Читать книгу Tarlot - Robin Geiss - Страница 5
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ОглавлениеDer Anzug stand ihm gut. Er war ein stattlicher junger Mann, sah zwar etwas blass aus, aber das war wohl nicht zu ändern. Er betrachtete seine Hände: Die Abschürfungen vom Deckel waren noch ein wenig zu sehen, aber wenigstens war er jetzt sauber. Er blickte zur Anrichte und sah Autoschlüssel dort liegen. Ob er noch Auto fahren konnte? War das überhaupt zu verlernen? KEr hatte keine Ahnung. Selbst wenn er jemanden hätte fragen wollen, so hätte er nicht gewusst, wen. Wer war denn schon einmal in einer solchen Situation gewesen? Von allen, die er kannte, wohl niemand. Er bezweifelte stark, dass es jemanden gab, der in einer solchen Situation wie er steckte, jemanden, den er nicht kannte. Nunja, es gab da jemanden, von dem er wusste, dass es ihr wahrscheinlich genauso ging wie ihm. Er wusste nicht, warum er sich da so sicher war. Aber er war sich dessen genauso sicher wie der Tatsache, dass mittlerweile ein Jahr vergangen sein musste. Warum ausgerechnet ein Jahr? Egal. Er wusste jedenfalls, dass er jetzt wieder da war. Um weiterzumachen und um sein begonnenes Werk zu vollenden. Um fertigzustellen, was irgendein blöder Zufall vor einem Jahr noch nicht zugelassen hatte. Aber das Schicksal war auf seiner Seite. Ja, er war wieder da! Und diesmal würden ihn keine Kugeln aufhalten. Nach einem erneuten Blick in den Spiegel, der ihm, abgesehen von seiner weißlichen Haut, sein makelloses Aussehen bestätigte, drehte er sich um und ging zurück in die Küche. Er würde noch einen Happen essen, bevor er sich auf den Weg machte. Er verspürte zwar keinen Hunger, aber sicher war sicher. Er wollte nicht durch ein blödes Hungergefühl abgelenkt werden. Er öffnete die Kühlschranktür und griff nach der Stangensalami und ein paar Joghurts. Nachdem er sich ein Messer und einen Löffel aus der Schublade neben dem Kühlschrank genommen hatte, setzte er sich an den Tisch und begann zu essen. Und nachzudenken. Er dachte an die vergangenen Stunden. Er dachte daran, wie er aufgewacht war. Und wie er nichts als Dunkelheit erblickte und nur den Moder roch und die Fäulnis. Er dachte daran, wie er zuerst an dem Deckel herumgeklopft und ihn schließlich, mit übermenschlicher Kraft, zerschmettert hatte. Dabei schürfte er sich zwar ein wenig die Haut an den Händen auf, aber es kam kein Blut zum Vorschein. Durch die Erde. Erde fiel ihm in die Augen, in den offenen Mund. Überall war Erde. Und er drückte sich mit den Füßen immer weiter nach oben. Er begann die Erde mit den Händen beiseitezuschieben und sich nach oben durchzuarbeiten. Immer wieder rieselte Erde nach. Dann der Durchbruch. Endlich spürte er die Luft. Die klare Luft einer klaren Novembernacht. Er hatte es geschafft. Er war raus aus dem Loch. Er war draußen. Er lag neben der aufgeworfenen Erde auf dem Rücken, betrachtete den zunehmenden Mond und sog die Luft ein. Zu diesem Zeitpunkt wusste er weder, wo er war, noch wer er war, noch was sich ereignet hatte.
Doch jetzt, mehr als einen halben Tag später, hatte er wieder alle Erinnerungen, die er jemals besaß. Jetzt, nachdem er den Friedhof verlassen und hier an diesem Haus geklingelt hatte, nachdem ihn die freundliche alte Ehefrau von Klaus Bernhardt, der in ein paar Teile zerstückelt neben einem Stuhl lag, in ihr Haus gelassen hatte, kam ihm die Erinnerung wieder. An alles, was er jemals getan hatte. Er stieß mit der rechten Schuhspitze den Arm von Klaus ein wenig beiseite. Welch wunderbaren Kontrast das rote Blut auf den schwarzen Lackschuhen bildet, dachte er, während er ein Stück von der Salami abbiss. Nachdem er sie ganz aufgegessen hatte, verließ er die Küche. Diese kleine Schlampe lebte ebenfalls, das wusste er. Er fühlte sich zu ihr hingezogen. Und er würde zu ihr gehen. Er würde sie finden, da war er sich ganz sicher. Und wenn er sie fand, würde er da weitermachen, wo er vor einem Jahr aufgehört hatte, hatte aufhören müssen. Aus diesen beiden Leichen hier im Hause machte er sich nichts. Die waren nur Mittel zum Zweck. Sie passten in seine Pläne. Und was waren schon hier und da ein paar Leichen mehr oder weniger. Er brauchte jedenfalls auch etwas zum Anziehen. Und der Anzug von diesem Klaus stand ihm ausgezeichnet. Ein fahrbarer Untersatz war ebenfalls nicht schlecht. Sobald es dunkel würde, wollte er sich auf den Weg machen, diese kleine Schlampe suchen und weitermachen. Er blickte noch einmal zurück in die Küche und betrachtete Klaus. Ja, der sah kaputt aus, aber zu leiden hatte er nicht viel gehabt. Im Gegensatz zu seiner Frau. Die war vielleicht noch am Leben. Aber das war ihm jetzt auch egal. Die heutige Nacht jedenfalls würde sie nicht überleben. Dafür hatte sie zu viele Wunden am Körper, aus denen das Blut sickerte. Und selbst wenn sie sich irgendwie auf dem Stuhl im Wohnzimmer von dem Klebeband befreien könnte, was schier unmöglich war, würde sie niemals diese Schmerzen aushalten können und sich zum nächsten Telefon robben. Gehen würde sie mit abgeschnittenen Zehen wohl kaum mehr. Und sich voranziehen? Daran glaubte er auch nicht so recht. Er hatte so ungefähr 50 Nägel in jede ihrer Hände geschlagen. Jemand, der solche Schmerzen nicht gewöhnt war, konnte mit ihnen auch nicht umgehen. Als er ihr Bild in Gedanken sah, musste er grinsen: den Mund zugeklebt, die Augen weit aufgerissen, halb wahnsinnig, halb flehentlich. Und die Haut rund um ihre Schultern in dreieckigen Fetzen herunterhängend. Wie eine geschälte … eine … ja, eine was? Fiel ihm nicht ein. Auf jeden Fall fand er es komisch.
Er nahm die Schlüssel von der Anrichte und verließ das Haus.