Читать книгу Alles Alltag - Sascha Wittmann - Страница 8
ОглавлениеGanz bei mir
»Kannst du denn nicht einmal etwas anderes schreiben?«
Was sollte diese blöde Bemerkung? Johanna hatte wieder einmal überhaupt nichts kapiert. Schließlich war das der Plan: Jeden Tag ein Foto, aufgenommen vom Balkon aus, mit dem aktuellen Zustandsbericht auf Facebook posten. Einen eigenen Blog einzurichten wäre zu viel Arbeit gewesen. Und wozu gab es denn dieses ganze Social-Media-Zeug?
»Du musst endlich deinen Urlaub verbrauchen, du hast jetzt schon fünfundvierzig Tage stehen. Und von den Überstunden wollen wir gar nicht reden. Ein bisschen Ruhe wird dir gut tun. Du schaust in letzter Zeit ziemlich abgespannt aus.«
Ja, da saß sie nun, in diesem gottverlassenen Kaff, alleine, mit einer unübersehbaren Anzahl von Tagen vor sich. Christian hatte keine Zeit zum Wegfahren gehabt, Stress in der Firma. Keine ihrer Freundinnen konnte oder wollte etwas mit ihr unternehmen, nicht einmal ein paar Tage Wellness waren sich spontan ausgegangen.
Aber Alexandra Blazek ließ sich von solchen Kleinigkeiten nicht unterkriegen. Nicht davon, dass der Chef offenbar wenig schätzte, was sie für die Firma leistete. Warum hatte sie wohl in den letzten Jahren kaum Urlaub genommen? Nicht von Christians Desinteresse, der ohnehin kaum für ein paar Tage Wegfahren zu haben war. Erst einmal die Karriere auf Schiene bringen, für Privatleben sei später immer noch Zeit. Nicht von der Ablehnung der Freundinnen. Wenn man einmal wirklich jemanden brauchte, sah man ja, wer für einen da war. Nur man selbst. Dabei hatte sie immer ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte aller anderen. Wenigstens hatte Johanna ihr eine Bleibe für den Zwangsurlaub verschafft.
Und natürlich würde sie das Beste daraus machen: eine Reise zum Selbst. Fernsehen und Computer waren verboten, sie gestattete sich nur, einmal am Tag das Smartphone zu benutzen. Dafür hatte sie Tees, Obst- und Gemüsesäfte, Reis, Getreideflocken und Trockenfrüchte eingekauft. Zusätzlich hatte sie sich reichlich mit Literatur ausgestattet: Bücher, die schon ewig am Nachttisch gelegen hatten, unter anderem »Wie ich werde, wer ich wirklich bin« von Adalbert Silberbauer, dem zurzeit angesagtesten Experten für Selbsterfahrung. In diesem Buch, das sie sicherheitshalber schon vor Reiseantritt durchgeblättert hatte, empfahl er, sich einmal ausgiebig Zeit für sich selbst zu nehmen, alleine, ohne Ablenkung, sich ganz auf die eigene Person zu konzentrieren, am besten in einer einsamen, abgelegenen Gegend.
Genau das Richtige jetzt, da sie ohnehin niemanden hatte. Nur den täglichen Eintrag auf Facebook erlaubte sie sich als Nabelschnur zur Außenwelt. Schon den dritten Tag war der Nebel so dicht, dass man den Baum vor dem Haus nicht erkennen konnte. Was also hätte sie tun sollen? Es regte sich auch kein Lüftchen, um das undurchdringliche Grau zu vertreiben. Nichts mit goldenem Herbst. Aber das war schon gut so, passte genau in den Plan, sich nicht von sich selbst ablenken zu lassen.
Gut, sie war nicht gerade in einer einsamen Berghütte mit Plumpsklo und Wasser aus dem Brunnen vor dem Haus, sondern im Ferienappartement von Johannas Eltern in Kaltendorf am See: Wohnzimmer, Schlafzimmer, die Küche voll ausgestattet, die Zentralheizung brauchte man nur aufzudrehen. Wenn man wollte, gab es sogar Frühstücksservice. Nur zwei Gassen entfernt lagen der Hauptplatz mit Kirche, Wirtshaus und Kulturzentrum.
Trotzdem war es eine neue, bereichernde Erfahrung, sich ganz mit sich selbst und den eigenen Bedürfnissen auseinanderzusetzten. Aber auch nicht einfach, so lange Zeit ohne von außen vorgegebene Struktur zu leben. Aufstehen, Frühstück, Spaziergang, zu Mittag in Gemüsesuppe gekochter Reis, eine halbe Stunde schlafen, Spaziergang, zeitiges Abendessen, lesen, früh schlafen gehen. Genau diese Eintönigkeit sei wichtig für die Selbstfindung, hatte der Experte betont. Aber es war auch unglaublich langweilig.
Und noch so viel Zeit. Vier Tage!
»Gehst du heute Abend ins Sara Dark-Konzert im Kulturzentrum?« Sie hatte einmal zu oft an diesem Tag auf Facebook geschaut.