Читать книгу Alles Alltag - Sascha Wittmann - Страница 19
ОглавлениеUnd es war doch schön!
Martha ist eine attraktive Frau. Für ihr Alter. Was heißt hier Alter? Sechzig ist das neue Vierzig! Sie hat alles noch vor sich, alles, worauf sie sich in den letzten Jahren gefreut hat.
Martha steht vom Frühstückstisch auf, gewohnheitsgemäß öffnet sie die Badezimmertür. Nein, heute muss sie sich nicht rasch fertig machen, um rechtzeitig im Büro zu sein. Der erste Tag der Pension! Endlich Zeit für sich selbst.
Für diese Woche hat Martha sich vorgenommen, Platz zu schaffen. Wofür? Das steht noch nicht fest. Für etwas Neues auf jeden Fall. Da hat es keinen Sinn zu duschen; sie wird sicher staubig werden. Vielleicht gönnt sie sich abends ein Bad.
Martha beginnt mit dem ehemaligen Kinderzimmer. Das ist am schwierigsten. Schon seit Jahren wird es hauptsächlich als zusätzlicher Abstellraum verwendet. Hier ist alles gelandet, was Martha nicht unmittelbar braucht: diverse Bücher, die Skripten vom EDV-Kurs, Fotos, aus der Mode gekommene Kleidung. Und natürlich ist noch einiges von Ursulas Sachen da. Die werden jetzt auch endlich entsorgt.
So eine hübsche und erfolgreiche junge Frau – wieso hat sie sich nur von diesem Typen so fertig machen lassen? Dabei hatte sie ihn ja noch gar nicht so lange gekannt. Waren die beiden überhaupt ein richtiges Paar? Ihr hatte sie ihn jedenfalls nicht vorgestellt.
Schluss! Das ist vorbei. Aus diesem Zimmer würde Martha ihr neues Büro machen, endlich genug Platz haben für die Unterlagen zu ihren Reisen, dem Konzert- und Theaterabonnement, den Wohnungsordnern. Ursulas Schreibtisch ist ja noch da. Der Schreibtisch, an dem sie für die Schule gelernt hat, in dem sie ihr erstes Tagebuch versteckte, die Briefe ihrer ersten Verehrer.
Das Foto vom letzten gemeinsamen Urlaub in Griechenland. Zwei Monate danach ist Günther damit herausgerückt, dass seine Sekretärin nicht nur beruflich wichtig für ihn war. Im Grunde kann Martha froh sein, dass er weg ist. Wahrscheinlich ist er mittlerweile fett geworden und hat eine Glatze, das soll sich doch diese Tipse jeden Tag anschauen. Anfangs …
Ursula sieht man auf dem Bild schon an, wie hübsch sie einmal werden wird und dass sie intelligent ist. Das Mädchen sollte durch die Scheidung nicht belastet werden. Martha hatte immer ein gutes Verhältnis zu ihrer Tochter, sie waren fast wie Freundinnen. Vor ihr brauchte Ursula keinen Freund zu verstecken, konnte mit allen Sorgen und Anliegen zur Mutter kommen. Dann das Studium, und kurz vor ihrem Dreißiger hat sie den Job als Eventmanagerin bekommen. Sie war so stolz! Und glücklich. Martha hatte nichts anderes von ihrer Tochter erwartet. Nur ein Schwiegersohn fehlte noch. Immer wieder hatte sie Ursula geraten, nicht so viel zu arbeiten. Dass sie ja überhaupt keine Zeit für einen Freund hatte! Aber Ursula hat nur gelacht. Wie sich die Mutter das vorstelle, bei einem Spitzenjob müsse man sich eben reinhängen. Außerdem treffe sie ohnehin viele Männer, der richtige sei halt noch nicht dabei gewesen. Sie sei mit ihrem Leben glücklich, das hat sie immer gesagt, wenn ihre Mutter nachgefragt hatte. Sie hat auch glücklich ausgeschaut, ein bisschen gestresst, aber sehr hübsch. Wenn nur nicht dieser … Er ist an allem schuld. Vorher ist Ursula ein ausgeglichener Mensch gewesen.
In der mittleren Lade liegt das Tagebuch. Martha hat sich nie getraut hineinzuschauen, es ungeöffnet in Ursulas Kinderschreibtisch gelegt, nachdem die Polizei es ihr übergeben hatte. Das ist jetzt schon fast zwei Jahre her. Martha fürchtet sich, es zu berühren, schaut es kaum an, als sie es aus der Lade nimmt. Sie legt das Tagebuch auf das Bett.
Das Bett wird sie weggeben, es braucht ja niemand mehr, stattdessen will sie eine ausziehbare Couch kaufen, falls einmal ein Gast bei ihr übernachtet.
Als sie hinausgeht, um ein Glas Wasser zu holen, streift sie die Tagesdecke des Betts und das Tagebuch fällt zu Boden.
»THERAPIETAGEBUCH von Ursula Kouba. Dieses Tagebuch wird ein Jahr lang meine Therapie begleiten. Wenn ich es geschafft habe, in dieser Zeit keinen Alkohol zu trinken, bin ich über den Berg …«
Das kann nicht sein! Ursula eine Alkoholikerin? Nein! Sie war eine erfolgreiche, schöne, zufriedene Frau, keine Säuferin. Martha schlägt das Tagebuch an einer anderen Seite auf.
»Sonntag ist Muttertag. Darauf hätte ich beinahe vergessen. Ein hässliches Blumenarrangement im Supermarkt hat mich daran erinnert. Wenigstens ein Tag des Wochenendes wäre also gefüllt. Mutti sagt zwar immer, dass ihr solche Anlässe nichts bedeuten, dass sie nur von der Blumenindustrie erfunden worden seien. Aber wenn sie dann alleine zu Hause sitzt, während alle anderen Mütter ausgeführt werden, ist sie doch traurig. Das weiß ich. Am Abend habe ich also nach einem netten Restaurant gesucht. Ist so knapp vorher gar nicht einfach gewesen, doch ich habe es wieder einmal geschafft: Wir gehen zum Brunch ins Café Gloriette. Hoffentlich ist das Wetter schön, dann können wir sogar im Garten sitzen. Mutti hat sich wirklich darüber gefreut – genau so wie ich es erwartet habe.«
Na eben: Ursula war nur überarbeitet. Aber nicht einmal im größten Stress hat sie auf den Muttertag vergessen. Das Frühstück damals war herrlich. So ein netter Einfall. Nachher haben Martha alle Kolleginnen zu ihrer aufmerksamen Tochter gratuliert. Sie blättert weiter.
»Noch vor ein paar Tagen wäre ein Termin an einem Sonntag um elf Uhr ein Problem für mich gewesen. Jedenfalls bin ich heute sehr stolz auf mich. Ich habe trotz Mutti wieder einen Tag geschafft. Schon in der Früh die Frage: Was ziehe ich an? Nicht zu salopp, aber auch nicht zu elegant, sonst regt Mutti sich wieder darüber auf, dass ich zu viel für Kleidung ausgebe. Warum kann sie mich damit immer noch auf die Palme bringen? Der Brunch war durchschnittlich schrecklich. Wir mussten natürlich drinnen bleiben. Im Café darf man nicht rauchen – eine zusätzliche Herausforderung bei einem Treffen mit Mutti. Wenigstens hält das ihre Bemerkungen über meinen Zigarettenkonsum in Grenzen …«
Nein, das war sicher nur eine Phantasiegeschichte. Es kann nicht real sein, nie hätte Ursula so über ihre Mutter geschrieben. Sie haben einander immer gut verstanden, auch noch, als Ursula schon lange alleine gewohnt hat.
Martha klappt das Buch zu, nimmt es mit in die Küche. Sorgsam reißt sie Seite um Seite heraus, ohne sie anzuschauen, zerreißt sie, holt den Aschenbecher für Gäste aus dem Geschirrschrank. Er ist so klein, dass sie mehrere Portionen aus den Papierschnipseln machen muss, um alles sicher zu verbrennen.