Читать книгу Seewölfe Paket 3 - Roy Palmer - Страница 8
4.
ОглавлениеHasard wartete bereits in seiner Kammer. Aber er war nicht allein. Gwen saß ihm gegenüber. Sie hatte ihn auf dem Gang abgepaßt und um eine Unterredung gebeten.
Hasard sah das Mädchen an, und er mußte sich an diesem Morgen verdammt zusammennehmen, um seine Gefühle nicht zu verraten.
„Also, Gwen, was gibt es?“ fragte er schließlich, weil er sah, daß dem Mädchen der Anfang offenbar schwer wurde.
Gwen gab sich einen Ruck.
„Ihr wollt ein Bordgericht einberufen, um Keymis zu bestrafen, für das, was er gestern nacht versucht hat ...“
Hasard stand auf und ging langsam um den großen Tisch herum, auf dem neben spanischen Seekarten auch nautische Instrumente lagen.
Hinter Gwen blieb er stehen und legte dem Mädchen die Rechte auf die Schulter.
„Ich wußte, daß du für diesen Kerl bitten würdest, denn das hast du doch vor, oder nicht?“
Gwen nickte.
„Aber es ist wohl zwecklos, wie?“ fragte sie dann.
Der Seewolf schwieg eine Weile, bevor er antwortete.
„Es ist zwecklos, Gwen“, erwiderte er dann. „Ich hasse solche Verhandlungen. Ich habe noch nicht vergessen, wie Sir Thomas Doughty zum Tode verurteilt und an Bord der ‚Pelican‘ Kapitän Drakes zwei Tage später enthauptet wurde. Doughty hatte zu meutern versucht, außerdem wurde er des Verrats für schuldig befunden. Auch in diesem Fall muß ein Urteil gefällt werden. Ich weiß nicht, welches, denn Ben Brighton wird den Vorsitz führen, weil Keymis mich jederzeit wegen Befangenheit ablehnen könnte. Ben ist frei in seinen Entscheidungen, ich kann und will da nicht eingreifen.“
Er schwieg wieder einen Moment, während sich Gwen zu ihm herumdrehte und ihn ansah.
„Ich habe die ‚Isabella‘ stoppen lassen“, fuhr Hasard fort. „Wenn Ben aufmerksam war, und daran zweifle ich nicht, dann wird er erraten haben, was ich ihm mit diesem Manöver signalisieren wollte. Es war alles, was ich für Keymis noch tun konnte. Normalerweise hätte er den Tod verdient.“
Gwen fuhr erschrocken hoch.
„Nein, nein – das nicht. Dieser Kerl ist ein Schwein, aber ihr könnt ihn doch nicht ...“
„Es wird nicht geschehen, Gwen. Ich kenne Ben lange genug. Aber die Strafe wird dennoch hart sein, daran besteht kein Zweifel. Das Leben an Bord, die enge Gemeinschaft, in der wir hier leben, verlangt das. Würde ich auch nur den Versuch unternehmen, diesen Mann zu begnadigen, ich würde vor meinen Männern das Gesicht verlieren. Und vergiß nicht, jeden hier an Bord würde ein hartes Urteil treffen, wenn er sich eines so schweren Vergehens schuldig machte. Aber es freut mich, daß du für ihn bittest, es zeigt mir, daß ich mich in dir nicht getäuscht habe, von Anfang an nicht, Gwen.“
Gwen trat an ihn heran und strich ihm plötzlich mit der Hand durch das lange schwarze Haar.
„Schön, daß du das gesagt hast, gerade du, Hasard!“ Für einen Moment schmiegte sie sich an ihn, dann löste sie sich wieder.
„Ich werde vermutlich als Zeugin auftreten müssen?“ forschte sie.
„Ja, allerdings.“ Der Seewolf zögerte. „Das ist der Punkt, der mir noch Sorgen bereitet, Gwen. Ben muß seine Anklage beweisen, es kann sein, daß er dich auffordert, dich zu ...“
Gwen legte ihm rasch die Hand auf den Mund.
„Ich werde tun, was er von mir verlangt. Ich will nicht, daß an der Rechtmäßigkeit des Urteils auch nur der geringste Zweifel bestehen könnte. Niemand hier an Bord mag diesen Keymis, aber das darf keinen Einfluß darauf haben, was mit ihm geschehen wird. Und ich werde – das ist mein gutes Recht als die Betroffene – für ihn bitten, bevor das Urteil gefällt wird.“
In diesem Moment klopfte es. Nachdem Hasard „Herein“ gerufen hatte, traten Ben, Ferris Tucker, Big Old Shane und Smoky ein.
Hasard forderte sie auf, Platz zu nehmen.
„Ihr wißt, warum ich euch hierhergebeten habe. Gegen Keymis findet eine Verhandlung statt. Du, Ben, wirst die Anklage vertreten. Ich selbst will und kann das nicht, Keymis würde mich zu Recht als befangen ablehnen. Du, Ben, stellst jetzt sofort die Jury zusammen. In deiner Entscheidung bist du völlig frei, wie die Geschworenen auch. Es versteht sich von selbst, daß keiner der beiden O’Flynns als Geschworener in Frage kommt. Also, Ben, vorwärts jetzt, ich möchte diese scheußliche Sache so schnell wie möglich hinter mich bringen.“
Ben Brighton nickte. Er hatte das geahnt, aber der Seewolf handelte absolut richtig.
Ben Brighton sah Big Old Shane an, dann Ferris Tucker, dann Smoky.
„Du, Shane, und du, Ferris, und du auch, Smoky – ihr seid Geschworene. Außerdem ernenne ich Will Thorne, Valdez, Jeff Bowie, Al Conroy, Jean Ribault, Karl von Hutten, Sven Nyberg, Gary Andrews und Stenmark zu Geschworenen. Zwölf schreibt das Gesetz in England vor. Da wir uns auf See befinden und an Bord eines englischen Schiffes, ist jedes Besatzungsmitglied zulässig, sofern nicht verwandt oder verschwägert mit dem Beklagten oder der Klägerin. Die Nationalität spielt keine Rolle, und ich habe absichtlich keine Hitzköpfe ausgewählt. Verständigt jetzt die anderen Geschworenen. Die Verhandlung beginnt in einer Viertelstunde auf der Kuhl.“
Ben Brighton trat auf Gwen zu.
„Gehen Sie jetzt in Ihre Kammer, Gwen, ich werde Sie holen lassen, sobald das notwendig wird. Vielleicht kann ich Ihnen einige Unannehmlichkeiten nicht ersparen, aber dafür bitte ich um Verständnis. Es gilt nicht, Rache gegen Keymis zu üben, sondern ihn für sein Vergehen zu strafen.“
Ben Brighton blickte das Mädchen ernst an.
„Sie wissen, was auf Vergewaltigung nach englischem Recht steht?“
Gwen erblaßte.
„Ich weiß, daß mir als Klägerin das Recht zusteht, für den Beschuldigten zu bitten, Mr. Brighton“, erwiderte sie.
Ben nickte.
„Ja, aber viel wird von Keymis selbst abhängen, Miß O’Flynn. Sein Glück, daß es nur eine versuchte Vergewaltigung geworden ist!“
Ben Brighton verließ die Kammer, Gwen nach einem letzten Blick zum Seewolf ebenfalls.
Die Männer hatten sich auf der Kuhl versammelt. Sie hatten sich an Backbord aufgestellt. Die Geschworenen bildeten an Steuerbord einen Halbkreis, in der Mitte der Kuhl standen zwei Stühle. Einer für Ben, der als Ankläger und Richter zugleich fungierte, der andere für Keymis. Neben Ben hatte sich Ed Carberry aufgebaut, er hatte wieder die Funktion des Profos übernommen.
Die Männer verhielten sich still, Ben Brighton blickte in ernste Gesichter. Jeder an Bord der „Isabella“ wußte, daß dies hier kein Spaß, sondern ganz verdammter Ernst war.
„Profos, holen Sie jetzt den Beklagten“, sagte Ben Brighton in die Stille hinein. „Und Sie, Mr. O’Flynn, rufen jetzt die beiden Zeugen Gwendolyn Bernice O’Flynn und Mr. Killigrew, den Kapitän dieses Schiffes. Außerdem ist der ehemalige Stadtschreiber von Falmouth, Mr. Robert Rowe zu verständigen, daß er bei diesem Bordgericht als Protokollführer fungieren wird. Er ist ebenfalls zu rufen.“
Carberry und der alte O’Flynn setzten sich in Bewegung. Carberry ging nach vorn, wo der Friedensrichter in der Vorpiek in Eisen lag und von Dan O’Flynn bewacht wurde, der alte O’Flynn humpelte auf seinem Holzbein zum Achterkastell hinüber, wo Gwen, Hasard und der Stadtschreiber warteten. Dabei verspürte der alte O’Flynn ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Er hatte Ben Brighton noch niemals so formell erlebt und so sprechen gehört. Verdammt, da saß ja jedes einzelne Wort wie ein Schlag mit dem Belegnagel! Mann, o Mann! dachte er, während er im Achterkastell verschwand, in der Haut von diesem Keymis möchte ich nicht stecken. Auch der alte O’Flynn vergegenwärtigte sich, was Dan ihm über die Verhandlung gegen Thomas Doughty berichtet hatte.
Er klopfte und betrat die Kammer des Seewolfs.
„Ihr sollt auf der Kuhl erscheinen“, sagte er, als er die fragenden Blicke registrierte.
Über Hasards Nasenwurzel erschienen zwei steile Falten.
„Beide Zeugen?“ fragte er nur, und als der alte O’Flynn nickte, schwieg er. Der Stadtschreiber nahm sein Schreibzeug. Dann verließen die Männer das Achterkastell.
Inzwischen hatte Carberry das Vorderkastell ebenfalls erreicht.
„Öffnen!“ sagte er nur zu Dan. „Schließ den Gefangenen los, aber beeil dich, Dan!“
Dan O’Flynn sah den Profos erschrocken an. Selten hatte er diesen Mann so grimmig und so entschlossen gesehen. Er befolgte seine Anweisung und zog den schweren Riegel der Tür zurück, hinter der die Vorpiek lag.
Baldwyn Keymis richtete sich auf. Aus schmalen Augen blinzelte er Dan entgegen, das Licht der Bordlaterne, die Dan vom Haken genommen hatte, blendete ihn nach all den Stunden, die er in völliger Dunkelheit verbracht hatte.
Als Dan sich über ihn beugte, um die Eisen, die Hand- und Fußgelenke umschlossen, zu öffnen, fauchte er ihn an: „Endlich! Das wird aber auch Zeit! Ich werde euch Piratenpack hängen lassen, einen nach dem andern, sobald wir in England sind! Und diese verlogene Hure, diese Gwendo ...“
Dan richtete sich auf und wollte zuschlagen, aber Carberry war schneller. Er packte Dan und drückte ihn zur Seite. Dann schirmte er den Friedensrichter mit seinem breiten Rücken vor dem tobenden Dan ab.
„Aufstehen!“ herrschte er Keymis an. Dabei spannte er den Hahn seiner Pistole. Als der Friedensrichter das Knacken hörte, fuhr er herum und starrte die Waffe in der Hand des Profos an. Er wurde blaß bis zur Kinnspitze.
„Was – was bedeutet das? Sind Sie wahnsinnig, mich, den vom Lordkanzler eingesetzten Friedensrichter von Falmouth mit der Waffe in der Hand zu bedrohen?“
„Aufstehen!“ wiederholte Carberry, und in seiner Stimme war etwas, was Keymis augenblicklich gehorchen ließ.
„Ich werde Sie jetzt vor die Geschworenen führen. Es findet gegen Sie eine Verhandlung an Bord dieses Schiffes statt. Beim geringsten Versuch Ihrerseits, sich dieser Verhandlung durch Flucht oder auf andere Weise zu entziehen, schieße ich Sie nieder. Vorwärts, marsch!“
Dan starrte Carberry aus offenem Mund an. So hatte er diesen sonst so lauten und derben Mann noch nie sprechen gehört.
„Waas? Sie wollen – ich soll ...“
„Vorwärts!“ wiederholte Carberry eisig. „Wenn Sie mir Schwierigkeiten bereiten, wende ich Gewalt an!“
Keymis taumelte hoch, wankte die Stufen, die von der Vorpiek ins Vorkastell führten, hoch und erschien Sekunden später von Carberry gefolgt an Deck. Er war grau im Gesicht, denn er hatte den Ernst seiner Lage begriffen. Diese Kerle waren hart wie Granit! Er spürte, daß ihn hier kein Lordkanzler der Erde schützen konnte.
Ohne ein einziges weiteres Wort schlurfte er über das Hauptdeck, an den sorgfältig mit Segeltuch abgedeckten Culverinen vorbei zur Kuhl. Beim Anblick der zwölf Geschworenen und Ben Brightons, der das Anklägerwie das Richteramt versah, verschlug es ihm glatt den Atem. Er sah den leeren Stuhl, erblickte den Seewolf und Gwen, die in einem provisorisch errichteten Zeugenstand neben dem Stadtschreiber saßen, dem man zum Protokollieren einen Tisch und einen Stuhl auf die Kuhl geschafft hatte.
Der scharfe Verstand Baldwyn Keymis’ erkannte in diesem Moment die Chance, die er hatte, um dieses Gericht anzufechten. Und er zögerte keine Sekunde.
Er schritt würdevoll auf die Kuhl – er zwang sich dazu mit aller Selbstbeherrschung, über die er verfügte.
Noch bevor Ben Brighton überhaupt etwas sagen konnte, fuhr er ihn und die Geschworenen an: „Ich lehne dieses Gericht als nicht zuständig ab. Ich genieße in meiner Eigenschaft als vom Lordkanzler eingesetzter Friedensrichter Immunität und bin nicht verklagbar. Außerdem besteht dieses Gericht aus Laien, die ich als unkundig und befangen ablehne. Beweis: Zwei Zeugen im Zeugenstand, wobei doch jedes Kind weiß, daß Zeugen nicht während einer Verhandlung vor ihrer Aussage zusammengeführt werden dürfen. „Alles, was diese beiden gegen mich vorzubringen gedenken, erkläre ich hiermit vorsorglich für null und nichtig. Selbst wenn dieses Gericht seine Zuständigkeit glaubhaft nachweisen könnte – wo ist der vom Gesetz vorgeschriebene Rechtsbeistand, auf den jeder Beklagte ein Recht hat?“
Keymis hatte das alles würdevoll, ohne Hast und mit näselnder, arroganter Stimme vorgebracht. Er blickte sich triumphierend um, aber er hatte seine Rechnung ohne Ben Brighton gemacht.
Ben Brighton gab Carberry ein Zeichen, und der Profos dirigierte Keymis zu dem leeren Stuhl. Als der Friedensrichter sich setzen wollte, hinderte Carberry ihn daran.
„Solange das Gericht Ihnen nicht erlaubt, sich zu setzen, bleiben Sie stehen, verstanden?“
Keymis Züge verzerrten sich vor Wut, aber Ben Brighton ließ ihm keine Zeit, seinem Zorn freien Lauf zu geben.
„Ich bin Ihnen als Vorsitzender, Ankläger und Richter zwar keine Erklärung schuldig, Angeklagter“, sagte Ben Brighton kühl. „Aber damit hier kein falscher Eindruck entstehen kann, werde ich Sie belehren, und mich wundert, daß ich das muß, denn Sie sollten eigentlich besser Bescheid wissen als ich.“
Bei den Männern entstand Unruhe, die Ben Brighton aber sofort mit einer Handbewegung stoppte.
„Dies hier ist ein Bordgericht, Angeklagter. Die oberste Gerichtsbarkeit auf einem Schiff verkörpert grundsätzlich der Kapitän, solange es sich auf hoher See befindet. Da der Kapitän in diesem Fall als Zeuge fungiert, hat er mich, seinen ersten Offizier, an seine Stelle gesetzt, und damit hat er seine Befugnisse für die Dauer dieser Verhandlung auf mich übertragen. Das Gericht ist also zuständig, denn das Verbrechen, das hier verhandelt werden soll, wurde an Bord der ‚Isabella V.‘ begangen. Zu Punkt zwei Ihrer Einwände: Die beiden Zeugen werden von mir vor der Verhandlung in Gegenwart des Angeklagten belehrt. Ihre Aussagen werden sie einzeln zu Protokoll geben, und zwar so, daß keiner die Aussage des anderen verwerten kann. Damit sind sie als Zeugen zugelassen. An die beiden Zeugen richte ich hiermit die Aufforderung, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen. Mr. O’Flynn, führen Sie Mr. Killigrew jetzt wieder in seine Kammer. Ich werde ihn als Zeugen rufen lassen, sobald seine Aussage benötigt wird. Die Verhandlung ist eröffnet!“
Baldwyn Keymis wurde blaß vor Wut. Aber Carberry drückte ihn einfach in den Stuhl, und gegen die Bärenkräfte dieses Mannes hatte Keymis nicht die geringste Chance.
„Ich lasse euch hängen, alle, einen nach dem andern, sobald wir in England sind!“ schrie der Friedensrichter, der seine mühsam aufgebaute Beherrschung in diesem Moment wieder verlor.
Das war Dan O’Flynn zuviel.
„Du elendes Schwein!“ fauchte er und wollte sich auf den Friedensrichter stürzen. „Erst versuchst du, meine Schwester zu vergewaltigen, und dann willst du uns hängen lassen, drohst uns hier an Bord ...“
Carberry hatte sich Dan geschnappt.
„Gib jetzt Ruhe, Dan!“ dröhnte seine Stimme durch den ausbrechenden Tumult. Denn auch die anderen Männer der Besatzung hatten eine drohende Haltung angenommen. „Ihr alle gebt Ruhe!“ donnerte er. „Wir haben keine Zeit, hier bis zum nächsten Jahr herumzuliegen, die Verhandlung wird jetzt und hier durchgeführt und das Urteil, das verkündet wird, vollstreckt. Und damit Schluß. Zum letzten Mal: Ruhe an Bord, oder euch alle holt der Teufel!“
Das Schiff schien unter der Stimme Carberrys zu erzittern, und Ben Brighton kämpfte gegen das Grinsen an, das sich auf seine Züge stehlen wollte.
Aber der Profos schaffte es mit seiner Donnerstimme tatsächlich, die Ordnung wiederherzustellen.
Ben nutzte seine Chance sofort.
„Miß O’Flynn, treten Sie bitte in den Zeugenstand und machen Sie Ihre Aussage.“
Gwen trat vor, blaß, aber ihre Haltung drückte Energie und Entschlossenheit aus.
„Welchen Vergehens klagen Sie diesen Mann dort an?“ fragte Ben Brighton. Auch er wollte die Verhandlung nunmehr so schnell hinter sich bringen, wie das nur eben möglich war. Aus diesem Grund verzichtete er auch auf alle zeitraubenden Formalitäten wie Feststellung der Personalien des Beklagten und der Zeugen, sie waren an Bord der „Isabella“ hinreichend und jedem einzelnen bekannt, genau wie der Beklagte.
„Dieser Mann hat versucht, mich in meiner Kammer zu vergewaltigen. Es ist bei dem Versuch geblieben, aber nur aufgrund des Eingreifens von Mr. Killigrew, der mir in allerletzter Sekunde zu Hilfe eilte, Ich hätte diesen Mann, der weitaus schwächer aussieht, als er ist, nicht mehr abwehren können, zumal er mich würgte und mit Faustschlägen traktierte.“
Keymis wollte aufbrausen, er fuhr von seinem Stuhl hoch, aber Carberrys Pranke drückte ihn wieder zurück.
Ben Brighton nickte.
„Was haben Sie dazu zu sagen, Angeklagter?“ wandte er sich an den Friedensrichter.
Keymis fuhr hoch wie von der Natter gebissen.
„Was ich dazu zu sagen habe?“ zischte er. „Diese elende kleine Hure hatte es darauf angelegt, mich zu verführen, sie hatte ...“
Der alte O’Flynn durchbrach den Kordon der Zuschauer. Wie ein Wiesel sprang er trotz seines Holzbeins auf Keymis zu.
„Was?“ brüllte er, und sein Gesicht verzerrte sich vor Wut. „Du Lump, du dreckige Ratte wagst es, meine Tochter eine Hure zu nennen?“ Er riß an den Riemen seines Holzbeins, aber er brachte es nicht rasch genug los. Auch die Männer der Crew sprangen auf, und selbst die Geschworenen waren von ihren Stühlen gefahren.
Carberry schnappte sich den rasenden O’Flynn und beförderte ihn ziemlich unsanft wieder zwischen die anderen Zuhörer.
Der alte O’Flynn schrie auf, aber Pete Ballie hielt ihn fest.
„Nimm endlich Vernunft an, und wenn es zehnmal deine Tochter ist, verflucht noch mal. Carberry hat recht, halt jetzt endlich die Schnauze,, kapiert?“
Ben Brighton veranlaßte die Geschworenen auf ihrer aus Bohlen provisorisch hergerichteten Bank, wobei man die Bohle einfach über ein paar leere Fässer gelegt hatte, wieder Platz zu nehmen.
„Also, die Klägerin wollte sie verführen?“ setzte Ben Brighton sein Verhör fort. „Wie erklären sie sich dann die Verletzungen, die sie bei ihren Verführungsversuchen immerhin recht sichtbar davongetragen hat?“ fragte Ben Brighton, und diesmal war der Hohn in seiner Stimme unüberhörbar.
Keymis starrte ihn an, er begriff mit der ihm eigenen Schläue, daß er sich selbst mit seiner aberwitzigen Behauptung eine verhängnisvolle Falle gestellt hatte.
„Die Verletzungen, häm – die hat sie natürlich, ich meine, die sind natürlich schon dagewesen, weil ...“ begann er zu stottern und konnte nicht verhindern, daß ihm der Schweiß ausbrach.
„Miß O’Flynn, ich muß Sie leider bitten, den Geschworenen Ihre Verletzungen zu zeigen, damit Ihre Aussage die nötige Beweiskraft erhält!“
Gwen wurde erst blaß, dann aber errötete sie. Hier vor allen Männern sollte sie sich entblößen?
Hilfesuchend sah sie sich um, aber Carberry lächelte ihr zu.
„Nicht alle Verletzungen, aber wenigstens einige, Gwen“, sagte er leise und spürte, wie sie aufatmete.
„Wo trugen Sie Verletzungen davon, Miß O’Flynn?“ hörte sie Ben Brighton fragen.
Sie gab sich einen Ruck.
„Am Hals, hier!“ Sie knöpfte das Hemd auf und legte den Hals frei. Dort waren deutlich sichtbar blaue Würgemale. „An den Oberarmen“, fuhr sie fort und streifte die Ärmel hoch. „Auf den Rippen“, und sie zog das grüne Hemd so geschickt hoch, daß ihr Busen dabei bedeckt blieb. „An den Oberschenkeln“, sie streifte eines der Hosenbeine der Seemannshose hoch. „Am ...“
„Danke, Miß O’Flynn, das genügt“, stoppte sie Ben Brighton, dem mittlerweile ob solcher, Entschlossenheit der Schweiß ausbrach. „Ich denke, den Geschworenen genügt das auch, oder etwa nicht?“ fügte er hinzu, aber Ferris Tucker nickte.
„Vollständig, euer Ehren!“ sagte er, und einige Männer der Crew grinsten verhalten, was ihnen sofort einen bösen Blick Carberrys eintrug.
„Verdammt, ihr lausigen Decksaffen, das hier ist kein Spaß!“ sagte er drohend.
Ben Brighton drängte jetzt auf raschen Fortgang der Verhandlung.
„Bitte, Miß O’Flynn, berichten Sie den Geschworenen nunmehr möglichst genau, was sich in ihrer Kammer zugetragen hat, und zwar von Anfang an.“
Gwen tat es. Während sie sprach, verfinsterten sich die Gesichter der Männer, die ihr zuhörten, mehr und mehr. Ebenso finstere Blicke trafen den Friedensrichter, dem mittlerweile vor Angst speiübel war. Er hing leichenblaß in seinem Stuhl, seine anfängliche Arroganz war wie weggewischt.
Nachdem Gwen ihren Bericht beendet hatte, herrschte sekundenlanges Schweigen. Ben Brighton unterbrach es.
„Den Zeugen Mr. Killigrew!“ sagte er.
Der alte O’Flynn, beiläufig zum Gerichtsdiener ernannt, holte ihn.
Auch der Seewolf sagte aus, und zwar Punkt für Punkt. Er ließ nichts weg und fügte nichts hinzu.
Auch nach seinem Bericht herrschte wieder Schweigen. Die Blicke, die zuvor noch zornig oder finster gewesen waren, hatten sich in Blicke voller Abscheu gewandelt, gepaart mit Eiseskälte. Keymis spürte das, und das Blut begann in seinen Ohren zu rauschen. Nur wie von ferne vernahm er noch die Stimme Ben Brightons.
„Damit ist die Beweisaufnahme abgeschlossen. Angeklagter, haben Sie dazu noch etwas zu sagen?“
Keymis erhob sich taumelnd.
„Lüge, nichts als infame Verleugnung“, gurgelte er, aber Ben Brighton unterbrach ihn eiskalt.
„Also, nichts!“ stellte er fest. „Sie, meine Herren Geschworenen, werden jetzt entscheiden. Ist der Angeklagte des ihm zur Last gelegten Verbrechens schuldig oder nicht schuldig. Ich werde Sie jetzt fragen, und Sie heben bitte den rechten Arm bei meinen Fragen. Die einfache Mehrheit entscheidet. Schuldig?“
Alle Arme erhoben sich ruckartig. Keymis sank auf seinen Stuhl.
„Gegenprobe. Nicht schuldig?“
Alle Arme blieben unten.
Ben Brighton sah den Friedensrichter an.
„Angeklagter erheben Sie sich.“
Carberry zog den zitternden Keymis mit einem Ruck vom Stuhl hoch.
„Die Geschworenen haben Sie der versuchten Vergewaltigung, begangen an Miß Gwendolyn Bernice O’Flynn für schuldig befunden. Ich verurteile Sie daher ...“
„Halt – einen Augenblick!“ Es war Gwen, die Ben Brighton unterbrach.
Ben fuhr herum, auch Hasard und die anderen Männer starrten das Mädchen an.
Ben Brighton runzelte ärgerlich über die Unterbrechung die Stirn, aber er beherrschte sich.
„Ja, Miß O’Flynn?“ fragte er. „Was haben Sie noch zu sagen?“
„Ich bitte um Milde für den Angeklagten. Er hat wie wir alle eine Menge durchgemacht in der letzten Zeit. Vielleicht hat er dabei einen seelischen Schaden erlitten, und vielleicht ist er für seine Handlungen nicht in vollem Maße verantwortlich. Mr. Brighton, ich bitte um Milde für Mr. Keymis, schließlich ist mir ja nichts geschehen!“
Unter den Männern erhob sich Gemurre.
Ben Brighton starrte Gwen mit einem eigentümlichen Blick an. Mit allem hatte er gerechnet, damit nicht. Und was ihn noch mehr verwirrte, war, daß um die Lippen des Seewolfs ein Lächeln spielte, ein Lächeln, das er im Moment nicht zu deuten wußte.
Ben Brighton holte tief Luft, und er registrierte, wie Carberry ihn anstarrte, mit einem beschwörenden Blick, den er in diesem Moment ebenfalls nicht begriff. War Carberry etwa Gwens Meinung, oder beschwor er ihn, ein hartes Urteil zu fällen?
„Miß Gwen“, sagte Ben Brighton schließlich, und er wurde sich nicht einmal der Tatsache bewußt, daß er das Mädchen beim Vornamen genannt hatte. „Sie wissen, welch ein schweres Verbrechen dieser Mann dort begehen wollte und teilweise begangen hat, denn auch der Versuch einer Vergewaltigung wiegt schwer. Sie wissen, daß dafür in England, unserer Heimat, unerbittlich die Todesstrafe verhängt wird, auch wenn es sich um einen bloßen, aber nachgewiesenen Versuch handelt? Sie wissen, welche Gesetze an Bord eines Schiffes wie der ‚Isabella‘ herrschen?“
Atemloses Schweigen. Keymis mußte sich unwillkürlich auf Carberry stützen, so zitterten ihm die Knie. Hatte er den Ernst seiner Lage zuvor noch nicht voll begriffen, so wurde er ihm nunmehr schlagartig klar.
„Aufhängen den Kerl!“ schrie einer der Männer.
„Jawohl, an die Rah mit dem Schwein!“ fielen andere ein.
Keymis wankte, aber Carberry hielt ihn fest.
Ben Brighton straffte sich, er wollte dem Ganzen ein Ende bereiten.
„Baldwyn Keymis, obwohl gerade Sie in Anbetracht der Tatsache, daß Sie ein vom Lordkanzler eingesetzter und bestallter Friedensrichter sind, die volle Härte des Gesetzes treffen müßte, also Aufhängen am Halse, bis daß der Tod eintritt, verschließe ich mich nicht den Argumenten der Klägerin. Baldwyn Keymis, ich verurteile Sie hiermit rechtskräftig und unwiderruflich. Sie werden kielgeholt, das Urteil wird sofort vollstreckt! Profos, walten Sie Ihres Amtes. Die Verhandlung ist geschlossen.“
Durch die Crew ging ein Raunen, während der Friedensrichter alle Farbe verlor.
„Nein!“ schrie er. „Nein, das überlebe ich nicht, das überlebt keiner. Hier gibt es Haie, sie lauern in der Tiefe, ich – ah ...“
Baldwyn Keymis verdrehte die Augen und brach zusammen. Regungslos blieb er auf dem Deck liegen, ein verkrümmtes Häufchen Elend, weiter nichts.
Carberry beugte sich zu ihm hinunter.
„Ein paar Pützen Wasser, schnell!“ sagte er. „Den Kerl werden wir schon wieder auf die Beine bringen. So haben wir nicht gewettet, Mister, du sollst erleben, wie das ist! Glaube nur nicht, daß ich dich in diesem Zustand unterm Schiff durchziehe!“
Der Kutscher brachte eine Pütz voll Seewasser, und Carberry goß sie dem Friedensrichter ins Gesicht. Dann noch eine zweite und eine dritte.
Bei der dritten erwachte Keymis aus seiner Bewußtlosigkeit.
„Los, hoch mit dir, du Ratte“, sagte Carberry, der breitbeinig vor ihm stand. „Du kannst noch von Glück sagen, daß die junge Lady für dich gesprochen hat, sonst müßtest du jetzt baumeln, Freundchen. So hast du wenigstens noch eine Chance! Also, hoch mit dir!“
Carberry riß ihn hoch und winkte Smoky heran.
„Hände fesseln! Aber gründlich. Klamotten runter bis auf die Hose. Besorge einen Tampen, und zieh inzwischen eine Leine unter dem Bug durch, damit wir den Tampen an Steuerbord hochholen. Der Mann wird von Backbord nach Steuerbord durchgeholt. Von der Nock der Großrah geht er in den Bach, an Steuerbord ziehe ich ihn wieder hoch. Und ein bißchen dalli, klar?“
Smoky nickte und sauste los.
Carberry winkte Dan heran und flüsterte ihm zu: „Peil mal die Lage, ob du Haie entdecken kannst. Der Kerl hier soll seine Chance haben. Ich will nicht, daß er in den Zähnen von diesen Biestern sein Leben aushaucht. Natürlich, garantieren kann ich’s nicht. Was unter dem Schiff herumschwimmt, kann ich nicht sehen.“
Dan sauste los.
Die Vorbereitungen waren bald erledigt. Carberry holte das Tau, an das Keymis gebunden werden sollte, eigenhändig zur Backbordnock der Großrah hoch. Er prüfte es, dann winkte er zum Deck hinunter.
Er sah Keymis, der an den Händen gefesselt zwischen Ferris Tucker und Big Old Shane stand, zitternd am ganzen Leib.
„Rauf mit dem Kerl, es ist alles fertig, oder glaubt ihr lausigen Affen, ich will hier anwachsen?“
Ferris Tucker gab dem Friedensrichter einen derben Stoß in den Rücken.
„Vorwärts, Freundchen“, knurrte er, „jetzt geht’s los. Und wenn du einen Rat hören willst, dann vergeude deinen Atem nicht damit, daß du schreist, während du von der Rahnock ins Wasser fliegst. Du brauchst deine Puste da unten dringend, wenn du lebend wieder auftauchen willst!“
Keymis quollen die Augen aus den Höhlen, je mehr sie sich den Wanten näherten, die zum Großmars hochführten.
Unmittelbar vor dem Want riß er sich plötzlich los und raste wie von Sinnen über Deck. Dabei schrie er aus vollem Hals. Luke Morgan, der kleine, stämmige Engländer, packte ihn und schleifte ihn zurück.
„Laß nur, Ferris“, keuchte er und zog den sich wie wahnsinnig Gebärdenden hinter sich her. „Den liefere ich schon richtig da oben ab! Aber wenn er so weiterbrüllt, dann wird ihm unter dem Schiff die Luft ausgehen – na, nicht schade um das Schwein!“
Er bugsierte Keymis zum Want. Dann packte er ihn plötzlich und warf ihn sich über die Schulter.
„Bind ihm die Beine zusammen, schnell!“ rief er dem Schiffszimmermann zu. Ferris Tucker tat es, und zwar gründlich. Dann enterte Luke Morgan bis zur Großrah auf, rutschte auf der Großrah entlang und wurde von Carberry in Empfang genommen.
Carberrys Narbengesicht wirkte düster und verschlossen. Er haßte Bestrafungen dieser Art. Schnell und sachlich verrichtete er die letzten Handgriffe und verknotete die Leine, an der er Keymis kielholen wollte, sorgfältig an der Brust und unter den Armen.
Dann packte seine Pranke das Gesicht des Verurteilten und zwang den Friedensrichter, ihn anzusehen.
„Hör mir jetzt gut zu, du Dreckskerl. Der jungen Lady zuliebe werde ich dich schnell unter der ‚Isabella‘ durchziehen. Aber spar dir deine Puste. Wenn ich das Zeichen gebe und Luke dich von der Rah stößt, dann hol tief Luft, oder du bist versoffen, noch bevor ich dich unterm Kiel durchgeholt habe. Es liegt jetzt an dir. Klar?“
Carberry sah das schwache Nicken des Verurteilten.
„Na, jedenfalls zugehört hast du mir, und jetzt benimm dich gefälligst wie ein Mann!“
„Aber die Haie, Mister, die Haie, wenn sie ...“
Carberry nickte düster.
„Wir haben nachgesehen und keinen entdeckt. Aber das will nicht viel bedeuten. Du brauchst schon ein wenig Glück, Freundchen. Kielholen war noch nie ein Spaß, aber du hattest sowieso nur die Wahl zwischen der Rahnock und dem Kiel. Sei der jungen Lady dankbar, daß sie dir wenigstens noch eine Chance herausgeschunden hat!“
Carberry drehte sich herum, turnte die Großrah entlang und enterte dann ab. An Deck hatten sich die Männer an Backbord versammelt, nur Gwen fehlte. Und das war auch gut so, denn Keymis würde nicht mehr gut aussehen, wenn er wieder an Deck gezogen wurde. Dafür würde schon der scharfkantige Muschelbewuchs auf dem Unterwasserschiff sorgen.
Carberry betrat das Deck. Er ging sofort nach Steuerbord hinüber und packte das Tau, das unter dem Kiel der „Isabella“ hindurchlief.
Dann sah er zu Luke hinüber, der Keymis inzwischen aufgerichtet hatte und ihn auf der Rah an ihrem äußersten Ende festhielt.
„Los!“ kommandierte Carberry.
Luke Morgan gab dem Gefesselten einen Stoß, und der Friedensrichter stürzte von der Großrah. Sekunden später verschwand er im aufspritzenden Wasser.
Er hatte nicht geschrien, keinen einzigen Laut hatte er von sich gegeben. Carberry wußte, daß sich damit seine Chancen, wieder lebend an Deck zu gelangen, außerordentlich verbessert hatten.
Er packte das Tau und begann zu ziehen.