Читать книгу Geh immer nach dem Licht - Ruth Lindemann Möller - Страница 17
ОглавлениеDie Nacht zum Sterben geplant
Die Sommerferien hatten begonnen und ich wohnte mit den Kindern bei meinem Vater auf dem Hof und konnte ihn entlasten und bei meiner Mutter jeden Tag über viele Stunden sein und sie selber pflegen. Der Kontakt von Köln aus zum Pflegepersonal lief gut telefonisch, so daß ich gut Bescheid wußte über jegliche Entwicklung. Ich, als die Älteste, war sozusagen die verantwortliche Kontaktperson.
So kam ich diesmal sehr gespannt oder eher angespannt nach Hause, wohlwissend, daß Mamas mentaler Zustand sich geändert hatte. Was ich auch selbst konstatieren mußte.
Das Pflegepersonal beschwerte sich bei mir, daß meine Mutter jetzt ausschließlich Deutsch mit ihnen sprach. Sie war plötzlich nicht mehr im Stande, Dänisch zu sprechen. Ich mußte ruhig bleiben und ihnen erklären, daß sie ja alle ein bißchen Deutsch in der Schule gelernt hatten und froh sein sollten, daß sie etwas verstehen konnten und ob sie lieber wollten, daß Mama Französisch oder Spanisch mit ihnen sprechen sollte. Mama war eine hochbegabte Frau. Sie sprach fließend Dänisch, Englisch, Schwedisch und Deutsch, Französisch und Spanisch ausreichend und sogar Esperanto (die internationale Sprache) hatte sie neben Latein gelernt. Hatte nach dem zweiten Weltkriegsende als Übersetzer für die Engländer bei der Zensur in Hamburg gearbeitet, um so ihren deutschen Verwandten mit Nahrungsmitteln zu helfen.
Eine Zeit lang verlagerte sich der Druck von den Metastasen im Gehirn so, daß normale Kommunikation nicht mehr möglich war. Aber klug wie Mama war, benutzte sie das, was ihr möglich blieb und zwar Gedichte und Lieder. Auch nur auf deutsch. Sie war im Stande, Goethe in vielen Gedichten zu rezitieren und benutzte die Botschaft eines ausgesuchten Gedichts, um zu kommunizieren. Aber was tut man mit Pflegepersonal, welches wohl nie etwas von Goethe gelesen hat. Die konnten sie, zu Mamas Frustration, nicht verstehen.
Diese Erinnerung, die am meisten in meinem Herz schmerzt, dreht sich um dieses deutsche Lied, das sie wiederholt für mich laut sang, bis die Tränen über meine Wangen kullerten trotz meiner großen Bemühung immer die Starke zu spielen, wenn ich bei ihr war. Ich bringe Dir hier das Lied:
Hoch auf dem gelben Wagen
Text Rudolf Baumbach (1879)
1.
Hoch auf dem gelben Wagen
sitz ich beim Schwager vorn.
Vorwärts die Rosse traben,
lustig schmettert das Horn.
Berge Täler und Auen,
leuchtendes Ährengold,
ich möcht in Ruhe gern schauen;
aber der Wagen, der rollt.
2.
Flöten hör ich und Geigen,
lustiges Baßgebrumm,
junges Volk im Reigen
tanzt um die Linde herum.
Wirbelnde Blätter im Winde,
es jauchzt und lacht und tollt,
ich bliebe so gern bei der Linde;
aber der Wagen, der rollt.
3.
Postillon in der Schenke
füttert Rosse im Flug,
schäumendes Gerstengetränke
reicht uns der Wirt im Krug.
Hinter den Fensterscheiben
lacht ein Gesicht gar hold,
ich möchte so gerne noch bleiben,
aber der Wagen, der rollt.
4.
Sitzt einmal ein Gerippe
hoch auf dem Wagen vorn,
hält statt der Peitsche die Hippe,
Stundenglas statt Horn.
Sag ich: Ade, nun, ihr Lieben,
die ihr nicht mitfahren wollt,
ich wäre so gern noch geblieben,
aber der Wagen, der rollt.
Es war so ergreifend, mit dieser voraussagenden Wahrheit konfrontiert zu werden. Mamas Mitteilung, daß NICHTS die Entwicklung aufhalten konnte trotz ihres großen Wunsches hier zu bleiben. Selbst nach vielen Jahren kämpfe ich, um nicht in Tränen zusammenzubrechen, wenn ich das Lied zufällig ein seltenes Mal im Radio höre.
Meiner Mutter ging es schlecht, aber sie konnte plötzlich wieder etwas sprechen, sogar auf dänisch. Nach meinem ersten Besuch redete sie vom Tod und bat mich eindringlich, am Abend wiederzukommen. Ich eilte nach Hause, um für Vater und Kinder zu kochen und danach schnell wieder mit dem Bescheid los, daß ich wahrscheinlich die ganze Nacht bei Mama bleiben würde.
Als ich bei Mama hereintrat, saß sie in einem Armlehnsessel mit einem kleinen Tisch vor sich. Sofort bekam ich den Bescheid:„Sei so lieb und setz dich. Wir beide haben ein Problem zu besprechen“. Ich hatte es zur Gewohnheit gemacht, immer erst die Hände gründlich an ihrem Waschbecken zu waschen, ehe ich sie umarmte. Sie reagierte sehr ungeduldig, bis ich mich hingesetzt hatte, ihr direkt gegenüber.
„Was ist es, daß du mit mir besprechen möchtest, Mama?“ Auf diese Frage bekam ich die Antwort, daß sie sterben sollte. Der Tod war jetzt nahe, aber sie hatte Angst und wollte, daß ich mitkommen sollte, in den Tod. Sie versuchte, es mir klar zu machen, daß wir heute Nacht sterben sollten. Ihr großes Problem und ihre Qual galt der Frage, wie ich sie in den Tod hineinbegleiten konnte. Nicht ein einziges Mal kam ihr der Gedanke, daß ich Selbstmord begehen sollte oder daß sie mich töten konnte. Aber wie dann? Siehst Du, welches Riesenproblem wir vor uns hatten?
Die Stunden vergingen. Um Mitternacht herum hatte ich ein kurzes Passiar mit der Nachtschwester unter dem Vorwand, zur Toilette zu müssen. Ich versprach der Krankenschwester, die ganze Nacht über zu bleiben und daß ich alleine die Verantwortung für Mama trug, die partout nicht zuließ, ins Bett gebracht zu werden.
Weißt Du, wie lang eine Nacht sein kann, wenn Du auf den Tod warten mußt, und der „Todesverurteilte“ nicht im Klaren ist, was den Todesverlauf betrifft. Wir können nicht über den Tod bestimmen. Nicht über Zeitpunkt, nicht über Umstände. Egal wie viel Willenskraft Du versuchst einzusetzen; hier gibt es eine höhere Instanz, die entscheidet unter welchen Umständen und wann der Tod stattfinden soll.
Mit Abständen in unserem sonst so stillen Warten auf den Tod hörte ich wiederholt von Mama:„Wie bekomme ich dich mit, ich will nicht ohne dich sterben.“
Konnte bloß zusehen, wie dieses Dilemma sie beschäftigte. Dann richtete sie sich plötzlich im Stuhl auf und strahlte:„Jetzt habe ich es!“
Na? Ich schaute sehr gespannt auf sie. Sie schien überzeugt zu sein, daß sie die Lösung dieses ernsten Problemes gefunden hatte und sagte:
„Ruth, du bist ein Engel, das warst du immer und Engel können ohne Probleme von dieser Seite zum Jenseits wandern. Hin und zurück.“
Ich nickte nur, unendlich froh und erleichtert, daß sie eine Lösung gefunden hatte, die sie beruhigte und ihr den Glauben schenkte, daß ich ihr auf diese Weise folgen konnte. Nicht, daß ich mich als Engel fühlte, aber es war ein schöner Gedanke, und ich lächelte und benutzte die neue positive Situation dazu, sie zu überreden, sich von mir ins Bett bringen zu lassen. Es war mittlerweile halbsieben geworden und ich war, entschuldige meinen Ausdruck, auch „todmüde“ und so bald sie eingeschlafen war, fuhr ich nach Hause ins Bett.
In dem nächsten Kapitel werde ich mit einem Sprung zurück zur chronologischen Ordnung über ein Phänomen bei Mama berichten.