Читать книгу Seewölfe Paket 12 - Roy Palmer, Burt Frederick - Страница 31
5.
ОглавлениеMit langen Schatten begleitete die tiefstehende Sonne den mühevollen Weg der Galeerensklaven von Macuro. Gebeugt von mörderischer Arbeit, schlurften sie über die Holzplanken der Anleger, und die Ketten erschienen ihnen wie eine kaum noch zu bewältigende Last.
Die uniformierten Bewacher gaben sich nicht mehr die Mühe, sie noch mit Hieben und Stößen voranzutreiben. Jeder der Soldaten wußte, daß es keinen Sinn gehabt hätte. Ein nur mäßiger Schlag hätte schon genügt, um diese geschundenen Männer von den Beinen zu fegen.
Auch Gerhard von Echten spürte jeden einzelnen Knochen im Leib. Äußerlich unterschied er sich durch nichts von den anderen. Krumm und schleppend bewegte er sich vorwärts, diesmal an der Spitze der Gefangenenformation, da sie das Schiff in umgekehrter Reihenfolge verlassen hatten.
Sie erreichten den schmutziggelben Strand, und jeder einzelne Schritt wurde ihnen nun eine noch größere Last. Lediglich Gerhard von Echten verfügte noch über eine letzte Reserve. Vielleicht lag es an seiner Zähigkeit, daß es ihm gelungen war, seine Kräfte einzuteilen. Möglicherweise war es auch seine unbändige Willenskraft gewesen, die ihm dabei geholfen hatte. Die stundenlange Riemenarbeit an Bord der „Virgen de Murcia“ hatte er überstanden, ohne vollends zu zerbrechen.
Seine Gefährten waren dagegen ebenso ausgelaugt wie die Indios. Auch Sigmund Haberdings Atem ging rasselnd und schwer, und es schmerzte von Echten, den Freund so ausgepumpt zu sehen.
Die Palisaden mit den Batterietürmen erhoben sich drohend vor ihnen und warfen schwarze Schatten auf den Sand. In der Werft abseits des Hafens war Stille eingekehrt, auch von der Pfahlbausiedlung der Eingeborenen drangen keine Geräusche mehr herüber. Capitán Gutiérrez und seine Begleiter befanden sich jetzt vermutlich schon in einem ihrer gemütlichen Salons oder daheim bei ihren Familien. Bei der Ankunft in Macuro hatte Gerhard von Echten gesehen, daß es eine Reihe von einzelnen Wohnhäusern für die Offiziere und ihre Angehörigen gab.
Soldaten öffneten das Tor zwischen den beiden vorderen Batterietürmen. Es bewegte sich knarrend in seinen großen Angeln.
Das weite Areal der Festungsanlage dehnte sich im Blickfeld der Ruderknechte. Von Echten erschien der Appellplatz größer, als er ihn in Erinnerung hatte. Die Baracken, in denen die einfachen Soldaten hausten, erstreckten sich unüberschaubar weit, bis in die Schlagschatten am jenseitigen Ende der Festung. Irgendwo dort befanden sich die Nebengebäude – Waffenkammer, Vorratsräume, Küche, Speisesaal, Zahlmeisterei, Kommandantur.
Bis zum Dunkelwerden konnte es höchstens noch eine halbe Stunde dauern.
Anfangs hatte sich Gerhard von Echten gefragt, warum sie nicht ständig an Bord der Galeere angekettet blieben. So war es in den Mittelmeerhäfen üblich. Nur ein Behelfsdach aus Segeltuch wurde für die Nachtruhe über das Galeerendeck gespannt, und es gab Rudersklaven, die für den Rest ihres Lebens keinen anderen Platz mehr sahen als die Bank, an der ihre Ketten festgeschmiedet waren.
Daß Capitán Gutiérrez eine andere Methode gewählt hatte, war keineswegs aus Menschlichkeit geschehen. Nach kurzer Überlegung hatte Gerhard von Echten sich die Gründe zusammengereimt. Vermutlich war die Zahl der Soldaten, über die der Capitán in Macuro verfügte, zu gering, um einen Bewachungsdienst an Bord der Galeeren im Hafen aufrechtzuerhalten. Da erforderte es wesentlich weniger Männer, um die Gefangenen nach verrichtetem Dienst zusammenzutreiben und beaufsichtigen zu lassen.
Die träge Marschformation der Ruderknechte schwenkte über den staubigen Appellplatz nach links, von knappen Kommandos der Soldaten dirigiert. Wenig später erblickten Gerhard von Echten und seine Gefährten zum ersten Mal den Ort, an dem sie von nun an ihre meiste Zeit verbringen sollten. Nach ihrer Festnahme waren sie vorübergehend in einer leerstehenden Baracke untergebracht worden.
Das Gelände war eingezäunt. Erstaunlicherweise ragten die Zaunpfähle nicht mehr als mannshoch auf. In der Länge erstreckte sich die Einzäunung auf mehr als dreihundert Yards. Die Breite, bis an die nördlichen Palisaden der Festung, vermochte Gerhard von Echten nicht abzuschätzen.
Zwei Soldaten sprangen vor und öffneten ein Gatter. Wie Vieh wurden die Männer hineingetrieben.
Und dann überfiel die Neuen unter ihnen ein Erschauern, gegen das sie sich nicht wehren konnten. Den Gefangenen stockte das Blut in den Adern. Unwillkürlich verharrten sie, und die Soldaten hinderten sie nicht daran.
„Seht es euch nur gut an!“ rief einer der Spanier höhnisch. „Dann wißt ihr gleich, was euch blüht, wenn ihr auf dumme Gedanken verfallt!“
Unmittelbar an der Innenseite der Einzäunung zog sich ein tiefer Graben um das gesamte Lager herum. Fauliger, ekelerregender Geruch stieg zu der Bohlenbrücke herauf, die vom Gatter aus über den Graben führte. Die Breite betrug an der Oberkante gut fünf Yards, die etwas schmalere Sohle mochte zehn Fuß tiefer liegen.
Stillstehendes, trübes Wasser bedeckte die Grabensohle. Auf den ersten Blick schien es, als lägen Baumstämme wahllos verstreut in der schlammigen Brühe. Doch man brauchte nicht sehr genau hinzusehen, um zu erkennen, um was es sich wirklich handelte. Die Männer unter Gerhard von Echten hatten genügend Tropenerfahrung.
Krokodile!
Alligatoren und Kaimane waren es. Eine unüberschaubare Zahl der Riesenechsen fristete auf dem Boden des Grabens ihr träges Dasein. Knochen und Skelettreste von Tieren lagen am Rand der steil abfallenden Böschung. Die Kadaverreste strömten jenen Verwesungsgeruch aus, der in den Männern Übelkeit hervorrief.
Gerhard von Echten preßte die Zähne aufeinander, daß es schmerzte. Es mochte eine Sinnestäuschung sein, ein Eindruck, der sich aufdrängte, aber ihm war, als befänden sich unter den Skelettresten auch menschliche Knochen. Von Echten schüttelte sich vor Grauen.
„Weiter jetzt!“ brüllte einer der Soldaten. „Ihr könnt die niedlichen Tierchen noch oft genug begaffen.“ Die übrigen Spanier stimmten grölendes Gelächter an.
Für den Moment hatten die Männer ihre Müdigkeit und ihre Erschöpfung vergessen, als sie sich wieder in Bewegung setzten. Abscheu und Entsetzen waren stärker als alle anderen Empfindungen.
Dies konnte nicht einmal durch das Menschenunwürdige des Lagers überdeckt werden. Da gab es weder Baracken noch Schutzdächer aus Segeltuch. Nur eine freie Fläche von etwa dreitausend Quadratmeter innerhalb des Grabens, in dem die blutrünstigen Raubtiere hausten. Dicht gedrängt kauerten die Menschen auf diesem Areal. Außer schmutzigen Decken hatten sie nichts, womit sie sich vor den Witterungseinflüssen schützen konnten. Es mochten an die tausend Gefangene sein, die hier zusammengepfercht waren – einschließlich jener von der „Virgen de Murcia“.
Am Rand der Innenseite des Grabens gab es außerdem einen Wachgang, der auf acht Fuß hohen Pfählen ruhte und mit einem Geländer aus einfachen Planken abgesichert war. Von diesem erhöhten Bohlenweg aus konnten die Bewacher jeden Punkt des Lagers überblicken.
Ein offenbar perfektes System.
Die Ruderknechte von der Prunkgaleere des Capitán Gutiérrez erhielten einen Platz in der Nähe der Brücke zum Gatter zugewiesen. Stumm und regungslos sahen sie zu, wie die Brücke an Ketten hochgezogen wurde, nachdem die Soldaten auf die andere Seite zurückgekehrt waren.
„Tiere in einem Stall haben ein besseres Leben“, flüsterte Sigmund Haberding nach minutenlangem Schweigen.
Gerhard von Echten legte ihm die kettenbewehrte Hand auf die Schulter.
„Wir müssen hier raus, Sigmund. Koste es, was es wolle.“
Haberding blickte den Freund erschrocken an.
„Bist du wahnsinnig? Eine Flucht ist unmöglich. Ich habe nichts gegen einen ehrlichen und offenen Kampf, Aber hier …“ Er schüttelte resignierend den Kopf.
„Warte ab“, raunte von Echten, „wir brauchen ein bißchen Zeit. Es muß einen Weg geben. Davon bin ich überzeugt.“
Sie waren gezwungen, ihr leise geführtes Gespräch abzubrechen, denn auf dem erhöhten Bohlenweg näherten sich Schritte. Vier Soldaten waren es, die sich breitbeinig vor den Rudersklaven von der „Virgen de Murcia“ aufbauten und geringschätzig zu ihnen hinunterblickten.
Gerhard von Echten drehte sich nur kurz um und sah, daß es noch zwei weitere Soldaten gab, die an der jenseitigen anderen Seite des Lagers postiert waren. Also sechs Mann insgesamt, und für sie war der Wachdienst kaum bequemer als die bevorstehende Nachtruhe für die Gefangenen.
„Ein paar Worte an die Neuen“, sagte einer der vier Spanier, ein untersetzter Mann mit dichtem schwarzen Vollbart. An seinem Helm brachen sich funkelnd die Strahlen der untergehenden Sonne. „Ich bin der Wachhabende. Meine Verantwortung ist es, daß hier absolute Ruhe herrscht. Damit ihr gleich Bescheid wißt: Wenn ihr anfangt, Krach zu schlagen, oder irgendeinen idiotischen Versuch zur Rebellion unternehmen solltet, wird sofort geschossen. Für uns spielt es dabei keine Rolle, wen wir treffen. Aber wir sorgen für Ruhe, darauf könnt ihr euch verlassen. Also denkt daran, daß es immer einen Unschuldigen treffen könnte!“ Er stieß einen grimmigen Knurrlaut aus, wie um seine Worte zu bekräftigen. „Was die Verpflegung betrifft, folgendes: Die nächste Mahlzeit kriegt ihr morgen früh nach Sonnenaufgang. Nicht daß ihr auf die Idee verfallt, es gäbe heute abend noch was. Der Verpflegungsplan sieht so aus: einmal morgens im Lager, dann mittags und nachmittags auf der Galeere. Das wär’s, Amigos. Nun schnappt euch eure Decken, und legt euch auch lang. Ihr braucht den Schlaf für morgen, darauf könnt ihr Gift nehmen.“
Wortlos begannen die Indios, die Decken von dem bereitliegenden Stapel zu verteilen. Es gab kein Gedränge und keine Auseinandersetzungen darum. Jeder wußte, daß es sinnlos war, Kräfte zu vergeuden.
Unter den Augen der Soldaten auf dem Wachgang betteten sie sich zur Ruhe. Noch eine Weile klirrten die Ketten, bis sie diese so geordnet hatten, daß sie halbwegs entspannt liegen konnten. Der weiche Sandboden war noch warm von der Sonne, die tagsüber heruntergebrannt hatte. Doch mit einem kühlen Hauch kündigte sich schon jetzt die bevorstehende Kälte der Nacht an.
Die Wachtposten nahmen ihren Rundgang auf dem erhöhten Bohlenweg auf.
Übergangslos brach die Dunkelheit herein.
Im Lager der Galeerensklaven herrschte Stille. Wenn Worte gewechselt wurden, so nur unhörbar für die Posten. Deren Schritte klangen hart und rhythmisch auf den Holzbohlen. Auch aus dem Graben der Alligatoren und Kaimane drang kein Laut herauf. Eine trügerische Ruhe jedoch, das wußten die Männer in Ketten.
In der Festung hatte indessen das abendliche Leben begonnen. Vereinzelt ertönten laute Stimmen, grölendes Gelächter überwiegend. Dann waren auch die Klänge einer Laute zu hören. Jemand sang ein melancholisches Lied, und heisere Männerstimmen fielen in den Refrain mit ein.
Gerhard von Echten wandte den Kopf zu Sigmund Haberding, der neben ihm lag.
„Wir müssen es versuchen“, flüsterte er, „noch in dieser Nacht, Sigmund.“
„Ich sage dir noch einmal, es ist Wahnsinn“, gab Haberding ebenso leise zurück, doch ein Hauch von Hoffnung schwang in seiner Stimme mit. „Hast du einen Plan?“
„Ja. Ich werde den Wachhabenden in meine Gewalt bringen. Dann benutzen wir ihn als Druckmittel gegen die anderen. Alles muß blitzschnell gehen. Wir werden aus der Festung verschwinden und im Dschungel untertauchen, ehe sie zum Großalarm blasen können.“
„Wie du es sagst, hört sich das sehr einfach an. Aber wir könnten uns ebensogut selbst aufknüpfen. Erstens schaffen wir es nicht, das Lager zu verlassen, und zweitens müßten wir dann noch die Posten am Palisadentor überrumpeln. Nein, es ist unmöglich. Ganz zu schweigen davon, daß wir mit den verdammten Ketten sowieso nicht viel ausrichten können.“
„Warte ab“, zischte von Echten, „wir haben Zeit. Die ganze Nacht.“
Sigmund Haberding sagte nichts mehr. Sie kannten sich nun schon seit vielen Jahren. Wenn Gerhard von Echten sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann führte er es auch aus. Das Verrückte daran war, daß ihm selbst die verwegensten Pläne bislang immer geglückt waren.
Diesmal, dachte Sigmund Haberding, ist er ein wenig zu waghalsig. Oder ich bin einfach zu müde, um noch genügend Mut aufzubringen.
Gerhard von Echten tat unterdessen kein Auge zu. Lange lag er regungslos und beobachtete die Wachtposten, die sich vor dem tiefen Blau des Nachthimmels als deutliche Schattenrisse abzeichneten. Der abnehmende Mond war eine schmale Sichel, die Sterne funkelten wie Edelsteine auf einem samtenen Tuch.
Die Posten zogen mit gemächlichen Schritten ihre Runde und blieben manchmal stehen, wenn sie einander begegneten. Ihre Gespräche waren gedämpft und unten im Lager nicht zu verstehen. Die Statur des Wachhabenden hatte Gerhard von Echten sich genau eingeprägt. Er war imstande, ihn zweifelsfrei von den anderen zu unterscheiden.
Zwei Stunden mochten nach dem Hereinbrechen der Dunkelheit vergangen sein, als von Echten beschloß, nicht länger auszuharren. In seiner Umgebung waren bereits seit geraumer Zeit tiefe und regelmäßige Atemzüge zu hören.
Vorsichtig schälte er sich aus seiner Decke. Ohne sich aufzurichten, begann er mit einer langwierigen Arbeit. Auf der Seite liegend und zusammengekrümmt, gelang es ihm ohne sonderliche Mühe, die unteren Ketten um die Fußgelenke zu wikkeln und das Ende so in die Windungen zu schieben, daß sie unverrückbar festsaßen. Ebenso verfuhr er mit den Ketten an den Handgelenken. Der Schweiß rann ihm in Strömen über das Gesicht, als er es geschafft hatte. Schwer atmend streckte er sich auf dem Boden aus und spähte zum Wachgang hinauf.
Die Posten hatten nichts bemerkt. Er war vorsichtig genug zu Werke gegangen. Die nervliche Anstrengung war größer gewesen als die körperliche.
Abermals berührte er seinen Freund an der Schulter. Haberding erwachte sofort. Von Echten sah das Weiße in seinen Augen.
„Halte dich bereit“, flüsterte er. „Ich versuche herauszufinden, wann Wachwechsel ist. Dann werde ich den richtigen Moment abpassen. Weck die anderen rechtzeitig. Ihr müßt eure Ketten um die Gelenke wickeln und sichern. Sobald ich den Wachhabenden überrumpelt habe, nehmt ihr euch die anderen Posten vor. Und dann brauchen wir nur noch zu warten, bis die Ablösung die Brücke hinuntergelassen hat.“
Sigmund Haberding atmete tief durch.
„Also gut“, sagte er kaum hörbar. „Ich weiß, daß du es schaffen kannst. Aber ich meine, sie sollten erst die Brücke hinunterlassen, und dann schlagen wir los. Sonst könnte es uns passieren, daß sie uns vom Gatter her zusammenschießen, ohne daß wir eine Chance haben, über den Graben zu gelangen.“
„Einverstanden. Paß gut auf, daß die anderen so leise wie möglich sind. Ein falsches Geräusch kann alles verderben.“
Gerhard von Echten kroch los. Flach auf dem Boden bewegte er sich so langsam, unendlich langsam, daß ihm die wenigen Minuten wie eine Ewigkeit erschienen.
Neben einem der Indios verharrte er. Erst nachdem er nochmals zum Wachgang hinaufgespäht und sich vergewissert hatte, daß keine Gefahr drohte, stieß er dem Mann behutsam mit den Fingerspitzen gegen die Schulter.
Obwohl er tief geschlafen hatte, blieb der Indio ruhig, erschrak nicht und wußte offenbar sofort, daß er nur von seinesgleichen geweckt worden sein konnte.
„Hablas español?“ fragte Gerhard von Echten kaum hörbar. „Sprichst du Spanisch?“
„Si, Señor“, flüsterte der Mann, „ein bißchen.“
„Hör mir zu“, fuhr von Echten auf spanisch fort, „meine Männer und ich wollen einen Befreiungsversuch wagen. Kann ich auf eure Hilfe rechnen?“
„Natürlich, Señor. Aber es ist unmöglich. Sie werden es niemals schaffen.“
„Warte nur ab. Sag mir, wann sie die Wachen wechseln.“
Der Indio drehte den Kopf und blickte zum Himmel.
„Sehr bald, wenn der Mond um die Breite eines Daumens gewandert ist.“
„Ich danke dir, Amigo. Seid bereit, wenn es geschieht. Wenn es gelingt, werden wir alle gemeinsam aus der Festung stürmen.“
„Ebensogut können wir alle sterben“, erwiderte der Indio tonlos. „Aber es ist kein Unterschied, Señor. Der Tod ist nicht schlimmer als die Gefangenschaft.“
Gerhard von Echten ließ ihn allein und kroch geräuschlos weiter, auf den Graben zu. Wie ein schwarzes Skelett ragten die Pfähle des Wachganges empor. Die Schritte der Posten klangen hohl auf den Bohlen. Von Echten wußte, daß er einen unschätzbaren Vorteil auf seiner Seite hatte: Die Dunkelheit, die dicht über dem Erdboden lastete, ließ ihn mit der Masse der Gefangenen verschmelzen. Und er kroch so langsam, daß seine Bewegungen den Bewachern nicht auffallen konnten.
Während seines langwierigen Weges war es vor allem Ungewißheit, die an seinen Nerven zerrte. Was, wenn er den Bohlenweg nicht rechtzeitig erreichte, wenn die Wachablösung das Gatter öffnete, bevor er eingreifen konnte? Trotz dieser inneren Anspannung blieb seine Willenskraft ungebrochen.
Beinahe erstaunt hielt er inne, als er einen der Pfähle erreichte, auf denen die Bohlen des Wachganges ruhten. Nichts war geschehen, niemand hatte ihn bemerkt. Sollte es tatsächlich leichter sein, als er es sich vorgestellt hatte? Nein, er durfte sich nicht dazu verleiten lassen, solche Gedanken zu hegen. Das führte zu Unvorsichtigkeit.
Die Schritte der Posten klangen langsam und träge wie eh und je. Gerhard von Echten drehte sich auf die Seite, um die Lage erfassen zu können. Seine Augen hatten sich längst an die Dunkelheit gewöhnt. Das Gatter mit der hochgezogenen Brücke befand sich etwa zehn Schritte rechts von ihm. Er spähte zum Bohlenweg hinauf und suchte die Schattenrisse der Soldaten.
Da!
Der Wachhabende näherte sich von links. Seine Statur war unverwechselbar. Von Echten schätzte die Entfernung auf höchstens zwanzig Schritte. Er hielt den Atem an und spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Ein anderer Posten schlurfte von rechts heran, weiter entfernt noch.
Gerhard von Echten spannte die Muskeln. Die Ketten wogen schwer an seinen Hand- und Fußgelenken. Aber er hatte genügend Kraftreserven, um diesen Nachteil auszugleichen. Daran hatte die Schinderei auf der Galeere nur wenig geändert.
Er sah jetzt, daß er seine Position nicht zu ändern brauchte. Der Wachhabende würde diese Stelle eher erreicht haben als der Posten, der von der anderen Seite herannahte.
„Hola, Sargento!“ ertönte eine gedämpfte Stimme. „Ich denke, die Burschen sind langsam überfällig.“
Das mußte der Mann sein, der sich von rechts näherte, folgerte Gerhard von Echten.
„Halt den Mund, Kerl“, antwortete der Wachhabende knurrend. „Im Zweifelsfall wirst du dann abgelöst, wenn es dem Capitán paßt. Und wenn es ihm gefällt, kann das noch ein paar Stunden dauern.“
Ein unterdrückter Fluch war die Reaktion.
Von Echten spähte schräg nach oben. Der Schatten des Wachhabenden schob sich breit und wuchtig heran. Zehn Schritte trennten ihn noch von der Stelle, an der der Deutsche lauerte.
Behutsam richtete sich Gerhard von Echten auf. Die nervliche Anspannung fiel von ihm ab. Jetzt, da der entscheidende Moment bevorstand, kehrte jene eiskalte Ruhe ein, die ihm in Augenblicken größter Gefahr stets geholfen hatte.
Plötzlich ein Scharren. Stimmengemurmel folgte, dann das Knarren eines Riegels, der herausgezogen wurde.
Die Wachablösung. Es gab keinen Zweifel. Sie öffneten das Gatter. Jeden Moment mußten sie die Brücke hinunterlassen.
Gerhard von Echten wartete regungslos.
Der Schatten des Wachhabenden wurde riesengroß über ihm.
„Na endlich!“ brummte der Posten, der ebenfalls nicht mehr weit entfernt war. Das Gatter schwang jetzt weit auf, und die Silhouetten des ablösenden Kommandos wurden erkennbar.
Von Echten konzentrierte sich auf den Untersetzten.
Noch zwei Schritte, einen Schritt.
Jäh ließ der hochgewachsene Deutsche seine Muskeln explodieren. Er schnellte an dem Pfahl hoch und packte mit beiden Händen zu. Unter Aufbietung aller Kraft überwand er die letzte Distanz von zwei Fuß, die ihn von dem Wachgang trennte.
Seine linke Faust zuckte hoch, fand den Halt, den sie suchte.
Der Wachhabende stieß einen erschrockenen Laut aus. Für einen Augenblick hatte er sich von den Männern ablenken lassen, die am Gatter hantierten.
Gerhard von Echten lockerte seinen stahlharten Griff nicht für den Bruchteil einer Sekunde. Er zog mit einem Ruck, ließ sich fallen und setzte sein ganzes Körpergewicht ein.
Der untersetzte Sargento versuchte vergeblich, sein Gleichgewicht zu halten. Die Füße wurden ihm buchstäblich unter dem Leib weggerissen. Bevor er am Geländer Halt finden konnte, schlug er hart auf, rutschte über die Bohlen und segelte abwärts.
Blitzschnell war der Deutsche über ihm und ließ die Rechte mit der zusammengerollten Kette niedersausen.
Der Schlag ließ dem Sargento keine Chance. Er sank in sich zusammen, ohne noch einen Schmerzenslaut von sich zu geben.
Eilige Schritte dröhnten auf dem Bohlenweg.
„He, was ist da los?“ brüllte jemand.
Beim Gatter senkte sich die hochgezogene Brücke quietschend nach unten.
„Bleibt, wo ihr seid!“ rief Gerhard von Echten mit schneidender Stimme den Posten zu. „Ich habe euren Wachhabenden! Eine falsche Bewegung von euch kostet ihn das Leben!“
Im Lager der Gefangenen schnellten Schatten hoch.
Für einen Moment waren die Schritte der Posten wie abgeschnitten.
Die Brücke fiel rumpelnd auf ihr Widerlager. Harte Stiefel polterten über die Planken. Im Lager der Galeerensklaven entstand zunehmend mehr Bewegung.
„Soldaten!“ brüllte Gerhard von Echten abermals. „Zurück! Oder der Sargento stirbt!“ Er hatte mittlerweile den Säbel des Bewußtlosen aus der Scheide gerissen, und die blanke Klinge funkelte im fahlen Licht des Mondes und der Sterne.
Auf der Brücke brachen endlich die Schritte ab.
Schatten huschten dem Bohlenweg entgegen.
„Werft eure Waffen weg, Spanier!“
Sigmund Haberdings Stimme.
Plötzlich geschah etwas, was Gerhard von Echten niemals in seinen Plan einbezogen hatte. Denn es beruhte auf grausamer Unmenschlichkeit, zu der er selbst nicht fähig war.
„Schießt sie zusammen, die Hunde!“ gellte eine Stimme von der Brücke her.
Die letzte Silbe war noch nicht verklungen, als ein Musketenschuß donnerte.
Ein vielstimmiger Entsetzensschrei ertönte aus den Reihen der Indios. Die Schatten, die den Bohlenweg noch nicht erreicht hatten, schienen gegen unsichtbare Mauern zu prallen.
Zwei weitere Schüsse krachten. Auch diesmal sirrten die Kugeln über die Gefangenen weg. Bedrohlich nahe jedoch.
„Treibt sie zurück!“ gellte wieder die Stimme von der Brücke. „Wenn euer Wachhabender krepiert, ist es seine eigene Schuld. Auf was wartet ihr noch!“
Gerhard von Echten erstarrte vor Entsetzen. Er konnte es nicht glauben. Sie waren bereit, ein Menschenleben ohne viel Federlesens zu opfern!
Bevor er sich von seiner Fassungslosigkeit erholen konnte, schwang sich eine Silhouette unmittelbar vor ihm herab. Mit dumpfem Aufprall landete der Soldat auf dem Erdboden. Auch die anderen folgten ihm und gingen mit blankgezogenen Säbeln auf die Gefangenen los. Ihre Musketen hatten sie wohlweislich zurückgelassen. Die Langwaffen taugten nicht für den möglichen Nahkampf im Gedränge.
Der Soldat, der Gerhard von Echten am nächsten war, stürmte mit erhobenem Säbel auf ihn zu.
Der hochgewachsene Deutsche wich einen Schritt beiseite und parierte reaktionsschnell. Er wußte, daß es keine Hoffnung mehr gab. Doch eher wollte er im offenen Kampf sterben, als daß er sich wie ein Tier niedermetzeln ließ.
Hell prallten die Klingen aufeinander. Der Spanier drängte mit der ganzen Wucht seines Körpergewichts nach. Gerhard von Echten stemmte sich wild entschlossen dagegen. Der keuchende Atem des Soldaten schlug ihm ins Gesicht.
Jäh wich von Echten zur Seite. Der Spanier stolperte und wurde vom eigenen Schwung mitgerissen. Doch er fing sich, wirbelte herum, jetzt in der Dunkelheit unter dem Bohlenweg. Von Echten sah den matten Reflex, als sein Gegner den Säbel wieder hochriß. Er ging zum Gegenangriff über, bevor der Spanier den ersten Schritt geschafft hatte.
Die Klingen klirrten in rasender Folge. Gerhard von Echten hatte keine Zeit, sich um das zu kümmern, was um ihn herum geschah. Mit Vehemenz fuhr er dem Spanier in die Parade, durchbrach dessen Kontern mit zwei, drei unbarmherzigen Hieben und gewann an Boden.
Der Spanier wich zurück. Verzweifelt versuchte er, das Blatt zu wenden. Doch dem wirbelnden Säbel des Deutschen vermochte er nichts mehr entgegenzusetzen.
Gerhard von Echten stieß plötzlich ins Leere. Ruckartig hielt er inne.
Die Dunkelheit hatte den Spanier verschluckt.
Unvermittelt gab es einen klatschenden Aufprall. Von Echten erstarrte. Ein eisiger Schauer kroch seinen Rücken herauf.
Der Graben!
Die Geräusche, die folgten, gingen ihm durch Mark und Bein. Mächtige Kieferknochen schlugen schmetternd aufeinander. Die Schwänze der Riesenechsen peitschten das schlammige Wasser. Der gellende Todesschrei des Spaniers brach nach wenigen Augenblicken ab. Und immer noch brodelte die Hölle der Alligatoren und Kaimane in der schwarzen Tiefe des Grabens.
Harte Fäuste packten Gerhard von Echten an den Oberarmen und rissen ihn zurück. Der Säbel entfiel seiner Rechten. Widerstand war sinnlos geworden.
„Werft das Schwein hinterher!“ schrie einer der Spanier.
Was dann folgte, hörte Gerhard von Echten nicht mehr. Ein Hieb, der seinen Schädel traf, löschte sein Bewußtsein aus.
Als er wieder erwachte, loderten ein Dutzend Fackeln auf der freien Fläche vor der Brücke. Die Helligkeit blendete ihn. Er schloß die Augen und spürte erst jetzt, daß sie ihn gefesselt hatten. Er stand aufrecht an einem Pfahl, den sie in den Boden gerammt hatten. Abermals öffnete er die Augen.
Sein Blick fiel auf Capitán Gutiérrez. Der Festungskommandant stand drei Schritte von ihm entfernt, flankiert von einer waffenstarrenden Front von Soldaten. Sie hatten die Lage unter Kontrolle, und es gab niemanden im Lager der Galeerensklaven, der sich dieser Übermacht noch entgegenzustellen gewagt hätte.
Gutiérrez war nur unvollständig angekleidet. Er trug kein Wams, das offenstehende Hemd ließ den dichten Haarfilz seiner Brust hervorquellen. Er fixierte den hochgewachsenen Deutschen aus schmalen, haßerfüllten Augen.
„Hiermit verurteile ich dich zum Tode, Alemán!“ sagte Gutiérrez zornbebend. „Die Exekution wird bei Sonnenaufgang stattfinden. Die Nacht wirst du in dieser etwas unbequemen Stellung verbringen. Ich werde mir inzwischen überlegen, ob ich dich den Krokodilen zum Fraß vorwerfe oder ob ich dir eigenhändig den Kopf abschlage.“
Gerhard von Echten dachte nicht daran, die Augen zu schließen. Er hielt dem Blick des Capitán stand, bis dieser sich mit einem Ruck abwandte und davonstapfte.
Die Fackeln brannten weiter, und auch das verstärkte Wachkommando blieb.