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Sie liefen durch den noch immer strömenden Regen und durch zahllose Hintergärten von Einfamilienhäusern. Das Gewitter und mit ihm auch der stark tosende Wind zog zwar weiter, jedoch öffnete der Himmel immer noch sämtliche Schleusen. Binnen weniger Minuten waren sie völlig durchnässt. Zwar spürte sie die Nässe und die Kälte; sie machten ihr aber nicht mehr so viel aus wie noch vor einem Jahr.

Einige dieser Gärten kannte sie. Allmählich erinnerte sie sich wieder an alles. Einige der Leute in diesen Häusern, die hier ihr alltägliches Familienglück lebten, kannte sie.

Früher einmal lebte sie genauso. Okay, sie hatte nie einen Vater an ihrer Seite gehabt, ihre Mutter aber hatte stets dafür gesorgt, dass es ihr an nichts fehlte. Manchmal hatte sie einen Vater schon vermisst, besonders wenn sie nach Geburtstagsfeiern bei ihren Freunden und Freundinnen nach Hause kam und den ganzen Tag mit angesehen hatte, wie der Vater zum Beispiel das Fleisch grillte, mit den Jungs Fußball spielte oder Dinge tat, die ein Vater auf einer Kindergeburtstagsfeier eben so tat.

Und doch kam sie ganz damit zurecht, nur mit ihrer Mutter hier zu leben. Ihre Mutter liebte sie wirklich über alles, und sie liebte ihre Mutter ebenso sehr. Sie fragte sich, wie es ihr jetzt wohl ging, wo sie wohnte und wie sie ihren Tod vor einem Jahr verkraftet hatte.

Wahrscheinlich hatte sie sehr darunter gelitten, aber nicht aufgegeben. Dafür war sie stets eine zu starke Kämpferin gewesen. Sie war sicher gleich nach ihrem Tod und der Beerdigung umgezogen, da das Haus, in dem ihre Tochter aufgewachsen war, nun von einer anderen Familie bewohnt wurde, wie sie am Mittag dem Klingelschild hatte entnehmen können.

Sie konnte sich zwar nicht mehr an ihren Namen erinnern, fühlte aber doch, dass sie in dem Haus, auf dessen Stufen sie weinend gesessen hatte, als Tom sie fand, mehrere glückliche Jahre verbracht hatte. Der Name auf dem Klingelschild hingegen rief in ihr keinerlei Gefühle wach.

Das Haus sah, verglichen mit ihrer Erinnerung, jetzt sehr verändert aus. Ihre Mutter musste also schon etwas länger fort sein, denn eine solche Veränderung hätte sie ganz sicher nicht durchgeführt. Nein, das musste die neue Familie gewesen sein, die jetzt in ihrem früheren Zuhause lebte.

Während sie Tom ihre Vergangenheit schilderte, zweifelte dieser immer weniger an ihrer Geschichte. Und als sie schließlich von ihrer Entführung erzählte und nochmals ihr Todesdatum erwähnte und den Ort, an den sie gebracht wurde, klingelte es endlich auch bei ihm. Er erzählte ihr, dass ihr Bild damals überall im Fernsehen zu sehen war. Er erwähnte, dass sie zuerst als vermisst gemeldet wurde und dass die Kripo in den Medien bei der Suche nach ihr um Unterstützung bat. Und kurze Zeit später sei dann ihre Leiche gefunden und der Täter erschossen worden.

Er zweifelte jetzt nicht mehr an ihrer Auferstehung. Auf die Frage, warum sie sich denn erst nach einem Jahr entschlossen habe, aus ihrem Grab zu steigen, wusste auch sie keine Antwort.

Sie spürte, dass sie doch nicht so richtig zum Leben erweckt worden war. Etwas stimmte nicht mit ihr. Gut, ihr Herz schlug, sie atmete und sie konnte herumlaufen und sprechen, aber irgendwas war anders. Sie war nicht mehr dieselbe. Irgendwas hatte das, was auch immer sie wieder zum Leben erweckt hatte, mit ihr gemacht. Und irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass dieses Etwas noch in ihr war. Und dieses Etwas verlieh ihr, wie sie an den Schlägen mit der Pfanne gemerkt hatte und an ihrer Befreiung aus dem Sarg, Kräfte, die übermenschlich zu nennen waren.

Aber beide, sie und Tom, kamen einfach nicht dahinter, was dieses Etwas sein sollte. Während sie noch darüber spekulierten, was sie wohl aufgeweckt hatte, sprang Tom plötzlich mit einem besorgten Blick von der Couch auf und ging zu seinem Wohnzimmerschrank. Er holte ein seltsames Gerät hervor und erklärte ihr, es sei ein Nachtsichtgerät. Mit diesem Ding bewaffnet ging er zum Fenster, das zur Straße hin lag und durch welches Christine auch den verlumpten Mann beobachtet hatte.

„Dacht ichs mir doch“, sagte Tom, als er sich vom Fenster ab- und ihr wieder zuwandte. Tom erzählte ihr, während er eine nicht zu übergroße Jacke für sie auswählte, was er auf dem Friedhof gesehen hatte. Und jetzt hatte er denselben Kerl im Wagen gegenüber wieder gesehen, der mit einem anderen Kerl im Auto sprach. Tom sagte ihr, dass dieser zweite Kerl gerade aus dem Auto stieg und sich in das dahinterstehende Auto setzte. Er war der Ansicht, dass sie nun von den beiden Kerlen in dem zweiten Wagen überwacht wurden. Auch war er der Ansicht, dass sie besser aus seiner Wohnung verschwinden sollten.

Er hatte ihr die Jacke gegeben und dazu die kleinsten Turnschuhe, die er besaß; und er hatte versucht, diese so fest zu binden, dass die Schnürsenkel fast zerrissen waren. Das feste Binden sorgte zwar dafür, dass sie nicht aus den Schuhen herausrutschte, konnte aber doch nicht verhindern, dass die Schuhe an ihren Fersen schlappten. Und dies bekam sie nun zu spüren, während sie, seine Hand haltend, hinter ihm herrannte.

Nachdem sie die Wohnung verlassen hatten, stiegen sie die Treppen zum Keller hinunter. Sie machten dabei kein Licht an. Der Keller war schon unheimlich im Dunkeln, aber sie hielten sich auch nicht lange dort auf.

Tom öffnete ein hochgelegenes Kellerfenster und schob Christine durch die Öffnung hinaus in den strömenden Regen. Er selbst hatte etwas Mühe, durch das Fenster zu krabbeln; er war zwar sportlich genug, um ohne Schwierigkeiten die Höhe zu erreichen, jedoch war das Fenster fast zu eng für die Ausmaße seines Körpers.

Nach einigem Ziehen und Wenden schaffte er es, und sie machten sich auf den Weg, die Gärten in der ihr vertrauten Nachbarschaft unsicher zu machen.

Während ihrer Lauferei hatte sie ihn gefragt, ob er eine Ahnung habe, was für Leute das seien, die da vor dem Haus Wache standen. Er hatte nur gemeint, er vermute irgendwelche Regierungstypen, da sich normale Polizisten so nicht verhalten würden. Und auf die Frage, wo sie denn nun hinlaufen würden, antwortete er nur mit einem knappen: „Zu einer Freundin.“

Tom war 32, hatte er ihr gesagt. In einem Alter, in dem er auch ihr Vater hätte sein können. Vielleicht, weil sie sich insgeheim nach einem Vater sehnte, hatte sie ihn schon jetzt in ihr Herz geschlossen. Vielleicht auch, weil er der erste und einzige Mensch war, dem sie nach ihrer Auferstehung begegnet war. Auf jeden Fall konnte sie ihn sehr gut leiden. Er war nicht allzu böse gewesen, als sie ihn niedergeschlagen hatte. Ansonsten war er ein Mann, der ihr, wäre sie ein paar Jahre älter gewesen, sicher gut gefallen hätte. Er war immer mit kleinen Späßchen bewaffnet, mit denen er sie von ihrer eigentlichen seltsamen Situation abzulenken vermochte.

Seit der Entdeckung der beiden Kerle vor dem Haus war er etwas wortkarg geworden. Das mochte aber daran liegen, dass er die Situation jetzt als ernst einstufte und keine Zeit mehr auf irgendwelche Scherze vergeuden wollte.

Nachdem sie einige Zeit über Zäune geklettert und über matschige Wiesen gerannt waren, bemerkte sie, dass Tom schneller atmete, was zwar angesichts der Strecke, die sie zurückgelegt und des Tempos, das sie angeschlagen hatten, nicht ganz verwunderlich war, aber eben doch angesichts der Tatsache, dass sie selber überhaupt keine Anstrengung verspürte und noch nicht einmal schneller atmen musste. Das Einzige, was ihr zu schaffen machte, waren die für sie zu großen Schuhe. Die nervten sie ganz ordentlich.

Als sie nach einiger Zeit wieder zur Straße zurückgelangten und schon am Ortsausgang waren, blieb Tom stehen und nahm sein Handy aus der Jackentasche. Er betrachtete mit Skepsis den regenschweren dunklen Himmel und fragte sich wahrscheinlich gerade, ob der Regen wohl dem Handy schaden würde. Er drückte auf ein paar Knöpfchen und wartete, bis der gewählte Gesprächspartner abnahm.

„Ja, hallo, ich bin’s, Tom. Hör mal … – Was? Nein. Mir geht’s gut. Bin nur ein wenig nass und hab einen Bärenhunger.“ Erst jetzt fiel Christine auf, dass sie weder Hunger noch Durst verspürte. Okay, sie hatte eben ein Glas Saft bei Tom getrunken. Aber auch nur so. Nicht um einen Durst zu löschen. Tom sprach weiter: „Könntest Du uns abholen? Was? Nein, erklär ich dir später, wen ich mit ‚uns‘ meine. Ich steh hier am Ortsausgang von Sonnenbach. Was? Ja, Richtung Stadt. Nein, ein kleines Mädchen. Ach, hör mal, hast Du noch Mädchenkleider? Oh Mann, nicht für mich. Nein, Du kennst meine sexuellen Vorlieben. Und, äh, könntest Du Dich ein wenig beeilen? Ich weiß nicht, ich glaub nicht, dass es die Polizei ist. Eher die Regierung. Was? Nein, mir ist niemand gefolgt. Zehn Minuten? Alles klar. Bis gleich.“

Tom legte auf und steckte das Handy wieder ein.

„War das die Freundin?“

„Ja, das war die Freundin. Jennifer Triden ist ihr Name. Sie ist nett. Sie wird Dir gefallen. Sie ist auch etwas kleiner, daher werden Dir ihre Kleider schon eher passen als meine. Du siehst ziemlich witzig aus in den großen Schuhen, mit dem Bademantel und der feschen Lederjacke!“

„Danke, das sind Deine Sachen. Ich kann auch nix dafür.“

„Hey, lass Dich nicht von mir ärgern. Also, sie will in zehn Minuten hier sein. Wir warten hier so lange in dem schönen Regen. Bei ihr können wir dann erstmal was essen und Dich schick machen. Dann verbringen wir die Nacht bei ihr, und morgen wird Jenni uns helfen, Deine Mutter ausfindig zu machen. Ist das okay für meine Zombiedame?“

Christine musste lächeln: „Ja, das ist okay für die Zombiedame.“

Tom stellte sich hinter sie und versuchte, sie so gut es ging mit seinem Körper und seiner ausgebreiteten Jacke vor dem Regen zu schützen. Ja, sie konnte ihn sehr gut leiden. Sie kannten sich noch nicht lange, aber er kümmerte sich sehr liebevoll um sie.

Und morgen würden sie endlich ihre Mutter anrufen, wo auch immer sie sein mochte.

Tarlot

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