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Offenbarungen
ОглавлениеIn praktisch jeder erzählten Story, ob nun Komödie oder Tragödie, sind die wichtigsten expositorischen Fakten immer Geheimnisse, dunkle Wahrheiten, die die Figuren vor der Welt und manchmal sogar vor sich selbst verbergen.
Und wann kommen Geheimnisse ans Licht? Wenn jemand vor einem Dilemma steht, bei dem es gilt, das kleinere Übel zu wählen: »Wenn ich mein Geheimnis offenbare, riskiere ich damit, den Respekt meiner Lieben zu verlieren« gegen »Aber wenn ich mein Geheimnis nicht offenbare, passiert etwas noch viel Schlimmeres«. Der Druck dieses Dilemmas bringt die Geheimnisse in Bewegung, und während sie gelüftet werden, entwickeln sie eine Wucht, aus der kraftvolle Wendepunkte entstehen. Aber woher kommen die Geheimnisse?
Die Backstory: Frühere Ereignisse, die künftige vorantreiben
Der Begriff »Backstory« wird häufig missverstanden und fälschlich in der Bedeutung von »Lebensgeschichte« verwendet. Die Biographie einer Figur besteht aus dem lebenslangen Zusammenspiel von Genen und Erfahrungen. Die Backstory ist eine Teilmenge dieser Gesamtheit – ein meist geheimes Vergangenheitsexzerpt aus Ereignissen, die von Autoren in Schlüsselmomenten offengelegt werden, um ihre Story zum Höhepunkt zu führen. Da Offenbarungen aus der Backstory oft einschneidendere Auswirkungen haben als eindeutige Aktionen, bleiben sie für die großen Wendepunkte reserviert. Nachstehend finden Sie ein berühmtes Beispiel dieser Technik.
Wer hat Angst vor Virginia Woolf?
In diesem 1962 verfassten Stück von Edward Albee ertragen George und Martha, ein Paar mittleren Alters, ihre konfliktreiche Ehe. Zwei Jahrzehnte lang haben sie praktisch ständig über jeden winzigen Aspekt der Erziehung ihres Sohnes Jim gestritten. Nach einer anstrengenden, exzessiven Partynacht voller Alkohol, Beschimpfungen und Ehebruch, gekrönt von einem heftigen Streit über ihren Sohn vor den Gästen, wendet sich George an Martha und sagt:
GEORGE: Wir haben noch eine kleine Überraschung für dich, Martha.
Es handelt sich um unsern Augapfel … um unsern Jimmy.
MARTHA: Schluss, George.
GEORGE: NEIN, MARTHA! (…) Mein Schatz, ich fürchte, ich habe eine schlimme Nachricht für dich … für uns natürlich … eine sehr traurige Nachricht.
MARTHA (argwöhnisch, ängstlich): Was? Was für eine Nachricht?
GEORGE (ach so geduldig): Ja, Martha, als du draußen warst (…), da klingelten plötzlich die Türglocken (…). Sie läuteten … Und – es fällt mir schwer, es dir zu sagen, Martha …
MARTHA (mit einer merkwürdigen, heiseren Stimme): Sag es mir.
GEORGE: Es war … es war ein Telegrafenbote … ein kleiner Junge … ungefähr siebzig …
MARTHA (interessiert): Der verrückte Willy?
GEORGE: Ja, Martha, der verrückte Willy … Und er brachte ein Telegramm … an uns beide adressiert … und ich muss dir sagen, was drinstand.
MARTHA (abwesend): Warum haben sie es nicht telefonisch durchgegeben, das tun sie sonst doch immer? Warum haben sie es hergebracht? Warum haben sie es nicht telefonisch durchgegeben?
GEORGE: Es gibt Telegramme, die zugestellt werden müssen, Martha. Es gibt Telegramme, die man nicht telefonisch durchgibt.
MARTHA (steht auf): Was heißt das?
GEORGE: Martha … ich weiß nicht, wie ich es sagen soll … (…) (seufzt tief) Martha, ich fürchte, unser Junge kommt zu seinem Geburtstag nicht nach Hause.
MARTHA: Natürlich kommt er.
GEORGE: Nein, Martha.
MARTHA: Doch, er kommt. Wenn ich sage, er kommt, dann kommt er!
GEORGE: Nein … er … kann nicht.
MARTHA: Doch, er kommt!
GEORGE: Martha … (Lange Pause.) … unser Sohn … ist tot. (Stille.) Er ist … verunglückt … am späten Nachmittag … (Stille. Ein unmerkliches Kichern.) … auf einer Landstraße … seinen Lernfahrausweis in der Tasche … er wollte einem Stachelschwein …
MARTHA (starr vor Entsetzen und rasend vor Wut): DAS … DARFST … DU NICHT!
GEORGE: … ausweichen.
MARTHA: DAS DARFST DU NICHT!
GEORGE (ruhig, leidenschaftslos): Ich musste es dir sagen.
MARTHA (zittert am ganzen Leib vor grenzenloser Wut und vor Schmerz über den Verlust): NEIN! NEIN! DAS DARFST DU NICHT! DU KANNST NICHT MACHEN, WAS DU WILLST! ICH LASSE DICH NICHT!
GEORGE: Wir müssen ungefähr um zwölf Uhr mittags hier weg …
MARTHA: ICH LASS DICH NICHT MACHEN, WAS DU WILLST!
GEORGE: … er muss identifiziert werden, und auch sonst gibt es natürlicherweise viel zu erledigen …
MARTHA (stürzt sich auf George, aber ohne Erfolg): DAS DARFST DU NICHT! (…) ICH LASS DICH NICHT MACHEN, WAS DU WILLST!
GEORGE: Ich glaube, du begreifst nicht, was vorgefallen ist, Martha.
Ich habe nichts damit zu tun. Nimm dich jetzt zusammen Unser Sohn ist TOT! Geht dir das nicht in den Kopf?
MARTHA: DU KANNST NICHT MACHEN, WAS DU WILLST!
GEORGE: Hör zu, Martha. Hör mir genau zu: Wir haben ein Telegramm erhalten. Ein Autounfall, er ist tot, PENG! … einfach so. Was sagst du jetzt?
MARTHA (ein Schrei, der schließlich in klagendem Stöhnen endet): Nei-ei-ei-ei-einnnn … (…) (erbarmungswürdig) Nein, nein, er ist nicht tot, er ist nicht tot …
GEORGE: Er ist tot, Kyrie eleison. Christe eleison. Kyrie eleison.
MARTHA: Das darfst du nicht. Du kannst nicht machen, was du willst.
GEORGE: Richtig, Martha. Ich bin nicht der liebe Gott. Ich habe keine Macht über Leben und Tod.
MARTHA: DU DARFST IHN NICHT TÖTEN! DU DARFST IHN NICHT EINFACH STERBEN LASSEN! (…)
GEORGE: Wir haben ein Telegramm erhalten, Martha.
MARTHA (steht auf; sie steht ihm direkt gegenüber und schaut ihm in die Augen): Zeig es mir! Zeig mir das Telegramm!
GEORGE (lange Pause; dann, mit ganz ernstem Gesicht): Ich habe es verschluckt.
MARTHA (Pause; dann ungläubig, fast hysterisch): Was hast du gesagt?
GEORGE (kann nur mit größter Anstrengung verhindern, dass er laut herauslacht): Ich … habe es … verschluckt (Martha starrt ihn lange an und spuckt ihm dann schließlich ins Gesicht.) Ist dir jetzt wohler, Martha?11
Der Höhepunkt von Wer hat Angst vor Virginia Woolf? wird durch die Offenbarung des Geheimnisses aus Georges und Marthas Backstory zum Wendepunkt: Jim, der Sohn, um den sie sich ständig streiten, ist eine Erfindung. Sie haben ihn sich ausgedacht, um die Leere ihrer Ehe zu füllen. Der Einsatz einer Backstory als Wendung einer Story ist beim Umsetzen der Exposition die kraftvollste Technik überhaupt.