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Direktes Erzählen
ОглавлениеDie Mahnung »Zeigen, nicht sagen« gilt nur für dramatische Dialoge in Spiel-Szenen. Klares, kunstvolles Erzählen, ob nun im Buch, auf der Bühne oder auf Leinwand bzw. Bildschirm, ob als narrativer Dialog oder als Erzählung in der 3. Person, hat nämlich zwei entscheidende Vorzüge: Schnelligkeit und Kontrapunkte.
1. Schnelligkeit: Eine Erzählung kann etliche expositorische Informationen in wenige, schnelle Worte packen, den Lesern/Zuschauern damit erste Einblicke gewähren und weitergehen. Ein innerer Monolog hat die Fähigkeit, den Subtext im Handumdrehen in Text zu verwandeln. Die Selbstgespräche einer Figur können willkürlich und frei assoziierend von Erinnerung zu Erinnerung springen oder von plötzlichen Bildern erfüllt sein, die aus dem Unterbewusstsein auftauchen. Solche schön gestalteten Passagen können mit einem Satz Gefühle erzeugen. Ein Beispiel aus dem Roman Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez: »Viele Jahre später, vor dem Erschießungskommando, sollte Oberst Aureliano Buendía sich an jenen fernen Nachmittag erinnern, als sein Vater ihn mitnahm, das Eis kennenzulernen.«12 Das ist schnelles, lebendiges Erzählen – ein komplexes, zu einem einzigen Satz verdichtetes Bild.
Viel zu oft allerdings wird filmisches Erzählen ein Instrument zum Erzeugen langweiliger Expositionen nach dem Muster: »Und dann … und dann … und dann …« Diese Praxis ersetzt die einfache Arbeit des Sagens durch die mühselige Aufgabe des Zeigens. Dialogszenen für Film und Fernsehen, die komplexe Figuren dramatisieren, erfordern Talent, Wissen und Fantasie – für wortlastige Erzählungen braucht man nur eine Computertastatur.
Um aus einer narrativen Exposition eine dramatische Szene zu machen, können Sie auf zwei Techniken zurückgreifen:
Erstens: Schalten Sie eine Szene dazwischen. Verwandeln Sie das »Und dann … und dann … und dann« in eine erzählte Szene, in ein dramatisches »Ich sagte … er/sie sagte …«. Erzählinstanzen (egal, ob Ich-Erzähler in der Prosa und auf der Bühne oder Voiceovers in Film und Fernsehen) können den Dialog einer Szene entweder Wort für Wort nach der Erinnerung wiedergeben oder ihn durch indirekten Dialog andeuten.
Die Netflix-Serie House of Cards beispielsweise schaltet häufig Szenen mit indirektem Dialog dazwischen. Kevin Spaceys Figur Frank Underwood dreht sich oft zur Kamera und spricht mit uns, als wäre er der Dozent und wir seine Studenten in einem Seminar zur politischen Intrige. Im folgenden Beiseitesprechen dramatisiert Underwood eine Exposition, indem er uns sowohl einen Einblick in sich selbst als auch in eine Figur namens Donald gewährt. In dieser lebendigen, nur zwei Sätze langen metaphorischen Szene stellt Underwood Donalds charakterliche Schwäche dar:
Was sich ein Märtyrer am meisten wünscht, ist der Tod durchs Schwert. Also schärft man die Klinge, richtet sie genau auf ihn, und dann drei, zwei, eins …
Und gleich im nächsten Beat erklärt Donald, er wolle für Underwoods Missetaten geradestehen, so wie Professor Frank es uns vorausgesagt hat.
Zweitens: Erzeugen Sie einen inneren Konflikt. Inszenieren Sie ein Selbst-Duell, bei dem eine Seite der erzählenden Figur mit einer anderen in Streit gerät. Zwei Beispiele aus Filmen: Frank Pierce (Nicolas Cage) in Martin Scorseses Bringing Out the Dead – Nächte der Erinnerung oder der erwachsene Ralphie Parker (Jean Shepherd als Voiceover) in Bob Clarks Fröhliche Weihnachten.
2. Kontrapunkte: Nach meiner Erfahrung bereichert die kontrapunktische Erzähltechnik eine Story am meisten. Anstatt eine Erzählinstanz dafür einzusetzen, die Geschichte wiederzugeben, dramatisieren manche Autoren ihre Story komplett durch und verwenden dann eine Erzählinstanz dafür, ihren Sujets zu widersprechen oder sie ironisch zu brechen. Dabei können sie ironische Bemerkungen nutzen, um Tragisches aufzulockern, oder Tragik, um einer Satire Tiefe zu verleihen. Sie können das Persönliche kontrapunktisch zum Gesellschaftlichen setzen oder das Gesellschaftliche kontrapunktisch zum Persönlichen.
Nehmen wir als Beispiel John Fowles’ postmodernen, historischen Antiroman Die Geliebte des französischen Leutnants. Das halbe Buch erzählt dramatisch die Story von Charles Smithson, einem viktorianischen Adligen, und seinem Verhältnis zu Sarah Woodruff, einer gesellschaftlich geächteten Gouvernante. Doch zwischen dieser Geschichte ist eine Erzählinstanz mit heutigem Wissen über die Kultur und die Klassenkonflikte des 19. Jahrhunderts geschaltet, die die Romanze zwischen Charles und Sarah untergräbt. Kontrapunkt für Kontrapunkt erläutert uns diese Erzählinstanz, dass das 19. Jahrhundert für mittellose Frauen mehr Leid als Romantik bereithielt.
Weitere Beispiele: In Y Tu Mamá También ruft die Voiceover-Erzählerstimme als Kontrapunkt zur Coming-of-Age-Story den Zuschauern mehrfach die gesellschaftlichen Leiden Mexikos in Erinnerung. Im Stadtneurotiker bilden Woody Allens geistreiche Voiceovers den Kontrapunkt zu den Selbstgeißelungen seines Protagonisten. In Samuel Becketts Stück Spiel blickt ein Figurentrio, das bis zum Hals in Urnen steckt, von der Bühne ins Publikum und gibt in einem einander kontrapunktisch beleuchtenden Dreiersystem seine scheinbar willkürlichen Gedankengänge zum Besten.
Das natürliche Medium der direkten Erzählung ist die Prosa. Roman- und Kurzgeschichtenautoren können Expositionen so schamlos in den Vordergrund stellen und über so viele Seiten hinweg ausdehnen, wie sie wollen, solange sie das in fesselnder, überzeugender Sprache tun. Charles Dickens beispielsweise eröffnet seine Geschichte aus zwei Städten mit einem wahren Ausbruch kontrapunktischer Exposition, die die Neugier der Leser gleich gefangen nimmt:
Es war die beste und die schlimmste Zeit, ein Jahrhundert der Weisheit und des Unsinns, eine Epoche des Glaubens und des Unglaubens, eine Periode des Lichts und der Finsternis: Es war der Frühling der Hoffnung und der Winter der Verzweiflung; wir hatten alles, wir hatten nichts vor uns; wir steuerten alle unmittelbar dem Himmel zu und auch alle unmittelbar in die entgegengesetzte Richtung …13
Beachten Sie, wie Dickens’ allwissende Erzählinstanz ihren Lesern das »Wir« hier wie einen Arm um die Schultern legt und sie in die Erzählung hineinzieht. Und vergleichen Sie das mit der konfrontativen, schnell getakteten Ich-Erzählerstimme, mit der Ralph Ellisons Roman Der unsichtbare Mann beginnt:
Ich bin ein Unsichtbarer. Nein, keine jener Spukgestalten, die Edgar Allan Poe heimsuchten, auch keins jener Kino-Ektoplasmen, wie sie in Hollywood hergestellt werden. Ich bin ein wirklicher Mensch, aus Fleisch und Knochen, aus Nerven und Flüssigkeit – und man könnte vielleicht sogar sagen, dass ich Verstand habe. Aber trotzdem bin ich unsichtbar – weil man mich einfach nicht sehen will. Wie die körperlosen Köpfe, die man manchmal auf Jahrmärkten sieht, als wäre ich von erbarmungslosen Zerrspiegeln umgeben. Wer sich mir nähert, sieht nur meine Umgebung, sich selbst oder die Produkte seiner Fantasie – ja, alles sieht er, alles, nur mich nicht.14
In späteren Kapiteln setzen sowohl Dickens als auch Ellison dramatische Szenen ein, doch manche Prosaautoren tun das nie. Stattdessen pflastern sie Seite um Seite mit direktem Erzählen, beschränken sich darauf und stellen kein einziges Ereignis dar.
Versuchen Sie doch einmal, sich zu überlegen, wie Sie die Exposition dieser beiden Passagen in dramatische Szenen spielbaren Dialogs umschreiben könnten. Das wäre theoretisch machbar. Shakespeare hätte es sicher hinbekommen, aber unter was für Verrenkungen? Wenn man für Leser schreibt, ist Erzählen ein wahres Wundermittel. Schreibt man für Schauspieler, gilt das Gegenteil.
Idealerweise fließt die Exposition bei Darstellungen auf Bühne, Leinwand und Bildschirm dem Publikum unmerklich mit dem gesprochenen Wort zu. Wir haben bereits gesehen, dass Geduld, Talent und Technik nötig sind, um Expositionen unsichtbar zu machen. Ungeduldigen, wenig inspirierten Drehbuchautoren fehlen diese drei Qualitäten, sie zwingen ihrem Publikum die Exposition auf und hoffen auf Vergebung.