Читать книгу Alles Alltag - Sascha Wittmann - Страница 10
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Struktur ist wichtig. Das hat Dr. Rettner gesagt. Und Dr. Rettner muss man vertrauen. Man darf nicht immer alles infrage stellen. Man muss den richtigen Menschen vertrauen, sonst wird man verrückt, noch ver…
Jedenfalls ist Struktur wichtig. Sie ist etwas zum Anhalten, gibt Orientierung, wenn die Gedanken wieder einmal … Man weiß, wann man was zu tun hat, muss sich nicht ständig neu entscheiden. Da bleibt man klar im Kopf, kommt nicht in Versuchung, etwas Falsches zu tun, wieder im Chaos zu versinken.
Und die Struktur schaut folgendermaßen aus: Aufstehen um halb sieben, Tee kochen, während dieser zieht, duschen und die Kleidung, die man sich am Vorabend zurechtgelegt hat, anziehen, zum Tee eine Scheibe Brot mit Butter und Käse, frisieren, die Handtasche nehmen, je nach Witterung etwas überziehen, zur Straßenbahnstation gehen, fünf Stationen bis zur tagesstrukturierenden Einrichtung fahren. Dort wird immer dasselbe gemacht: Buntstifte in Schachteln einlegen. Der Erste in der Reihe öffnet die Blechschachtel, der Nächste legt den weißen Stift ein, der Dritte den hellgelben und so weiter, bis man bei Schwarz angelangt ist. Man selbst sitzt immer bei Violett. Dann wird die Schachtel geschlossen. Der Letzte klebt die Sicherheitsfolie über den Verschluss. Die Pausen sind geregelt, sonst würde das System zusammenbrechen. Rauchen darf man nur im Hof. Das Mittagessen wird von einer Großküche geliefert, die Betreuer schauen darauf, dass es gesund und ausgewogen ist. Die Medikamente nimmt man selbstständig, die Betreuer erinnern einen nur daran. Nach der Arbeit fährt man wieder fünf Stationen mit der Straßenbahn heim, holt die Post, richtet sich ein kaltes Nachtmahl, legt die Kleidung für den nächsten Tag zurecht. Spätestens um neun Uhr, nach der ersten Krimiserie, geht man schlafen. Die Medikamente machen müde.
Auch für das Wochenende gibt es einen Stundenplan. Den hat man aus dem Krankenhaus mitbekommen, von Dr. Rettner. Der Samstag ist Hauswirtschaftstag. Man darf etwas länger schlafen. Nach dem Frühstück macht man den Wocheneinkauf. Die Liste dafür hat man am Freitagabend geschrieben, damit man nichts vergisst, damit man sich nicht zwischen den Supermarktregalen verliert. Für das warme Mittagessen hat man sich ein Fertiggericht mitgenommen. Am Nachmittag wird die Wohnung geputzt. Danach wäscht man das Haar und macht sich einen gemütlichen Abend vor dem Fernsehapparat. Man gönnt sich sogar etwas zum Naschen: in der einen Woche Chips, in der anderen ein Stück Schokolade.
Und dann kommt der Sonntag. Der wichtigste Tag der Woche. Eigentlich könnte man lange schlafen, aber meistens ist man zu nervös dazu. Man muss sich zum Frühstück zwingen. Dann bäckt man einen Gugelhupf, einen Marmorgugelhupf, den mag der Mann besonders gerne. Zu Mittag bringt man kaum einen Bissen hinunter, räumt das Geschirr weg, deckt den Tisch für die Jause besonders hübsch, macht sich selbst sorgfältig zurecht.
Und dann wartet man. Man wartet und wiederholt immer wieder, was man mit dem Therapeuten besprochen hat: Dass es für den Mann auch nicht einfach ist. Dass auch er sich nach dem Zusammenbruch ein neues Leben aufbauen musste. Dass er deshalb vielleicht nicht jeden Sonntag Zeit hat. Dass man es ihm hoch anrechnen muss, dass er einen nie fallen ließ, sich trotz allem noch immer um einen kümmert, dass die Scheidung nur eine juristische Sache war, dass er sogar jetzt, wo er eine Neue hat, noch immer …
Man wartet. Man bemüht sich, nicht auf die Uhr zu schauen. Strukturen sind wichtig. Das hat Dr. Rettner gesagt. Man kann und darf nichts anderes tun als warten, denn der Sonntag ist der Tag, an dem der Mann kommt. Um drei Uhr. Um seinen Lieblingskuchen zu essen.
Man darf nicht vergessen, die Kleidung für Montag herzurichten.