Читать книгу Tarlot - Robin Geiss - Страница 8

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„Hör zu, mein Entschluss steht fest: Mein Flug geht morgen früh um sechs. Und es wird dir wohl kaum gelingen/es wird dir wohl kaum gelingen, mich davon abzubringen, wenn nicht einmal dieses blöde Meeting morgen früh das schafft. Eigentlich bin ich auch ganz froh, dass ich dem entgehen kann.“

„Aber genau deswegen/Gerade deshalb versuche ich doch, Dich daran zu hindern“, sagte Michelle mit seinem leichten französischen Akzent / mit leichtem französischem Akzent, „ich weiß ja, was das alles für Dich persönlich bedeutet. Aber ü / Überleg doch mal, was morgen dort auf dem Spiel steht. Die wollen vielleicht deine ganze Kollektion kaufen, aber wenn Du sie nicht persönlich präsentierst, hat das Ganze fast schon keinen Sinn mehr. Die Leute warten auf Dich.“

Laura legte den zusammengefalteten Pullover in den Koffer und blickte Michelle mit einer Mischung aus Wut und Verständnislosigkeit an.

„Hör mal, diese Kleider sind mir scheißegal! Das Grab meiner Tochter ist geschändet worden. Und wie es aussieht, wurde auch noch ihre Leiche gestohlen. Weißt Du, wie beschissen man sich in einer solch einer beschissenen Situation fühlt? Hast Du den leisesten Schimmer davon, was momentan in mir vorgeht? Denkst Du, ich bleib jetzt hier und rede mit Freuden drauf los, wie toll doch meine neue Frühjahrskollektion sein wird?! Hä?“

Der Ton, den sie angeschlagen hatte, erzielte Wirkung. Michelle sah sie einfach nur mit offenem Mund an. Er war weder auf das Wort „scheißegal“ aus ihrem Mund gefasst gewesen, noch auf eine so laute Stimme.

Sie fing gerade wieder an, weitere Kleidungsstücke zusammenzufalten, als er, wohl doch nicht ganz so stark beeindruckt, erneut zu argumentieren begann:

„Aber sSieh doch mal, die Polizei wird sich darum kümmern. Du wirst ihnen wohl kaum eine Hilfe sein. Du wirst ihnen eher im Weg herum stehen. Weißt Du, wie viel Geld morgen …“

„Hör zu, es ist mir …“, sie schluckte kurz, „es ist mir egal, wieviel Geld da auf dem Spiel steht oder ob ich helfen kann. Ich fliege morgen, basta!“ Während sie noch weitersprach, schob sie ihn schon aus dem Hotelzimmer: „Es ist ja nett, dass Du Dich so um das Geld sorgst, aber ich werde meinen Entschluss nicht ändern.“

Er setzte das Lächeln auf, von dem er dachte, dass keine Frau ihm widerstehen könne; zumindest aber bei Laura irrte er sich gewaltig.

„Es geht mir doch nicht nur um das Geld. Sieh doch mal, was das für eine zusätzliche psychische Belastung für Dich darstellt, wenn Du dir das auch noch aus nächster Nähe ansiehst.“ Während er notgedrungen seine Rückwärtsschritte absolvierte, brachte er sein ‚Mir-kann-keine-Frau-widerstehen‘-Mitleidsgesicht zur vollen Entfaltung. Aber es half nichts.

„Michelle, ich danke Dir wirklich für deine Unterstützung und wünsche euch morgen alles Gute bei der Verhandlung, aber ich kann mich einfach nicht darauf konzentrieren, ob ich nun das weiße oder das blaue Hemd einpacken soll, wenn Du neben mir stehst und mich ablenkst.“ Damit knallte Laura ihm die Tür vor der Nase zu.

Laura drehte sich um und ließ sich erleichtert mit dem Rücken gegen die Tür fallen.

„Dann fliege ich mit Dir“, drang es gedämpft durch die geschlossene Tür.

„Na-hain!“

„Mais oui! Aber falls Du mich brauchst, ruf mich an. Ich habe mein Handy stets bei mir“, gab er mit einem leichten französischen Akzent1 zu verstehen.“

„Ich weiß. Vielen Dank. Wir sehen uns in ein paar Tagen. Bis da-hann!“

Oh Gott, was für eine Nervensäge! Ob er wirklich glaubte, sie würde es nicht bemerken, wie er sie ständig mit seinen Blicken auszog? Sicher, Michelle war ein sehr gut aussehender Franzose, erfolgreich in seiner Arbeit, wohlhabend. Viele Frauen hätten sich geehrt gefühlt, von ihm begehrt zu werden. Er konnte sehr charmant sein, wenn auch nur zu den Personen, von denen er etwas wollte. Aber Laura durchschaute den Eigennutz dahinter: Er war nur bereit zu geben, wenn er etwas dafür bekam. Nein, sie kam sehr gut alleine zurecht. Auch ihre kleine Tochter hatte sie alleine großziehen können/großgezogen. Nachdem ihr damaliger Freund sich schön aus dem Staub gemacht hatte, als sie schwanger wurde und die erste Verantwortung sich abzeichnete, begann sie, ohne einen Mann an ihrer Seite in einer Männerwelt zu überleben; und, wie an ihren Kontobüchern und an ihrem Status in der Mode Branche abzulesen war,, nicht gerade / gar nichtmal so schlecht. Selbst als vor einem Jahr ihre Tochter entführt und ermordet wurde, warf sie das nur für zwei Wochen aus der Bahn. Sicher, in ihrem tiefsten Inneren war ihre Trauer noch nicht abgeschlossen/hatte … nichtaufgehört/vorbei, und sie würde wohl nie aufhören. Nach außen hin aber ließ sie sich nichts anmerken. Als sie sich nach zwei Wochen wieder im Griff hatte und sich in der Öffentlichkeit wieder zeigen konnte, konzentrierte sie sich ausschließlich auf ihre Arbeit. Sie zog nach Paris, um nicht mehr an ihre Vergangenheit erinnert zu werden und noch näher am Modegeschehen zu sein. Tagsüber und bis in die späten Abendstunden arbeitete sie so lange, bis sie nachts erschöpft in ihr Bett fiel. Nachts dann kamen die Träume von ihrer Tochter oder von ihrem Schänder. Die konnte sie nicht abstellen, dafür aber die Gedanken während des Tages, indem sie sich mehr Projekte aufhalste, als zu schaffen waren. Das konnte sie ablenken, zumindest die meiste Zeit. In den ersten Monaten war sie in der Regel einmal pro Meeting verschwunden gewesen, um auf der Toilette mit einem kurzen Weinkrampf fertigzuwerden. Danach aber präsentierte sie sich stets wieder sachlich und gefasst. Professionell eben. Und das merkten auch ihre Kollegen und die Käufer. Und so schaffte sie es, immer weiter aufzusteigen, sich hierdurch immer mehr Arbeit und dadurch auch Ablenkung aufzuhalsen. Sie weigerte sich, Assistenten anzunehmen und wollte stets alles selbst erledigen. Bis der Boss ihr Michelle als „Berater“ zuwies. Das war vor zwei Monaten gewesen. Seither versuchte Michelle, sie mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, zu gewinnen. Manchmal konnte das ganz schön nervig sein; aber zuguterletzt sah sie auch in Michelle nur eine weitere willkommene Ablenkung vom Gedanken an den Tod ihrer Tochter. Manchmal dachte sie sogar darüber nach, ob sie diesem Mann nicht einfach nachgeben sollte und vielleicht ein neues Leben beginnen, außerhalb der Arbeit. Aber bisher hatte sie das Bedürfnis noch nicht verspürt, sich als Frau an der Seite eines Mannes zu sehen. Die wichtigen Dinge wollte sie noch immer alleine entscheiden. Sollte er doch warten! Wenn sie sich entschließen sollte, sich doch wieder mit einem Mann zusammenzutun, würde er sie sicher auch später noch wollen, vielleicht sogar noch mehr. Ob Michelle der Richtige war? Darüber wollte sie im Moment nicht nachdenken.

Sie packte weiter den Koffer. Morgen früh würde sie nach Deutschland zurückfliegen. Vielleicht wäre sie mit dem Bus schneller gewesen, als mit dem Flugzeug nach Frankfurt zu fliegen und von dort aus noch 70 Kilometer mit dem Taxi zu fahren, aber sie hatte keine Lust, die ganze Nacht hindurch in einem stickigen Bus zu fahren. Sie zog das Fliegen vor. Leisten konnte sie es sich allemal. Und nach einer Nacht im Hotelbett würde sie morgen ganz entspannt in Deutschland auftreten. Und auch nach alledem, was ihr die Polizei heute Mittag per Handy mitgeteilt hatte, würde sie eine Entspannung dringend brauchen.

Irgendwann am Nachmittag, als sie wieder einen dieser aus ihrem Leben schon fast verschwundenen Weinkrämpfe bekam, erreichte sie der Anruf von Kommissar Vinel. Er teilte ihr mit, dass das Grab ihrer Tochter in der Nacht geschändet und, wie es schien, ihre Leiche entwendet worden war. Er wollte ihr weitere Einzelheiten am Telefon ersparen und bat sie, zum Unterschreiben der Strafanzeige doch persönlich vorbeizukommen. Laura antwortete nur knapp, dass sie schon morgen erscheinen würde, egal ob sie den Mann gefasst hätten oder nicht. Kommissar Vinel wollte noch widersprechen, aber Laura hatte schon aufgelegt und war schon auf dem schnellsten Weg zur Toilette, um nicht vor den Augen ihrer Kollegen zusammenzubrechen. Dieser Vinel hatte eine eigenartige Stimme und er räusperte sich ständig. Dies schoss ihr immer wieder durch den Kopf, während sie in einem Toilettenraum des Bürogebäudes auf dem Boden saß und sich die Augen aus dem Kopf zu heulen drohte. Warum sie immer wieder an diese Stimme dachte, wusste sie selber nicht. Wahrscheinlich brauchte sie nur etwas, an dem sie sich hochziehen konnte. Irgendwas, das ungewöhnlich genug war, um ihm unterbewusst die Schuld an allem in die Schuhe zu schieben und ihn in Gedanken fertigzumachen. Das ständige Räuspern und die eigenartige grelle Stimme waren in diesem Moment der Sündenbock für Laura, die vor sich selbst für ihr traumatisches Erlebnis von vor einem Jahr geradestehen musste, an dem sie jetzt erneut zu zerbrechen drohte. Warum ließ man ihr nicht endlich ihre Ruhe?

Sie schloss mit einem Druck, heftiger als nötig, den Kofferdeckel und ließ sich aufs Bett fallen. Jetzt noch schnell duschen und dann versuchen zu schlafen, um für den morgigen Tag gewappnet zu sein. Dass sie am Tod ihrer Tochter nichts ändern konnte, war ihr klar. Aber ihre kleine Chrissie war ihr Ein und Alles. Und das war sie ihr schuldig. Sie musste dabeisein. Sie musste tun, was in ihrer Macht stand, um einen Peiniger, der Chrissie noch nicht einmal im Tod in Ruhe ließ, zu suchen und aufzuspüren und dafür zu sorgen, dass er seine gerechte Strafe bekam. Ja, dafür würde sie sorgen! Das versprach sie sich. Und ihrer Tochter. Dass ihr damaliger Entführer nicht mehr bestraft werden konnte, nagte auch noch an ihr. Er war einfach eines viel zu schnellen Todes gestorben. Dieses Schwein! Was für eine verrückte Welt!

Als Laura am 8. November 2001 um 17:49 Uhr mit geschlossenen Augen und angekleidet auf ihrem Hotelbett in Paris lag, dachte sie darüber nach, wie lange sie es in dieser Welt voller Irrer und Psychopathen wohl noch aushalten würde, bevor auch sie durchdrehte, oder den Mut verlor weiterzuleben und alledem einfach ein Ende setzte.

Tarlot

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