl es dir später, wenn wir unter uns sind. Hilf mir bitte ins Auto.“
Die junge Frau musterte die beiden Polizisten abfällig, die noch immer verdutzt vor der Steinbank standen, drehte sich aber schließlich um und half dem Mann auf den Beifahrersitz.
Während der Fahrt zurück ins Nachbardorf erzählte er ihr in groben Details was passiert war, während er immer wieder Blicke in den Rückspiegel warf, um sicher zu gehen, dass sie sich nur zu zweit in dem Auto befanden.