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CHARAKTERISIERUNG
ОглавлениеDie zweite Funktion von Dialogen besteht darin, jeder handelnden Figur eine unverwechselbare Charakterisierung zu schaffen und diese dann zum Ausdruck zu bringen.
Die menschliche Natur lässt sich sinnvollerweise in zwei vorherrschende Aspekte unterteilen: Schein (das, was eine Person zu sein vorgibt) und Sein (das, was eine Person wirklich ist). Autoren gestalten ihre Figuren also unter Verwendung zweier zusammenhängender Komponenten: wahrer Charakter und Charakterisierung.
Der wahre Charakter – die Bezeichnung sagt es schon – meint das innerste psychologisch-moralische Wesen einer Figur, eine Wahrheit, die sich nur offenbart, wenn das Leben die Figur unter Druck setzt, in die Enge treibt und sie dazu zwingt, Entscheidungen zu treffen, aktiv zu werden. Allem Erzählen, ob fiktiv oder nicht, liegt das Prinzip der Entscheidung zugrunde: dass sich der wahre Charakter einer Figur nämlich nur durch risikoreiche Entscheidungen beim Verfolgen seiner Wünsche offenbart.
Die Charakterisierung bezeichnet die gesamte Erscheinung – den Schein – einer Figur, die Summe all ihrer oberflächlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen. Sie erfüllt drei Funktionen: Interesse wecken, Überzeugen und Individualität schaffen.
1. Interesse wecken: Leser und Zuschauer wissen, dass die Erscheinung einer Figur nicht ihrem wahren Sein entspricht, dass ihre Charakterisierung Fassade ist, eine Persönlichkeitsmaske zwischen der Welt und dem wahren Charakter dahinter. Treffen diese Leser/Zuschauer nun auf eine einzigartige Persönlichkeit, dann hören sie sich an, was die Figur sagt, und fragen sich naturgemäß: »So scheint sie zu sein, aber wie ist sie wirklich? Ist sie tatsächlich ehrlich, oder lügt sie? Ist sie liebevoll oder grausam? Klug oder töricht? Gelassen oder unbedacht? Willensstark oder schwach? Gut oder böse? Was ist der Wesenskern hinter ihrer interessanten Charakterisierung? Was ist ihr wahrer Charakter?«
Sobald die Story sich das Interesse der Leser/Zuschauer gesichert hat, wird sie zu einer Abfolge überraschender Offenbarungen, die Antworten auf diese Fragen geben.
2. Überzeugen: Eine gut erdachte, gut entwickelte Charakterisierung versammelt (geistige und körperliche) Fähigkeiten und (emotionale und verbale) Verhaltensweisen, die Leser/Zuschauer dazu anhält, so an eine fiktive Figur zu glauben, als wäre sie echt. Wie der englische Dichter Samuel Taylor Coleridge schon vor zweihundert Jahren festgehalten hat, wissen die Leser/Zuschauer natürlich, dass Storys und Figuren nicht real sind. Aber sie wissen auch, dass sie, um sich auf die Erzählung richtig einlassen zu können, vorübergehend daran glauben oder besser gesagt, ihren Unglauben willentlich außer Kraft setzen und die Aktionen und Reaktionen der Figuren akzeptieren müssen, ohne zu zweifeln oder dagegenzuhalten.
Wenn Ihre Leser/Zuschauer sich denken: »Ich glaube ihr kein Wort«, weil sie spüren, dass die Figur lügt, könnte das eine Offenbarung ihres wahren Charakters sein. Wenn sie dasselbe aber denken, weil sie einfach nicht an Ihre Figur glauben, dann ist es Zeit für eine neue Fassung.
3. Individualität schaffen: Eine gut erdachte, gut recherchierte Charakterisierung erzeugt eine einzigartige Kombination aus genetischen Anlagen, Erziehung, Körper, Geist, Gefühl, Bildung, Erfahrung, Haltung, Werten, Geschmack und jeder denkbaren Nuance kultureller Einflüsse, denen die Figur ihre Individualität verdankt. So, wie sie durch den Tag geht, wie sie ihre berufliche Karriere verfolgt, ihre Beziehungen, ihre Sexualität, ihre Gesundheit, ihr Glück und dergleichen, fasst sie ihre Verhaltensweisen zu einer einzigartigen Persönlichkeit zusammen.
Und die wichtigste Charaktereigenschaft überhaupt ist: Sprechen. Sie spricht ganz anders als irgendjemand sonst, dem wir bisher begegnet sind. Ihr Sprachstil setzt sie nicht nur vom übrigen Figurenpersonal ab, sondern, wenn es sich um meisterhaftes Schreiben handelt, auch von allen anderen fiktiven Figuren. Ein noch recht aktuelles Beispiel ist Jeanette »Jasmine« Francis (Cate Blanchett) aus Woody Allens Blue Jasmine. (Auf die Charakterisierung durch Dialog wird in den Kapiteln 10 und 11 noch genauer eingegangen.)