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Am Vormittag des 10. Februars 1580 gellte Dan O’Flynns Ruf aus dem Hauptmars: „Ho, Männer, Land in Sicht – Plymouth liegt vor uns!“

Er tanzte auf seinem luftigen Posten und führte sich so wild auf, daß sogar Arwenack, dem Schimpansenjungen, das kalte Grausen kam. Immerhin, ein triftiger Grund lag vor: Endlich war die Heimat erreicht, Anlaß genug für einen Freudentaumel. Und die Aussicht, den Seewolf von Expertenhänden pflegen zu lassen, war nahegerückt — doppelter Grund für Dans akrobatische Verrenkungen.

Der Kutscher verließ die Kombüse und kletterte zu einigen seiner Kameraden auf die Back. Der Himmel, der sich über Plymouth und dem Plymouth Sound wölbte, war wolkenverhangen. Der Wind blies mäßig aus Südost. Er fiel also raumschots ein und ließ die „Isabella V.“ über Backbordbug genauf auf die Hafenbollwerke und Piers der Stadt zusegeln. Ohne große Begeisterung musterte der Kutscher den flachen schwarzen Streifen, der die Küste darstellte, und die Häuseransammlung, die bald mit bloßem Auge zu erkennen war.

„Oktober 1576“, sagte er. „Nahezu dreieinhalb Jahre ist es nun her, daß wir von der Preßgang der ‚Marygold‘ mitgeschleift wurden. Ich bedaure nichts von dem, was ich in dieser Zeit erlebt habe. Ich weine dem eintönigen Landleben wirklich keine Träne nach. Aber ich bin betrübt, daß wir unter diesen Voraussetzungen nach Plymouth zurückkehren. Ich hätte es vorgezogen, noch ein paar Jahre auf den Meeren herumzustreifen und einen kerngesunden Seewolf vor Augen zu haben.“

„Hört euch die Landratte an!“ rief Carberry. „Kann immer noch nicht schwimmen, spuckt aber große Töne. Himmel, Arsch, Kutscher, ich bin wirklich heilfroh, endlich mal wieder englische Luft zu schnuppern. Vor allen Dingen, wenn sie mit dem Duft von Braten und Bier angereichert ist. Wir alle leiden unter dem Zeug, das du in deiner Eigenschaft als Kombüsenhengst und Kübelschwenker zusammenbraust. Endlich kann man mal wieder richtig essen und trinken.“

„Undankbare Bande“, sagte der Kutscher.

„Undankbar? Du kannst froh sein, daß wir noch leben – bei dem Fraß, den du uns vorsetzt“, erwiderte Matt Davies. „Man muß kein Genießer wie Jean Ribault sein, damit einem so was gründlich zum Hals ’raushängt – Suppe mit Kakerlakeneinlage, gebratene Rattenkeule und Schimmelkuchen mit Maden drin, pfui Teufel.“

„Ihr könnt mich alle mal“, sagte der Kutscher. Damit marschierte er ab zum Achterdeck. Arwenack war abgeentert und beobachtete ihn von den Luvhauptwanten aus. „Du Affe“, sagte der Kutscher. „Paß bloß auf, daß ich dich nicht in die Finger kriege, sonst setze ich dich diesen Ignoranten eingepökelt vor.“

„He, was ist denn mit dem los?“ fragte Smoky.

„Laus über die Leber gekrochen“, erwiderte Sam Roskill grinsend. Er wies zur Back, wo sich Carberry und die anderen vor Lachen bogen.

Die Stimmung war zum ersten Mal, seit Hasard die halbe Rah gegen den Kopf geflogen war, wieder etwas angehoben. Ben Brighton setzte ihr keinen Dämpfer auf und bremste die Männer nicht. Der Lärm konnte den Seewolf kaum stören, und im übrigen hatte die Crew es bitter nötig, endlich einmal wieder aus der dumpfen Bordmonotonie gerissen zu werden.

Zu still war es in den vergangenen zwei Wochen auf der „Isabella V.“ geworden, zu tief war der allgemeine Gemütszustand abgesunken. Ben Brighton wußte, welche Gefahren dieses Verfallen in finsteres Brüten und Apathie mit sich brachte. Die Männer wurden launisch und ungenießbar, ein nichtiger Anlaß genügte, um das Pulverfaß zur Explosion zu bringen.

Andererseits war auch der Unmut der Männer über die Anwesenheit von Sir John und Baldwin Keymis immer mehr gewachsen. Auch die zweiundzwanzig Besatzungsmitglieder von Sir Johns Galeone wollten sie nicht mehr an Bord der „Isabella“ haben. Wirklich, Ben Brighton war in jeder Hinsicht froh, England endlich erreicht zu haben.

Er winkte den Kutscher zu sich herauf. „Wie geht es dem Seewolf?“

„Er ist nach wie vor bewußtlos. Vorletzte Nacht ist er zum zweitenmal während unserer Fahrt kurz aus seiner Ohnmacht aufgeschreckt, aber das habe ich dir wohl schon erzählt. Er phantasierte wieder und schlug um sich, aber seitdem hat sich nichts Nennenswertes mehr ereignet.“

„Und die Kopfwunden? Sie haben sich doch entzündet, oder?“

Der Kutscher schnitt eine traurige Miene. „Die Entzündung ist nicht abgeklungen. Wirklich, ich habe die Verbände sooft wie möglich gewechselt und auch immer die Verletzungen ausgewaschen, so gut es ging. Aber ich habe nicht verhindern können, daß sich da Eiterherde bilden.“

„Du brauchst dich mir gegenüber nicht zu rechtfertigen“, sagte Ben. „Du hast wirklich getan, was in deinen Kräften steht. Außerdem wissen wir ja, daß du als Feldscher etwas auf dem Kasten und manchem von uns das Leben gerettet hast.“

„Und als Koch?“

„Als Koch was?“

„Ich meine, ist das Essen an Bord wirklich so schlecht?“

Ben warf einen kurzen Blick zu Smoky und den anderen auf der Kuhl, dann zur Back. Ihm wurde klar, daß die Männer den Kutscher mal wieder auf die Schippe genommen hatten. Besonders wenn es um seine Kochkünste ging, war er rasch beleidigt.

„Hör mal, Mann“, sagte Ben. „Hast du jemals darüber nachgedacht, warum Dan O’Flynn sich öfter mal eine Extraration aus der Kombüse stiebitzt?“

„Na, weil er immer Hunger hat, oder?“

„Ja. Aber es ist doch auch ein Zeichen, daß es ihm schmeckt. Sonst würde er garantiert nicht klauen.“

Der Kutscher lächelte plötzlich. „Also ehrlich, das ist mir noch nie so recht bewußt geworden. Danke, Ben.“

„Nicht der Rede wert. Etwas anderes. Meinst du, wir treffen Sir Freemont auch zu Hause an?“

„Bestimmt, wenn er nicht gerade auf Patientenbesuch ist. Mit deiner Frage meinst du wohl, ob es sein könnte, daß er Plymouth verlassen hat – nein, das glaube ich nicht. Es wäre gegen seine Gewohnheiten. Ich war doch Kutscher bei ihm, ich muß es wissen.“

„Gut.“ Ben griff in die Hosentasche und zog einen Lederbeutel hervor. „Ich habe – Hasards Einverständnis voraussetzend – einer der Schatztruhen im Frachtraum Perlen und Diamanten entnommen. Die sind für Sir Freemont. Hier, nimm. Du händigst sie ihm aus, als Vorschuß auf die Bezahlung der Wundbehandlung.“

Der Kutscher nahm den Beutel entgegen und wog ihn prüfend in der Hand. „Himmel, Ben, das reicht ja aus, um ganz London aufzukaufen. Ich glaube nicht, daß Sir Anthony Abraham Freemont das annimmt.“

„Er muß es. Der Seewolf muß alle Kuren erhalten, die ihn zu heilen vermögen, koste es, was es, wolle. Und Sir Freemont soll ruhig wissen, daß wir uns das erlauben können, verstehst du? Er soll nicht glauben, wir wären arme Schlucker. Wer reich ist, wird stets besser und zuvorkommender gepflegt, das ist überall so.“

„Nicht bei Sir Freemont, aber du kennst ihn ja nicht.“ Der Kutscher stopfte sich den Lederbeutel in die Tasche. „Also gut, ich passe auf, daß ich heil zu ihm gelange. Und ich werde dafür sorgen, daß alles nach Wunsch verläuft, darauf kannst du dich verlassen.“

Ben Brighton richtete seinen Kieker auf die Mill Bay und die Hafenbollwerke. Er entdeckte eine langgestreckte Pier, die quer in den Hafen ragte. An ihr war noch Platz für die „Isabella“. Ben ließ seinen Blick über das gesamte Hafengelände wandern und befand, daß es nichts gab, was gegen ein reibungsloses Anlegemanöver sprach.

„Kutscher, bereite alles für den Abtransport vor. Ich will, daß Hasard schon auf Deck geholt wird. Sobald wir festliegen, besorgen wir uns eine Kutsche, und du bringst unseren Kapitän zusammen mit einigen Männern direkt zu Sir Freemont. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren, keine Minute, verstehst du?“

„Und ob.“

Ben wandte sich wieder nach vorn. „Stenmark, Matt Davies, Al Conroy, Gary Andrews und Dan O’Flynn — ihr begleitet Hasard zusammen mit Gwen und dem Kutscher an Land.“

„Aye, aye, Sir“, rief Stenmark für alle fünf zurück.

Der Kutscher verließ das Achterdeck und tauchte im schummrigen Halbdunkel des Achterkastells unter. Ben blieb an der Holzbalustrade des Achterdecks stehen und erteilte die Befehle für das Anlegemanöver.

„Ferris, laß Vor- und Achterleinen klarlegen. Wir gehen mit der Backbordseite an die Außenkante der langgestreckten Pier, so daß wir sofort wieder auslaufen können, falls das notwendig ist. Wenn wir längsseits der Pier liegen, fahren wir die Gangway aus, klar?“

„Aye, aye.“

Ferris flitzte los. Carberry wandte den Kopf nach oben, wo ein Dutzend Männer der Crew bereits wie die Affen in den Webeleinen der Wanten turnte. „Segel aufgeien, ihr Affenärsche, wird’s bald? Oder habt ihr vergessen, wie man das macht? Muß ich euch die Hammelbeine langziehen, was, wie?“

Ben hob wieder das Spektiv ans Auge. Durch die Optik sah er, wie ein paar Menschen auf den Kais zusammenliefen. Einige Männer hatten das Manöver der „Isabella“ im Ansatz erkannt und rannten nun über die Pier.

„Ferris, die Leute wollen die Leinen wahrnehmen. Laß ihnen die Wurfleinen zuwerfen.“

„In Ordnung!“

Die beiden Wurfleinen wurden an die Festmachertrossen angesteckt. Dann stand vorn auf der Back Blakky klar zum Wurf. Achtern versah Sam Roskill diese Aufgabe. Ben Brighton korrigierte den Kurs und gab noch einen kurzen Ruderbefehl an Pete Ballie. Die „Isabella V.“ glitt im sanften Auslauf entlang der Pier.

Ferris stieß einen Ruf aus. Blacky und Sam schleuderten die beiden Wurfleinen. Sie flogen hinüber, wurden von den Männern auf der Pier aufgefangen und Hand über Hand durchgeholt. Die an die Leinen angesteckten Trossen klatschten ins Wasser, wurden herangezogen und um wuchtige Holzpoller gelegt. Wenig später lag die stolze Dreimast-Galeone im Hafen von Plymouth fest.

Ben Brightons Blick richtete sich auf das Quarterdeck. Der Kutscher hatte den Seewolf auf eine von Ferris Tucker gezimmerte Trage legen und aus dem Achterkastell transportieren lassen. Stenmark und Gary Andrews waren die Träger. Auch Al Conroy und Matt Davies standen bereit, und Dan O’Flynn enterte soeben aus dem Hauptmars ab, um sich auch zu ihnen zu gesellen.

Der Kutscher lief zum Backbordschanzkleid, jumpte auf die gerade ausgelegte Gangway und hastete auf die Pier hinüber. Nur kurz palaverte er mit zwei Männern, dann eilte einer dieser beiden in Richtung Kai.

Der Kutscher legte beide Hände wie einen Schalltrichter an den Mund und rief Ben Brighton zu: „Die Kutsche wird geholt. Bringt Hasard herüber!“

Ben nahm den Niedergang zum Quarterdeck. Er trat neben die Treppe und betrachtete das Gesicht des Seewolfes: Unter seiner Sonnenbräune war der Seewolf fahl wie ein Leinentuch. Er sah erbärmlich aus. Ben Brighton holte tief Luft. Ihm war elend zumute, denn er wußte, daß kein Grund zu großen Hoffnungen bestand. Hasard war mehr tot als lebendig, das mußte auch der größte Optimist eingestehen. Überhaupt, es war ein Wunder, daß er noch lebte.

Und Gwendolyn Bernice O’Flynn? Bens Blick wanderte zu ihr. Sie hatte Schatten unter den Augen, ihre Hautfarbe war erschreckend blaß, ihre Lippen blutleer. Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst.

„Geht“, sagte Ben. „Die Zeit drängt. Gary, Matt, Al, Stenmark und Dan, ihr haftet mit eurem Leben für die Sicherheit des Seewolfes, was immer auch geschieht. Wenn ihr bei Sir Freemont angekommen seid, genügt es, daß Gwen und Dan die Krankenwache übernehmen.“

„Aye, aye, Sir“, erwiderten die Männer.

Ben beugte sich über Hasard. Er lag nach wie vor in tiefer Bewußtlosigkeit und konnte ihn nicht verstehen. Trotzdem sagte Ben: „Mach’s gut, Kapitän. Unsere Gedanken begleiten dich. Wir beten, daß du wieder gesund wirst. Es muß einen Weg geben – es muß.“

Wo war das harte Lächeln, wo der kühle Blick der eisblauen Augen des Seewolfes? Wann würde er wieder mitten zwischen ihnen stehen, um sie zu lenken, ein paarmal kräftig gegen den Wind zu spucken und dem Teufel ein Ohr abzusegeln? Philip Hasard Killigrew lag todkrank mit halb geöffnetem Mund, und nur die Narbe, die sich von seiner rechten oberen Stirnhälfte schräg über die linke Augenbraue und die linke Wange zog, hatte noch ein wenige Farbe. Die eitrigen Wunden, die den Kopf verband näßten, waren drohende Male der bitteren Realität, Zeichen, die der Zuversicht keinen Platz ließen.

Ben trat zurück und erteilte durch einen Wink den Befehl, den Seewolf von Bord zu bringen. Gary und Stenmark hoben vorsichtig die Trage an. Sie gingen zum Laufsteg und begaben sich so behutsam wie möglich mit ihrer Last an Land. Dan, Gwen, Al und Matt folgten ihnen in stummer Prozession.

Der Kutscher erwartete sie auf der Pier. Er drängte eine kleine Menschenmenge, die sich inzwischen versammelt hatte, beiseite und schuf Platz. Ohne Aufenthalt marschierten die Männer und das Mädchen in Richtung Kaimauer davon.

Die Crew der „Isabella V.“ schaute ihnen betreten nach. Keiner sprach es aus, aber es war, als ginge der Seewolf für immer von Bord.

Die Kutsche wartete am Ende der langgestreckten Pier auf sie. Sie war ein geräumiger Zweispänner und verfügte über eine kleine Ladefläche, auf die die Männer die Trage schieben konnten. Sie zurrten sie ein wenig fest, dann stiegen Dan und Gwen ebenfalls auf die Ladefläche, um direkt neben dem Seewolf zu bleiben.

Al, Gary, Matt und Stenmark nahmen die mittleren Sitzplätze ein, während der Kutscher – wie sollte es anders sein – zu dem Eigner auf den Kutschbock kletterte.

„Nimm die Western Road und fahre an der St.-Andrews-Kirche vorbei zum Norden der Stadt“, sagte der Kutscher zu dem Mann.

„In Ordnung. Du kennst dich aber gut aus.“

„Ich bin hier zu Hause.“

„Komisch, daß mir dein Gesicht nicht bekannt ist.“

Der Kutscher zog die Augenbrauen zusammen. „Fahr zu, Mann, reden können wir unterwegs.“ Das Gefährt zog an, und er drehte sich zu den anderen um. „Liegt Hasard auch bequem? Ich habe Bedenken wegen der Erschütterungen.“

Al Conry wandte sich an Gwen und Dan, um die Frage zu wiederholen, aber der Junge hatte bereits verstanden. Er schaute auf und antwortete: „Alles in bester Ordnung. Die Kutsche ist gut gefedert, außerdem fängt auch die Trage noch einiges an Stößen ab.“

„So ein Segen.“

Der Besitzer der Kutsche trieb die Pferde an. Er schnalzte mit der Zunge, ließ die Peitsche knallen und rief: „Ihr müden Böcke, wollt ihr wohl laufen? Wartet, ich bringe euch schon auf Trab, ihr verdammten Klepper!“ Der Zweispänner ratterte schneller über die Katzenköpfe der Western Road, und er grinste den Kutscher von der Seite an.

„Ich heiße Bill“, sagte er. „Eigentlich kenne ich jeden hier in Plymouth, aber du mußt wohl schon länger weggewesen sein, daher bist du ein Fremder für mich. Ich bin vor zwei Jahren zugezogen und lebe davon, Leute mit meiner Kutsche zu befördern.“

„Dann sind wir Kollegen. Ich war Kutscher bei Sir Freemont.“

„Bei dem Arzt? Donnerwetter, und so einen guten Posten hast du aufgegeben?“

„Auf See ist mehr los, mein Freund.“

„Ja, aber man trägt auch seine Haut zu Markte.“ Bill grinste immer noch. Er schien eine ausgesprochene Frohnatur zu sein. „Sag mal, wie heißt du denn?“

„Alle nennen mich den Kutscher.“

„Meinetwegen, Kutscher. Ist es wahr, daß der schwarzhaarige Mann dort auf der Ladefläche der Seewolf genannt wird und ein Sproß der Killigrews aus Falmouth ist?“

Der Kutscher musterte ihn abschätzend. „Kannst du schweigen?“

„Wie ein Grab.“

„Dann behalte es gefälligst für dich. Es stimmt, er heißt Philip Hasard Killigrew und ist der großartigste Kapitän, den du dir vorstellen kannst. Aber wenn du es ausposaunst und damit hausieren gehst, daß er hier in Plymouth ist, werden wir Feinde, mein Freund. Es hat keinen Sinn, daß alle Welt davon erfährt. Der Seewolf braucht Pflege und viel, viel Ruhe. Aufregung würde ihm schaden.“

Bill nickte. „Ich hab’s kapiert. Ja, es werden wirklich die sagenhaftesten Geschichten über diesen Mann erzählt. Er ist eine Legende geworden, seitdem er Cornwall verlassen und sich auf Kaperfahrt begeben hat.“ Er warf einen Blick über die Schulter zurück. „Wer hat ihn denn so übel zugerichtet?“

„Das erzähle ich dir später mal. Weißt du genau, wo Sir Freemont wohnt?“

Bill lachte auf. „Der Teufel soll mich holen, wenn ich Plymoth nicht wie meine Hosentasche kenne! Also, das Haus von Sir Freemont befindet sich in der North Road am Hafenarm Stonehouse Mill Pond, ganz genau an der Ecke North Road – Stoke Hill.“ Er deutete mit dem Kopf nach hinten. „Sind das deine Freunde? Fahren die auch alle unter dem Seewolf?“

Matt Davies beugte sich vor. Er grinste freundlich wie ein hungriger Hai und zeigte Bill seinen Eisenhaken. „Freundchen, du bist mir zu neugierig. So was kann verflucht ungesund sein, weißt du das?“

Bill erbleichte. Er drehte die Nase nach vorn, peitschte seine Pferde voran und war fortan wortkarg. Sie fuhren durch Plymouth, stießen auf wenige Menschen und gelangten ohne Zwischenfälle in die North Road. Der Kutscher sprang ab, während die Kutsche noch ausrollte, und eilte durch einen schmucken kleinen Garten auf das Haus zu, das er so gut kannte und mit dem sich angenehme Erinnerungen verbanden. Er betätigte den Türklopfer.

Schritte näherten sich von innen. Ein Riegel wurde zurückgeschoben, die Tür öffnete sich – und dann atmete der Kutscher auf, denn er stand wahrhaftig Sir Anthony Abraham Freemont gegenüber. Der Arzt war sprachlos vor Überraschung.

„Kutscher! Ja, ist denn das die Möglichkeit?“

„Guten Tag, Sir, wie geht es Ihnen?“

„Mir ausgezeichnet.“ Sir Freemont wies an sich herab. „Wie du siehst, habe ich mich in den Jahren deiner Abwesenheit kaum verändert.“

„Es stimmt, Sie sind so schlank und kräftig wie früher und scheinen überhaupt nicht gealtert zu sein.“

Sir Freemont lachte. Er hatte ein hageres, wissendes Gesicht mit klugen, grauen Augen. Über seinen schmalen Lippen hob sich eine gerade Nase ab, und seine Stirn wurde an ihrem oberen Ansatz durch graue, volle Haare geziert.

„Na, nun übertreibe mal nicht“, sagte er. „Ich wäre froh, wenn die Medizin schon so weit wäre, daß sie den allmählichen Verfall des Organismus’ aufhalten könnte. Aber nun zu dir, Kutscher. Was ist der Grund für deinen plötzlichen Besuch? Möchtest du wieder in meine Dienste treten? Du bist herzlich willkommen. Ich stelle dich sofort wieder ein.“

Der Kutscher trat mit einem Male verlegen von einem Fuß auf den anderen. „Das ist es nicht, Sir. Ich – wir haben einen Schwerkranken, der nur durch Ihre Hilfe genesen kann.“

Sir Freemont nahm erst jetzt die Kutsche genauer in Augenschein und entdeckte auch die Trage mit dem Seewolf. „Ja, Himmel, Kutscher, und da zögerst du noch? Nimm die Beine in die Hand, lauf zu deinen Freunden und sorge dafür, daß der Patient sofort in meine Behandlungsräume gebracht wird. Du kennst dich aus, es ist alles noch so wie früher. Warte, ich öffne dir die Tür ganz, damit ihr besser durchkommt.“

Wenig später versammelten sich die Männer im Sprechzimmer um den bewußtlosen Seewolf. Vorsichtig hatten sie ihn von der Kutsche gehievt, ebenso behutsam hatten sie ihn ins Haus geschafft. Bill wartete draußen. Der Kutscher wollte ihn noch nicht fortschicken. Er war sicher, daß der Mann noch gebraucht wurde.

Sir Freemont begrüßte Gwen, wie es sich für einen Mann seiner Klasse gehörte, dann schüttelte er auch den anderen die Hände. Der Kutscher nannte ihre Namen.

„Gut“, sagte Sir Freemont. „Sehen wir uns jetzt den Patienten an.“ Er hatte sich die Hände gewaschen. Langsam begann er, Hasards Kopfverband zu lösen. Der Kutscher assistierte ihm, und auch Gwen leistete Unterstützung.

„Fachgerecht angelegt“, sagte der Arzt. „Wer hat das getan?“

„Der Kutscher“, sagte Gary Andrews.

Sir Freemont warf seinem ehemaligen Bediensteten einen anerkennenden Blick zu. „Donnerwetter, mein Bester. Du hast damals gut aufgepaßt, wenn wir zusammen unterwegs waren. Besser hätte ein Arzt diesen Verband auch nicht anbringen können.“

Der Kutscher wurde vor Stolz tatsächlich rot.

Sir Freemont legte Hasards Kopf frei, sorgte für ausreichend Licht und betrachtete die Verletzungen dann sehr lange.

„Wer ist dieser Mann?“ fragte er.

„Mein Mann“, erwiderte Gwen. „Sein Name ist Philip Hasard Killigrew.“

„Killigrew? Jetzt verstehe ich. Der Seewolf. Der Mann, der im Oktober 1576 zusammen mit dir, Kutscher, und anderen Männern vor der ‚Bloody Mary‘ des Nathaniel Plymson von Drakes Preßgang überfallen wurde. Ich kann mir so einiges zusammenreimen. Wenn mich nicht alles täuscht, hat der Seewolf einen schweren, länglichen Gegenstand, wahrscheinlich einen Pfahl oder etwas Ähnliches, an den Schädel gekriegt.“

„Eine halbe Rah“, sagte Matt Davies sachlich.

„Aha. Während eines Sturmes?“

„Bei einem Gefecht mit den Spaniern“, erwiderte Dan O’Flynn.

„Verstehe“, sagte Sir Freemont. „Vielleicht fragen Sie sich jetzt, warum denn wohl diese Details so wichtig sind, meine junge Lady und meine Herren. Nun, sie sind von Bedeutung. Denn wenn Mister Killigrew beispielsweise ein metallenes Objekt, womöglich noch angerostet, gegen den Kopf geflogen wäre, hätte ich wegen der Art der Infektion größere Bedenken gehabt. So aber besteht Hoffnung.“

„Hoffnung?“ Gwens Augen begannen zu leuchten. Das Wort hatte gleichsam Zauberwirkung auf sie. Sie klammerte sich daran wie ein Ertrinkender an eine in der See treibende Planke.

„Durchaus“, erwiderte Sir Freemont. „Ich glaube schon jetzt mit Sicherheit sagen zu können, daß ich die schlimmste, todbringende Form des Wundstarrkrampfes von ihm fernhalten kann. Oder anders ausgedrückt: Da Mister Killigrew bis jetzt den Attacken des Wundfiebers standgehalten hat, wird er auch allen weiteren trotzen. Es klingt brutal, ich weiß. Aber es entspricht den Tatsachen. Dieser Mann verfügt über eine außerordentlich robuste Natur. Je stärker die körperliche Verfassung eines Menschen, desto größer auch seine Widerstandskraft, das ist die Regel. Was nun das Grundübel betrifft: Wir haben es mit einer komplizierten Schädelfraktur zu tun. Das heißt aber nicht, daß wir verzweifeln müssen.“

„Ich versteh kein Wort“, sagte Matt Davies. „Ich habe nur mitbekommen, daß Hasard ein Klotz von Kerl ist, und daß ihn so schnell nichts völlig aus den Stiefeln holt.“

Dan grinste verstohlen. „Schädelfraktur ist doch das gleiche wie Schädelbruch, nicht?“

„Ja“, erwiderte der Arzt. „Die Schädelknochen sind an mehreren Stellen gebrochen, wie sicherlich auch schon der Kutscher festgestellt hat. Zu einer genauen Diagnose werde ich erst innerhalb der nächsten Stunden kommen. Doch eines ist gewiß, hier handelt es sich um einen hochinteressanten Fall. Gerade auf dem Gebiet der Schädelchirurgie und Behandlung von Hirnkrankheiten habe ich meine Studien in letzter Zeit sehr vorangetrieben und bin überzeugt, die geeignete Therapie für Mister Killigrew – für den Seewolf zu finden.“

„Hat sich sein Kriegsname also auch schon bis zu Ihnen herumgesprochen“, sagte der Kutscher.

Sir Freemont nickte. „Ja, und ich bin erfreut, daß Sie, Mrs. Killigrew, den Weg zu mir gefunden haben und mir Ihren Gatten anvertrauen.“

„Zu wem hätten wir denn sonst gehen sollen?“ erwiderte Gwen. „Wir haben doch sonst niemanden, und im übrigen war es die Idee des Kutschers, Sie aufzusuchen.“

„Madam“, sagte Sir Freemont. „Sie dürfen mich nicht mißverstehen, aber ich bin gleichermaßen hochentzückt, einen Patienten wie Ihren Mann zu haben. Ich werde alles daransetzen, ihn wieder auf die Beine zu bringen, und das Ergebnis wird hoffentlich zufriedenstellend für alle Beteiligten sein. Ein wirklich hochinteressanter Fall. Bemerkenswert auch der Umstand, daß Sie von der Küste Portugals bis hierher gesegelt sind, um mich aufzusuchen. Ich habe dich da doch richtig verstanden, Kutscher, oder?“

„Ja.“ Der Kutscher erzählte nun die ganze Geschichte – wie sie Sir John Killigrew aus der Patsche geholfen hatten, wie die letzte spanische Karavelle explodiert war und es den Seewolf am Kopf getroffen hatte, was es mit den Männern an Bord der „Isabella V.“ auf sich hatte und daß das Schiff für Ihre Majestät Elizabeth I. von ungeheurer Bedeutung sei.

Zum Schluß reichte er Sir Freemont den Lederbeutel mit den Perlen und Diamanten. „Ben Brighton läßt einen schönen Gruß ausrichten, und hier ist ein Vorschuß auf das, was wir Ihnen für Ihre Bemühungen schulden werden.“

Der Arzt zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Er nahm den Beutel, zog mit spitzen Fingern einen Edelstein heraus, drehte ihn vor dem Licht einer Lampe. Dann ließ er ihn wieder in den Lederbeutel fallen und gab diesen dem Kutscher zurück. „Sehr schön. Ich bedanke mich für das Anerbieten, aber vergeßt bitte nicht, daß ich in erster Linie Arzt aus Leidenschaft und Berufung bin. Die Tatsache, daß Sie mich belohnen wollen, Gentlemen, ehrt mich selbstverständlich. Doch ich bin der Überzeugung, daß die Perlen und Edelsteine bei Ihnen besser aufgehoben sind.“

„Na bitte, ich hab’s ja gesagt!“ Der Kutscher strahlte. „Ich habe Ben gleich klarmachen wollen, daß Sie nicht geldgierig sind, Sir.“

Sir Freemont wusch sich wieder die Hände, dann nahm er eine Pinzette und ein blütenweißes Tuch und zog Hasard sehr, sehr vorsichtig einen Holzsplitter nach dem anderen aus der Kopfwunde. Der Kutscher und Gwen gingen ihm wieder zur Hand. Zweimal unterbrach Sir Freemont seine Arbeit und pinselte dem Seewolf behutsam einen wundstillenden und schmerzlindernden Balsam auf. Am Ende wies er den Männern der Isabella-Crew die Splitter vor.

„Ein halbes Dutzend“, sagte Al Conroy.

„O verdammt“, sagte Matt Davies.

Hasard stöhnte leise. Sir Freemont betrachtete ihn und reichte das Tuch mit den Splittern an den Kutscher weiter, der es forttrug.

Sir Freemont sah zu Gwen, die Hasards Hand ergriffen hat. „Beunruhigen Sie sich nicht, Madam. Was Ihr Gatte vor allen Dingen benötigt, ist Ruhe, Ruhe und nochmals Ruhe. Ich verordne also als Basis aller Therapie, daß er ein Krankenzimmer in meinem Haus bezieht und dort um keinen Preis gestört wird.“

„Ja“, sagte Gwen. „Ich bin Ihnen so dankbar.“

Sir Freemont lächelte. „Gentlemen, greifen Sie bitte mit zu, wir bringen Mister Killigrew sofort in das Zimmer. Ich weise Ihnen den Weg.“

Das Zimmer war sauber und geräumig. Sir Freemont zog die Fensterläden halb zu, Gwen richtete das Bett her. Hasard wurde von der Trage aufs Bett gelegt, dann ließ Sir Freemont die Trage von Al Conroy in ein Nebengelaß bringen und aufrecht hinstellen.

Er wartete, bis Al zurückkehrte, dann sagte er streng: „So, und jetzt ab mit Ihnen auf Ihr Schiff, Gentlemen. Kutscher, das gilt auch für dich. Ich brauche keine Hilfe mehr. Mrs. Killigrew bleibt selbstverständlich an der Seite ihres Gatten, aber sonst dulde ich keinen im Krankenzimmer. Er würde dem Seewolf durch seine Anwesenheit doch mehr schaden als nutzen.“

„Moment“, sagte Dan aufgeregt. „Bitte, Sir, lassen Sie mich bleiben. Gwen ist meine Schwester, Hasard demzufolge mein Schwager. Ich verspreche, auch mucksmäuschenstill zu sein.“

Nach einigem Zögern willigte der Arzt ein. Die Männer verabschiedeten sich von den beiden O’Flynns.

„Wird dir Arwenack auch fehlen?“ erkundigte sich Matt Davies bei Dan.

„Ach was, der ist doch quietschvergnügt und braucht mich nicht. Hauptsache, ihr gebt ihm genügend zu fressen.“

Der Arzt geleitete die fünf Männer zur Tür. Als Gwen und Dan es nicht mehr hören konnten, fragte der Kutscher noch einmal: „Wirklich, sind Sie so zuversichtlich, was Hasards Heilung betrifft, Sir?“

Sir Freemont wurde sehr ernst. „Das ist kein leichtes Stück Arbeit, Freunde. Aber ich tue, was in meinen Kräften steht. Natürlich besteht noch Gefahr für das Leben des Seewolfes, aber es ging mir in erster Linie auch darum, seine Frau zu besänftigen. Das arme Kind ist ja völlig verstört. Wenn sie nicht ein bißchen seelisches Gleichgewicht findet, kann sie sich bald zu ihrem Mann legen.“

„Verstehe“, sagte Stenmark. „Danke, Doc. Hoffentlich sehen wir uns bald wieder.“

Dem Kutscher fiel es ziemlich schwer, sich von seinem früheren Brötchengeber zu trennen. Aber er gab sich Mühe, das zu verbergen. Nachdem sie zu Bill und dessen Kutsche zurückgekehrt waren, kletterte er wieder auf den Bock und sagte: „Willig, Bill. Wir werden an Bord unseres Schiffes erwartet.“

„Darf man fragen, was ihr dann so lange getrieben habt?“ fragte Bill.

Matt Davies beugte sich vor. „Fängst du wieder an?“ sagte er drohend. Er brauchte den Eisenhaken diesmal nicht vorzuzeigen – die Kutsche ruckte an und ratterte unter dem „Hü“ und „Ho“ und den Flüchen ihres Eigentümers in die Stadt zurück. Matt drehte sich zu seinen Kameraden um. „So richtig hab ich immer noch nicht kapiert, was im Kopf dieses Docs vorgeht. Aber ich habe das untrügliche Gefühl, daß er schwer was auf dem Kasten hat und Hasard sich wirklich bei ihm in den besten Händen befindet – ja, das glaube ich.“

„Na dann“, sagte Al Conroy mit gelindem Spott. „Wenn du das glaubst, kann ja eigentlich nichts mehr schiefgehen.“

Seewölfe Paket 3

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