Читать книгу Tarlot - Robin Geiss - Страница 4
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ОглавлениеEin schönes Bündel 100-Mark-Scheine steckte in seiner Tasche. Ein fetter Batzen. Ja, das fühlte sich gut an. Diese Stange Geld entschädigte für so ziemlich alles. Damit konnte man schon was anfangen, damit ließ es sich leben. Aber den Jungen macht es auch nicht wieder lebendig, meldete sich die rechtschaffene Seite in ihm zu Wort, der Junge ist tot und Du hast die Kohle, Du hast die Verantwortung dafür! – Aber nein, das stimmte nicht! Er hatte den Jungen nicht auf dem Gewissen. Er hatte eingegriffen. Er hatte nicht gewollt, dass er starb. Was hätte er denn tun können? Er hatte alles versucht, um ihn zu retten. Aber wie in aller Welt hätte er wissen können, dass er mit einem Psychopathen zusammenarbeitete? Gar nicht, war die einzige vernünftige Antwort darauf. Klar, es gab viele Kaputte dort, aber nicht jeder von denen war zu so etwas fähig. Fast keiner. Die meisten zogen eh den Schwanz ein, bevor sie was anrichteten. Es gab dort nur wenige, die Mumm in den Knochen hatten. Und als mutig konnte man diesen kaltblütigen Mord wohl kaum beschreiben.
Und das Geld? Nun, selbst wenn er es zurückgäbe oder einer Wohltätigkeitsorganisation vermachte, würde das den Jungen nicht wieder zum Leben erwecken. Er war tot. Daran änderte sich nichts mehr. Und er wäre am allerwenigsten in der Lage, einen Toten zum Leben zu erwecken. Wieso machte er sich so viele Gedanken? Was geschehen war, war geschehen. Er sollte sich lieber auf die Zukunft konzentrieren. In der gab es Dinge, die noch zu verändern waren.
Tom steckte sich eine Zigarette in den Mund, nahm sein Zippo und zündete sie an. Er betrachtete die Straße vor sich. Hier, in diesen Ein- und Zweifamilienhäuschen lebten die Familien glücklich und zufrieden. Noch! Der Mann ging morgens zur Arbeit aus dem Haus; die Frau blieb daheim, versorgte die Kinder, brachte sie zur Schule, kümmerte sich um den Haushalt; und abends saß die ganze Familie wieder zusammen vor dem Fernseher wie bei den Simpsons, fügte er innerlich lächelnd hinzu. Hier war die Welt noch in Ordnung. Haha, ja, sehr in Ordnung: Der zwölfjährige Sohn dealte gerade auf dem Schulhof mit seinen Mitschülern, die sechzehnjährige Tochter versuchte, sich nebenbei ein paar Mark auf dem Strich zu verdienen, und der so liebevolle und fürsorgliche Vater sorgte gerade dafür, dass in seinem Bauunternehmen ein paar hundert Männer entlassen wurden, um das drohende Insolvenzverfahren abzuwenden; diese Leute würden eine sehr hohe Abfindung bekommen, die sie spätestens in einem Jahr wieder verprasst hätten, und zuerst auf dem Arbeits-, dann auf dem Sozialamt würden sie sich alle vereint wiedersehen. Manche von ihnen hatten vielleicht Glück und konnten dann irgendwo im Supermarkt Kassierer spielen; andere würden sich eher umbringen, als ihrer Frau zu erzählen, dass sie mit „diesem“ Schulabschluss und in „diesem“ Alter wohl keine Arbeit mehr bekämen. Dann sollten doch die Frau und die Tochter die Lebensversich… TUUUUUHHHT! – Tom wurde vom Fahrtwind des hupend vorbeirauschenden LKW fast herumgerissen.
„Fahr doch noch schneller, Du Vollidiot!“, rief er mit einer ausgestreckten Hand dem LKW hinterher. Er hatte bei seinen Träumereien über die glücklichen Familien schon halb auf der Straße gestanden. Er zog an seiner Zigarette und musste über sich und seine Gedanken lächeln. Nein, ihm ging es nicht schlecht. Und er tat nichts Schlimmeres als die meisten Einwohner in diesem fassadenschönen Land. Ja, so war es: Fassaden, überall Fassaden! Nach außen hin immer schön wirken. Die Wirklichkeit vertuschen! Das kam ihm irgendwie bekannt vor. Nun, er war umgeben von der Wahrheit. Er würde jetzt schön in sein Mietappartment gehen, ein Bad nehmen, eine Pizza bestellen und ein wenig in der Glotze rumzappen. Und nichts und niemand würde ihn heute noch stören. Er bog um die Ecke, um zu der Straße zu gelangen, in der das Mietshaus stand. Nach einem neuerlichen Zug an seiner Zigarette sah er das Mädchen. Es saß auf der Treppe am Eingang des Eckhauses, den Kopf in die Hände gestützt. Sie schluchzte. Nun, kleine Mädchen in diesem Alter, die bei Sonnenschein nachmittags draußen saßen, schluchzten schonmal. Ihre Freundinnen hatten sie geärgert, sie hatten sich ein Knie beim Rollerbladen aufgeschlagen (Geld in einer Spielhölle verloren! fügte sein Sarkasmus noch hinzu). Dies alles aber traf wohl gerade auf dieses Mädchen nicht zu. Er hatte da so ein Gefühl. Okay, jeder andere hätte dieses Gefühl wohl auch gehabt, denn daran, dass ihr etwas Besonderes zugestoßen war, hätte wohl nur ein Blinder gezweifelt. Sie saß in einem sehr dünnen Kleidchen da. Wahrscheinlich war es einmal weiß gewesen, doch nun war es ein graubrauner Lumpen, an manchen Stellen zerrissen, ausgefranst und zerlöchert. Selbst ihre dunkelbraunen schulterlangen Locken waren dreckverschmiert. Welche Mutter würde ihr Kind in solch einem dünnen Kleidchen, eher wohl noch einem Nachthemdchen, auf die Straße schicken? Noch dazu in dieser Jahreszeit. Es war November und saukalt. Und dass jemand so mit Dreck verschmiert sein konnte …
„Hey! – Hey, Kleine!“, sprach Tom sie an.
Er ging noch zwei Schritte auf sie zu. Sie blieb zwar sitzen, aber sie blickte ihn nicht an und zeigte auch sonst keine Reaktion.
Tom ging vor dem Mädchen in die Hocke. Er hatte keine Erfahrung mit Kindern. Was machte er überhaupt hier? War sie sein Problem? Vielleicht wollte er nur irgendwie jemandem helfen. Jemandem helfen, weil er dem Jungen nicht geholfen hatte. Blödsinn, sagte er zu sich in Gedanken und konzentrierte sich wieder auf das Mädchen. Er zog noch einmal an seiner Zigarette und schnippte sie dann auf die Straße.
„Hey, Kleine, was ist denn los?“, fragte er das Mädchen, während er seine Hand nach ihr ausstreckte und ihr über die Schulter strich. Das Mädchen hob langsam den Kopf und schaute ihn an. Auch ihr Gesicht war dreckverschmiert; es glänzte von ihren Tränen.
Als Tom die Trauer in ihrem Gesicht sah, erschrak er: „Hey, was ist denn passiert? Was hast du denn?“, fragte er so sanft er konnte.
„Letztes Jahr starb ich mit elf Jahren“, sagte sie und blickte ihm in die Augen.
Ein Frösteln lief über Toms Rücken. Was war das? Was hatte sie gesagt!? Sie starb!? Sie war gestorben? Was!? Er war ganz verwirrt. Wahrscheinlich war die Verwirrung, von der das Mädchen offenbar ergriffen war, ansteckend.
„Hör mal, ähm … was Du da sagst, ist wohl ein wenig, ähm … ungewöhnlich. Wo wohnst Du? Wo sind Deine Eltern?“
Das Mädchen blickte ihn stumm an, hob langsam die Schultern und ließ sie wieder sinken. Tom hatte ein ungutes Gefühl. Er blickte sich ratlos um. Die Straße war menschenleer. Hinter ihm, auf der Hauptstraße, rauschte noch immer ab und zu ein LKW vorbei. Außer ihm und dem Mädchen war hier niemand zu sehen.
„Hey, jetzt beruhig Dich erstmal und sag mir mal, wie Du heißt.“
„Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nichts. Außer dass ich letztes Jahr gestorben bin. Ich habe … ich war …“. Sie fing an zu stammeln und brach dann erneut in Tränen aus.
„Schhhh“, versuchte er sie zu beruhigen, „hey, es wird alles wieder gut. Komm, wir gehen jetzt erstmal zu mir und dann wäschst du dich und dann rufen wir deine Eltern an, ja?“
Tom stand auf und reichte dem Mädchen seine Hand. Das Mädchen erhob sich langsam und reichte ihm seine Hand. Sie zitterte am ganzen Körper. Verständlich bei dieser Kälte, und noch dazu war sie total abgemagert. Tom konnte nicht glauben, dass es möglich war, mit solch dünnen zitternden Beinchen überhaupt zu laufen. Aber sie schaffte es. Er ging langsam, Hand in Hand mit dem verschmutztesten – etwa jetzt zwölfjährigen? – Mädchen, das er je zu Gesicht bekommen hatte, auf das Haus zu, in dem er wohnte. – Was hatte sie ihm gerade erzählt? Die musste total verwirrt sein!
„LETZTES JAHR STARB ICH MIT ELF JAHREN“, hallte es in seinem Kopf wieder. Was für ein Unsinn! Ihre Hand war eiskalt. Kein Wunder bei so einem dünnen Totenkleidchen. Nein, kein Totenkleid! Tote kamen nicht wieder. Tote blieben tot. Der Tod …
Seine Gedanken kehrten ins Diesseits zurück, als er auf einmal ein leichtes Ziehen an seiner linken Hand verspürte. Schnell schloss er seine Hand fester um die ihre, da sie sonst auf den Gehsteig geplumpst wäre. Anscheinend war sie ohnmächtig geworden. Das hätte er auch voraussehen können, so bleich und zittrig wie sie war.
Er ließ sie sanft zu Boden gleiten und nahm sie dann mit beiden Armen wieder auf. Die paar Meter würde er sie auch tragen können. Wenn nun irgendein Passant vorbeikäme, würde er wahrscheinlich schneller im Knast landen, als er gucken konnte. Er gab bestimmt ein schönes Bild ab mit diesem Mädchen auf den Armen, das starr vor Kälte und dreckverschmiert war. Als habe er sie geheiratet und wolle sie nun über die gemeinsame Türschwelle tragen! Auch roch sie nicht gerade frisch. Zum Glück war die Straße noch immer menschenleer. Als er bei dem Mietshaus ankam, in dem er seine Wohnung hatte, legte er das Mädchen sachte auf die oberste Stufe der Einganstreppe, schloss die Tür auf und hob die Kleine, die noch immer die Lider geschlossen hatte, wieder auf, um sie (jetzt tatsächlich) über die Schwelle zu tragen. Als er im Hausflur stand, drehte er sich, um der Tür einen leichten Tritt zu verpassen, damit sie ins Schloss fiel. Da bemerkte er eine Gestalt auf der anderen Straßenseite. Sie schien zu ihm herüberzustarren, so ganz genau konnte er das nicht erkennen. Die Gestalt war in Lumpen und Umhänge gehüllt, und eine Kapuze verdunkelte das Gesicht. Die Gestalt blieb stumm. Sie regte sich noch nicht einmal. Sie schien einfach nur bewegungslos auf der anderen Straßenseite zu stehen und ihn anzustarren. Zum zweiten Mal an diesem Tag lief ihm ein Schauer über den Rücken. Eben noch war die Straße menschenleer gewesen, und jetzt stand da dieser … dieses … keine Ahnung was … dieser Penner dort drüben und betrachtete ihn, wie er mit dem verschmutzten, kalten, übelriechenden – und toten? – Mädchen auf den Armen in seine Wohnung ging. Von der Gestalt ging nichts Gutes aus. Wer vermummte sich schon an einem solchen sonnigen Novembertag mit solchen Lumpen? Und was hatte diese Gestalt hier überhaupt verloren?!
Scher Dich weg! wollte Tom rufen, doch er blieb stumm. Eine seltsame Ausstrahlung ging von der Gestalt dort drüben aus. Eine eigenartige Aura umgab sie, die ihn daran hinderte, auch nur einen einzigen Ton über die Lippen zu bringen. Ihm wurde immer kälter. Er hatte das Gefühl, dass die Straße schmaler und schmaler wurde und dass hierdurch die Gestalt, ohne sich zu bewegen, immer näher kam. Er blickte noch immer auf die Kapuze, konnte jedoch nur Schwärze darunter erkennen. Er schien langsam in dieser Dunkelheit zu versinken. Magisch zog sie ihn an. Er wurde von ihr gerufen.
Nein, sie rief nicht, sie rief nicht laut! Doch, sie rief ihn in Gedanken, aber sie rief nicht seinen Namen, sie rief nicht „TOM“. Namen waren für diese Gestalt bedeutungslos. Er wurde so gerufen, wie er wirklich war. Nicht mit irgendwelchen Buchstaben oder Lauten. Buchstaben, die die Menschheit vor Tausenden von Jahren erfunden hatte, um besser kommunizieren zu können. Er war mehr als Thomas Schwarz. Er war mehr als diese dreizehn Buchstaben, diese drei Silben. Und genau so, mit mehr als nur Buchstaben, rief ihn die Gestalt auf der anderen Straßenseite. Ja, sie rief ihn. Sie forderte ihn zu etwas auf. Sie befahl ihm, nein, sie bat ihn, näherzukommen. Eine Bitte, der er nachkommen musste. Tom begann langsam seinen Fuß anzuheben, als eine höllisch laute Harley am Haus vorbeifuhr und ihn aus seiner Trance aufschreckte. Beinahe hätte er vor Schreck das Mädchen fallengelassen. Mit einem Fußtritt, kräftiger als noch vor wenigen Sekunden vorgesehen, beförderte er die Haustür ins Schloss und unterbrach damit endgültig die Anziehungskraft, die von der ungewöhnlichen Gestalt ausging. Nein, keine ungewöhnliche Gestalt! sagte er sich, ein Penner, nur ein Penner!
Er war verwirrt. Der tote Junge, das Mädchen auf seinem Arm, der Lumpenmann und die Behauptungen aus dem Mund des Mädchens hatten ihn verwirrt. Er schüttelte sich kurz, um wieder klare Gedanken zu bekommen, und ging, noch immer mit dem Mädchen auf den Armen, langsam die Treppen zu seiner Wohnung hinauf.