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Der Tod vor dem Tod
ОглавлениеAm 11.11.1994 wurde meine Mutter 70, und es war mir wichtig, zu ihr zu kommen. Hatte am Vortag den Zug zu meinem Geburtsort genommen und kam zusammen mit meinem Vater am folgenden Tag, schon am Vormittag, im Pflegeheim an.
Rechtzeitig wollte ich da sein, um schön auf einem kleinen Eßtisch aufzudecken, den ich anlässlich des Tages hereingestellt bekam. Auch um Mama besser anzukleiden, ehe ihr jüngster Bruder, mein Lieblingsonkel Peter, mit seiner Tochter Kirsten mittags ankam, um mit uns Mamas Geburtstag in dieser kleinen Runde zu feiern. Das Pflegepersonal hatte Mama schon gewaschen und das Bett frisch bezogen.
Mein Vater saß in der Ecke im Sessel und laß in der Zeitung. Viel Gespräch mit Mama war nicht möglich. Mama war sich ganz im Klaren, daß Onkel Peter und Kirsten, meine liebe Cousine, bald zu Besuch kommen würden. Schnell dekorierte ich den Tisch mit Kerzen, Blumen und Servietten und ließ so lange meine Mutter ruhen. Von Zeit zu Zeit schlief sie kurz ein.
Jetzt wurde es Zeit, ihr ein angenehm weiches Jerseykleid anzuziehen, ihre Haare zu frisieren, ein bißchen Lippenstift dazu und das Parfüm, das Mama liebte. Glaube, es war Chanel No. 5. Daß Mama sich freute war deutlich.
Bestens wie ich mit dem Schminken fertig war, fing Mama plötzlich an nach Luft zu schnappen, um danach ganz aufzuhören zu atmen. Schnell zu Papa gewandt:„Hol Hilfe, Mama bekommt keine Luft!“ Mein Vater beeilte sich, die Krankenschwester zu rufen, die dann innerhalb weniger Minuten nach dem letzten Atemzug nach Mamas Puls suchte.
Es passierte so plötzlich, so unerwartet. Obwohl wir ja wußten, daß der Tod sich näherte, dann doch bloß nicht an diesem Tag, ihrem siebzigsten Geburtstag, wo wir so sehr wünschten, ihr eine Freude zu bereiten, indem wir alle bei ihr sein und für sie singen und gute Laune bringen wollten. Ich betete wie eine Verrückte zu Gott:„Bitte, nimm nicht gerade jetzt Mama weg.“
Die ältere, erfahrene Krankenschwester, mit der ich sympatisierte, checkte mit kleinen Abständen, ob sie Puls spüren konnte. Nach neun Minuten sagte sie zu mir:„Ruth, es gibt nichts, was wir tun können; du mußt akzeptieren, daß deine Mutter jetzt tot ist.“
Mit großer Mühe versuchte ich mich umzustellen und hatte gerade den Punkt erreicht, an dem ich anfing, den Tod zu akzeptieren und in mir selbst sagte:„Okay Mama, geh in Frieden.“ Die Krankenschwester sagte, daß keiner so lange ohne Luft überleben, daß keiner so lange Zeit weg sein und dann zurückkommen könnte.
Aber was passierte dann jetzt? Nach zehn Minuten, Mama war leichenblaß, gab es ein paar Zuckungen im Körper, und sie schnappte nach Luft. Der Atem setzte wieder ein und stabilisierte sich und das ohne jegliche Wiederbelebungsversuche von einem von uns drei Anwesenden. Mama war jetzt sehr erschöpft und fror und ich packte sie gut in ihre Decke ein und hielt ihre Hand und ließ sie ruhen.
Ich selber war zutiefst erschüttert. Wußte überhaupt nicht mehr, was ich denken sollte. Die ganze Zeit kontrollierte ich ihren Atem. Erst jetzt erfuhr ich von Papa und Krankenschwester, daß Mama zwei Wochen davor einen ähnlichen „Todesanfall“ gehabt hatte, der angeblich eine Dauer von vier, maximal fünf Minuten gehabt hatte. Mein Vater war auch da anwesend und hatte Hilfe geholt; dieselbe Krankenschwester. Keiner hatte es mir erzählt!
Worin bestand der größte Schock? Mama sterben zu sehen und danach den Tod zu akzeptieren oder zu erleben, daß sie vom Tod zurückkehrte?
Glück im Unglück; unsere zwei Gäste kamen etwas zu spät und Mama schaffte es, sich ein wenig zu erholen, lebte etwas auf und war jetzt auch im Stande, von mir gefüttert zu werden.
Das Leben ging weiter. Nach diesem starken Erlebnis mußte ich mich darauf einstellen, daß es bald wieder passieren könnte. Da der zweite „Todesanfall“ viel länger als der erste gedauert hatte und daß es schon wie ein Wunder anzusehen war, daß ihr Gehirn das überlebt hatte, war es fast undenkbar, daß ein dritter Anfall von vielleicht noch längerer Dauer zu überleben war.