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PHYSIOLOGISCHE ÜBERLEGUNGEN

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In einem Leitartikel des Lancet von 1975 stand folgendes bemerkenswerte Zitat:

„Eine Funktion des lymphatischen Systems ist es, die Geweberäume von Substanzen zu reinigen, die aus Blutkapillaren austreten oder aus dem Gewebe selbst stammen und nicht in den Blutstrom reabsorbiert werden. Die Hirnhäute und das Nervengewebe des Gehirns haben keine lymphatischen Kanäle; bedeutet dieses Fehlen, dass das Problem des Abtransports nicht existiert?

… abgesehen vom Hauptfluss des Liquor zurück in den Blutstrom durch die Arachnoidalzotten könnte der Liquor auch durch die Plexi chorodei von Substanzen gereinigt werden. Diese Vorstellung erscheint bizarr, wenn man nur an die Plexi in den seitlichen Ventrikeln denkt, denn da sie schon den Liquor produzieren, fragt man sich, wie sie gleichzeitig Quelle sein und Inhaltsstoffe resorbieren können. Aber sie sind ja nicht die einzigen Plexi – der dritte Ventrikel besitzt ebenfalls einen Plexus, und der Liquorstrom passiert, wenn er aus dem ventrikulären System fließt, die Plexusgeflechte des vierten Ventrikels. Bestimmte organische Säuren können auf diesem Wege aktiv resorbiert werden. Eine beachtliche Reihe anderer Substanzen, von denen einige (wie Noradrenalin und Serotonin) aufgrund ihrer Neurotransmitterfunktion offenbar recht interessant sind, akkumulieren am Plexus choroideus und werden dort oder im zerebralen Subarachnoidalraum absorbiert. Es gibt also außer dem Hauptfluss durch die Arachnoidalzotten noch einen anderen Weg des Liquor cerebrospinalis zurück zum Blut.

… auch CO2 tritt leicht in das Gehirn über und wird natürlich auch dort produziert ebenso wie Milchsäure und Pyruvat. Der Liquor hat keinen großen Puffer; er besitzt etwa so viel Bikarbonat wie Plasma, aber wenig Protein und kaum Zellen. Daher kann sein Fluss auch dazu dienen, Information über zu viel CO2 oder eine erhöhte Säureproduktion innerhalb des Gehirns weiterzuleiten, da der pH-Wert des Liquor absinken wird. Diese Information wird von den vorderen und seitlichen Oberflächen der Medulla wahrgenommen. Als Reaktion kommt es zu vermehrter Lungenatmung – einer 10-fachen Erhöhung beim Menschen, wenn der pH-Wert sich um 0,05 ändert. Der stabilisierende Effekt auf den pH-Wert des Liquor ist offensichtlich – vorausgesetzt natürlich, dass das Atemsystem normal funk-tioniert und mehr CO2 ausscheiden kann. Dieses Arrangement ist viel schneller und effektiver als einfach darauf zu warten, dass der Fluss allmählich das Gehirn reinwäscht. Der Lymphfluss reinigt den Extrazellulärraum im Körper generell; der Liquorfluss scheint für das Gehirn das Gleiche zu tun, aber präziser und effizienter.“ 17

Dieser Ausschnitt aus dem Lancet-Artikel zeigt uns, dass die Untersuchung der Inhaltsstoffe und Stoffwechselprodukte im Liquor ein sehr komplexes Thema ist – ein Thema, was viele Forscher seit Jahrzehnten beschäftigt und auch künftig bestimmt noch viele weitere Untersuchungen anregen wird.

Auf interessante, wenn auch jetzt historische Weise, wurde der Liquor von A. D. Speransky, einem russischen Physiologen, eingesetzt. Er beschreibt das in seinem Buch A Basis for the Theory of Medicine18 (1943), das, wie Kapitelüberschriften zeigen, u. a. folgende Themen behandelt, mit denen der Autor und seine Fachkollegen sich offenbar beschäftigt haben:

Die Verbindung der submembranösen Räume des Gehirns mit dem lymphatischen System.

Unsere Untersuchungen der Verbindung der submembranösen Räume mit dem lymphatischen System.

Die Bewegung des Liquor cerebrospinalis innerhalb der Medulla und der submembranösen Räume und

Über das Eindringen verschiedener Substanzen in den Nervenstamm und ihre Bewegung entlang des Nervs.

In seinem Kapitel über Rheumatismus beschreibt Speransky eine Methode, den Liquor zu ‚pumpen‘ :

„Das Pumpen geschah mit Hilfe einer Lumbalpunktion, vorgenommen am sitzenden Patienten. Wir benutzten eine 10.0-cc-‚Record‘ -Nadel. Das Zurückziehen und Wiedereinspritzen der Flüssigkeit wurde zwischen 8 und 40 Mal wiederholt. Beim letzten Mal wurde die Flüssigkeit entfernt. Das Ganze darf weder zu langsam noch zu schnell vor sich gehen. Ein schnelles Extrahieren, besonders im zweiten Teil der Punktion, bringt immer Kopfschmerzen mit sich, die bis zum Abend und manchmal auch noch am nächsten Tag andauern. In einigen wenigen Fällen kam es zu Erbrechen.“

Dieses plump mechanische Pumpen des Liquor innerhalb der duralen Umhüllung und der Subarachnoidalräume wurde bei einer Reihe von neurodystrophen Prozessen oder Erkrankungen angewandt. Die verwendeten Methoden waren gelinde gesagt nicht ungefährlich. Spreranskys Arbeit wurde zu seiner Zeit und auch danach sehr kontrovers diskutiert.

Bezeichnend ist seine das Kapitel 21 einleitende Feststellung: „Dieses Buch kann kein Endergebnis liefern.“ Es mag in der Tat keine anderen Schlussfolgerungen geben außer der Erkenntnis, dass das Wissen im Bereich des Liquor cerebrospinalis höchst komplex ist. Der Liquor tauscht Ionen, Stoffwechselprodukte und trophische Faktoren mit den Plexi choroidei, mit den Nervenzellen des zentralen, peripheren und autonomen Nerven-systems, mit der Hypophyse-Hypothalamus-Achse, mit der Epiphyse und mit dem lymphatischen System aus. Zusätzlich dient der dünne Liquor-film in den Subarachnoidalräumen zusammen mit den Cisternas als Wasserbett, um Gehirn und Rückenmark zu schützen.

Rollin Becker - Leben in Bewegung & Stille des Lebens

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