Читать книгу Geh immer nach dem Licht - Ruth Lindemann Möller - Страница 13
Krankenhaus
ОглавлениеWährend der vergangenen anderthalb Jahre war meine Mutter bettlägerig geworden und zuletzt im Pflegeheim gelandet, da sie mehrmals zuhause von meinem Vater ohnmächtig am Boden gefunden wurde. Mein alter Vater konnte es nicht mehr alleine schaffen. Es ist sehr schwierig so weit weg zu sein, in einem anderen Land 900 Kilometer entfernt, wo die Kinder zur Schule gehen, wenn die Eltern dermaßen Hilfe brauchen.
Ehe Mama ins Pflegeheim kam, war sie schon von den Ärzten aufgegeben worden. Während sie noch im Krankenhaus lag, hatte ich ein Gespräch mit den verantwortlichen Ärzten, die auf meine Frage:„Wie lange kann meine Mutter noch leben?“, die Antwort gaben:„Nach unserer Einschätzung maximal vier Monate.“ Meine Mutter hatte Jahre zuvor erst eine Operation wegen Hautkrebs im Ohr gehabt, danach Brustkrebs, wobei eine Brust entfernt wurde und Jahre später folgte eine Operation wegen Nierenkrebs, welcher leider zu spät diagnostiziert wurde. Das hatte zur Folge, daß der Krebs sich durch Metastasen verstreut hatte. Vor allem die Metastasen im Gehirn waren problematisch und hatten so gewaltige Konsequenzen, daß ich diese hier näher im Buch erläutern muß, da sie mich fast an den Rand des Wahnsinns brachte.
Bevor ich das tue, gibt es einen Zwischenfall davor, den ich erzählen muß, weil er eine große Bedeutung für mich hat.
Während Mama im Krankenhaus lag, schafften wir es, sie zweimal mit den Kindern zu besuchen. Das erste Mal, als wir das Krankenzimmer betraten, wurden wir von Mama mit einem herzlichen Lächeln empfangen. Sie griff nach der Hand meines Mannes und beglückwünschte ihn zu seinem „Staatsministerposten“ (dem Bundeskanzler entsprechend) und sagte noch lobend:„Das hast du toll gemacht!“ Mein Mann und ich lächelten. Er hatte gerade eine sehr hohe Position innerhalb seiner Firma bekommen, und soviel hatte Mama auch mitbekommen, aber durch den Druck der Metastasen hatte sich schon einiges in ihrem Gehirn verändert.
Etwas später, nachdem sie alle drei Kinder herzlich umarmt und begrüßt hatte und vor Freude strahlte, fing sie an, eine kleine Rede für sie zu halten. Einfach ergreifend schön:„Eure Mutter ist eine Rose, wisst ihr das? Und kennt ihr die Bedeutung einer Rose? Eine Rose ist die schönste Blume und sie duftet so herrlich. Ja, eine Rose hat normalerweise Dornen, die pieksen können, aber nicht diese Rose.“
Wenn Du Dich jetzt an die Zeit vor Puttibabys Geburt erinnerst, als ich so grausam von meiner Mutter im Stich gelassen wurde, in den qualvollen Trauerstunden zwischen Tod und Geburt, verstehst Du dann den Wert der „Rosenrede“ für mich?
Beim zweiten Mal, wo ich sie alleine im Krankenhaus besuchte, war meine Mutter angezogen und saß in einem Sessel. Man hatte mich nicht über Änderungen ihres Zustands informiert, und ich war mental gar nicht darauf vorbereitet. Mitten in unserem Gespräch, welches etwas außergewöhnlich war, zeigte sie auf einmal mit der Hand auf das Fenster, aus welchem man Aussicht über die Dächer der Stadt bis zum Fjord hatte und sagte:„Wie glücklich bin ich doch, daß ich an so einem schönen Ort leben darf. Hier ist es wunderschön. Der schönste Fleck der Erde!“
Innerlich spürte ich den großen Drang etwas für sie zu tun und fragte sie:„Gibt es etwas, das ich für dich tun kann, Mama?“ Sie antwortete, daß sie so gerne wieder zu Hause sein wollte.
Daraufhin ging ich hinaus und holte mir die Erlaubnis vom Arzt, sie für zwei Tage mit nach Hause zu nehmen. Mama wurde überglücklich, stand vom Stuhl auf und fing an zu gehen, nein eher laufen, vom Stuhl zum Bett, dann vom Bett bis zur Türzarge und nach einer kleinen Pause von dort hinaus in den Flur. Sie war so überströmend glücklich und lud alle Krankenschwestern, Ärzte und Patienten ein, mit uns nach Hause zu kommen und dort zu essen. „Ruth kocht sehr lecker!“ Aber für mich war das schockierend! Erinnerte mich an „der Glöckner von Notre Dâme“. Mama konnte die Balance nicht halten, der Steuernerv war defekt, was bewirkte, daß sie sich den langen Flur entlang im Zickzack bewegte. Sie setzte stützend von einer Wand ab und lief schräg zur entgegengesetzten Wand, um alle Patienten mit ihrer Einladung zu erreichen. Ich folgte ihr, nicht wissend wie ich mich verhalten sollte. Sollte ich sie festhalten, damit sie nicht stürzen konnte? Die Krankenschwestern lächelten nur. Ja sie konnten über diese verrückte Herzlichkeit lächeln; selbst wußte ich nicht, ob ich lachen oder weinen sollte.
Mit Hilfe meines Mannes bekamen wir sie in ein Auto und fuhren mit ihr nach Hause. Medizin und Diabetikerspritzen hatte ich mit Dosisangaben davor noch ausgeliefert bekommen.
Mama war glücklich und genoß unser Zusammensein sehr. „Home sweet home“. Meine älteste Tochter spielte für sie Klavier, schöne klassische Stücke. Ich hatte ihr Medizin verabreicht und mußte ihr persönlich die Spritze setzen. Auch ich war froh, daß ich sie nach Hause gebracht hatte.
Jetzt stand die Nacht vor der Tür und wir hatten entschieden, daß Mama und ich in demselben Raum schlafen sollten, damit ich in ihrer Nähe war für den Fall, das etwas passiert. Mama gewaschen, im Nachthemd, liebevoll zurecht gekuschelt, schlief gut ein, wie ich dann kurze Zeit darauf auch, müde von dem aufregenden Tag.
Dann nach einigen Stunden, früh in der Nacht, wurde Mama unruhig und ich fragte sie, ob sie wach wäre. Bekam die Antwort:„Ich muß sofort meine Spritze bekommen. Die hast du vergessen mir zu geben.“ Ich versicherte ihr, daß ich ihr die Insulinspritze verabreicht hatte. Meine Mutter wurde wütend, ja eher wild:„Ruth, du weißt was passiert, wenn ich meine Spritze nicht bekomme, dann falle ich ins Koma und sterbe. Willst du mich töten?“
Egal was ich sagte, es nützte nichts. Hier mußt Du ihre Angst verstehen. Diese Mischung besteht aus hoher Intelligenz gepaart mit Wahnsinn – Ich weiß nicht, wie ich es sonst benennen soll, eventuell Verdrehungen oder Vertäuschungen?
Jetzt waren wir zu einem Klimax gelangt: Mama versuchte sich zu „retten“, wie sie ja glaubte, indem sie sich bemühte an die Spritze zu kommen, was ich ja mit aller Macht verhindern mußte. Eine zusätzliche große Insulinspritze konnte ihren Tod bedeuten. Sie schrie mich an, und ich mußte schnell meinen Vater und meinen Ehemann wecken, um Beistand zu bekommen. Gemeinsam gelang es uns, sie ins Wohnzimmer zu bringen und auf einen Stuhl neben dem Esstisch hinzusetzen. Sowohl mein Vater wie auch mein Ehemann bemühten sich, meine Mutter zu beruhigen und ihr Fakten beizubringen. Mama argumentierte völlig unlogisch und ohne Zusammenhänge zurück. Aber dann bekam sie die Überhand. Sie fixierte die Augen meines Mannes und fragte:„Sag mal, (Name), haben wir Sommerzeit oder Winterzeit?“ Mein damaliger Ehemann antwortete ehrlich zurück:„Anni, wir haben Sommerzeit!“ Daraufhin kam sofort triumphierend die Antwort:„Siehst du, ich habe recht!“
In Dänemark sagen wir „jetzt sind gute Ratschläge teuer“. Ich brauchte dringend ein Beruhigungsmittel. Nein, nicht für meine Nerven, sondern um Mama ruhigzustellen. Deswegen rief ich mitten in der Nacht das Krankenhaus an und bekam zu meiner Verwunderung die Nachricht, daß sie in der letzten Zeit öfters solche Attacken gehabt hatte.
Keiner hatte mir etwas davon erzählt oder mir etwas mitgegeben, womit ich sie hätte beruhigen können. Schnell wurde mein Mann ins Krankenhaus geschickt, um ein Mittel zu holen, und ich tat mein Bestes in der Zwischenzeit, um meine Mutter hinzuhalten. Nachdem ich ihr die Beruhigungsspritze gegeben hatte, ließ ich sie glauben, daß es eine Insulinspritze war. Das war eine anstrengende Nacht. Nicht die einzige die ich mit ihr erlebt habe, aber die, die für immer in meiner Erinnerung als ein wichtiger Meilenstein bleiben wird.
Nach ein paar Stunden Schlaf wachten wir bei herrlichem Sonnenschein auf und Mama schien den Kampf in der Nacht vergessen zu haben; ihren Überlebenskampf besonders gegen ihre älteste Tochter, ich, aber auch gegen den Komplott von meinem Ehemann, meinem Vater und mir. Arme Mama!
Was ist richtig und was ist falsch, ethisch gesehen? Gute Frage Ruth! Meine Mutter hatte drei verschiedene Krebsarten erlebt und hatte drei Operationen hinter sich. Über Jahre. Zu einem Zeitpunkt erzählte sie mir, da ich immer ihre Vertrauensperson gewesen war, daß sie Tabletten gesammelt hatte und weiterhin sammelte, um sich damit ihr Leben zu nehmen. Sie wollte die letzten Qualen meiden, ehe der unumgängliche Tod endlich eintraf. Sie wollte nicht als Hilflose enden und uns zur Last sein.
So wußte ich genau, wo sich der Topf mit der tödlichen Tablettendosis verbarg. Warum habe ich ihr den nicht gegeben? Hilfe aus Mitleid zum Selbstmord. Hatte ja lange Kenntnis von Mamas Plan und soll/muß man nicht den Wunsch seiner Mutter respektieren und sogar erfüllen? Dieser Wunsch, diese Willenserklärung, lange abgegeben bevor die Metastasen mit Sinnesverwirrung einsetzten. Das hier war ja eine „geschenkte“ Chance. Sie war zu Hause und jetzt war es vielleicht für mich die allerletzte Chance ihr helfen zu können, ihren letzten Willen durchzuführen.
Es gibt wohl einen Unterschied, ob ein Mensch selber wählt „bei eigener Hand“ aus freiem Willen und voll bewusst sein Leben zu beenden, oder ob ich den Zeitpunkt und Ort wähle und bei meiner Hand ihren „Selbstmord“ sozusagen ausführe. Kann man da noch von Selbstmord reden? Nein, ich glaube nicht! Was meinst Du?
Noch obendrein kam dann der wahnsinnige Aspekt, daß Mama glaubte, daß ich sie töten wollte, indem ich ihr die geglaubte notwendige Insulinspritze vorenthielt.
Es wäre so einfach gewesen: hätte ihr so leicht den Zugang zu der verlangten Spritze erlauben können. Sie hätte sich dann auch selber gespritzt und ich hätte damit nichts zu tun gehabt oder? (Erzähle bald etwas.)
Aber ich kämpfte für Mamas Leben. Einige Male hat mich das Leben stark gedrängt, mich so zu fühlen, als ob ich „gegen die Wand“ gestellt werde und kein anderer Ausweg mehr in Sicht ist.
Mitunter spielt das Schicksal verwunderliche, unverständliche Spiele mit uns. Hier stand ich mit meiner Mutter, die in voller normaler Sinnesverfassung lange im voraus entschieden hatte, ihr Leben zu nehmen und dazu alle Vorbereitungen selber ausgeführt hatte, als sie wußte, daß der Tod sich unumgänglich näherte. Wie sie dann die vorher beschriebene Nacht wie ein Tiger, um ihr Leben zu bewahren, kämpfte und mit der wahnsinnigen Realität, daß wenn sie das getan hätte, was sie für das Richtige hielt, nämlich sich nochmals zu spritzen, sie ihr Leben genommen hätte.
Später wo eine lange Leidensperiode für sie folgte, wurde ich von meinem schlechten Gewissen geplagt, sie im Stich gelassen zu haben. Ich führte mehrere Gespräche mit meinem Lieblingsonkel darüber. Ihm konnte ich mich anvertrauen, als dem Einzigen. Seiner Meinung nach war es richtig und gut, daß ich ihr nicht die tödlichen Tabletten gegeben hatte und ebenso, daß ich ihr nicht erlaubt hatte, die zusätzliche Spritze zu bekommen. Wir Menschen sollen nicht über den Tod bestimmen. Besonders nicht über den Tod der anderen. Falls wir es doch tun, nehmen wir damit eine viel zu große Verantwortung auf uns, nämlich Schuld. Das Leben mit diesen Schuldgefühlen weiterzuleben, könnte leicht die Lebensqualität für uns selbst kaputt machen.
Mit der unentbehrlichen schönen Sonne kehren wir zurück. An diesem Morgen hatten wir in Frieden gefrühstückt und beschlossen Kaffee auf dem Hofplatz zu trinken. Schnell wurden Stühle herausgestellt, die wir in einem kleinen Kreis anordneten. Mama hatte ihren Hausmantel an und es wurde ihr geholfen, sich auf einen Stuhl zu setzen. Ob ich es war oder mein Mann, der sie unter den Armen hielt, weiß ich nicht mehr. Nur daß wir alle gemütlich beisammen saßen, plauderten, Kaffee tranken und die Kinder Saft bekamen. Wir genossen das schöne Wetter und daß Mama wieder so gut gelaunt war.
Plötzlich brach Mamas Stuhl zusammen und sie fiel zu Boden. Schnell halfen wir ihr wieder auf die Beine und setzten sie auf einen anderen Stuhl. Zum Glück war ihr nichts passiert. Wir waren erschüttert, aber redeten weiter, als ob nichts passiert wäre. Dann schaute Mama in der Runde herum und sagte laut:„Das war Ruth!“ Ich erschrak. Nach einer ganz kleinen Pause setzte sie wieder an, ganz ruhig und überlegt:?„Alles ist immer Ruths Schuld! Nicht daß Ruth etwas Falsches gemacht hätte, nein, Ruth macht niemals etwas falsch, aber sie hätte ja voraussehen können, daß es passieren würde und es dann verhindern können.“ Sie schenkte mir ein liebevolles Lächeln.
Ich wußte, daß sie in diesem Moment mit Klarheit meine Rolle in der Familie sah. Die „Das-war-Ruth“-Bemerkung stammte zurück aus meiner Kindheit, wo mein viel jüngerer Bruder mehrmals versuchte, seine Schuld auf mich über zu wälzen, für Unsinn, den er getrieben hatte, bis meine Mutter dahinterkam, wie es sich wirklich verhalten hatte. Seitdem lag es wie in der Luft.
Diese Episode, war erst aufregend, aber folgend eine liebevolle, positive Aussage von meiner lieben Mutter über mich, die gerade die letzte Nacht gegen mich gewütet und mich beschuldigt hatte, sie töten zu wollen, weil ich ihr die Spritze vorenthalten hatte.
Sonntag Abend nach dem Essen fuhren wir Mama, wie abgemacht, wieder zurück ins Krankenhaus. Das war das letzte Mal, daß Mama ihr Zuhause sah, aber wir hatten noch einen langen schwierigen Marsch dem Tod entgegen, vor uns. Ich bin immer noch sehr dankbar dafür, daß ich es ihr ermöglichte, nach Hause zu kommen.