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Um die Ecke

Liebe Mama, lieber Papa,

um diese Ecke werde ich nicht mehr gehen. Das versteht Ihr nicht? Könnt Ihr Euch nicht mehr an die endlosen Besichtigungen während unserer Italien-Urlaube erinnern? Meine Schulfreundinnen sind einfach in Lignano oder Jesolo am Strand gelegen, haben Sandburgen gebaut und sich zwischendurch ein Eis geholt. Wir nicht. Das wäre für Euch zu trivial gewesen. Wenn man schon in einem historisch so interessanten Land war, musste man auch etwas für die Bildung tun, Kulturstätten besichtigen. Es war heiß, mir haben die Füße wehgetan. Wenn ich gefragt habe, wann wir endlich bei dieser Kirche, Burg, diesem Tempelrest sein würden, war die Antwort immer: »Wir müssen nur noch um diese eine Ecke gehen, dann sind wir da.« Und das hat meistens auch gestimmt. Der Haken war nur, dass nach der Besichtigung der Kirche nicht Schluss war. Darauf folgte ein Museum, eine Ausgrabung, was auch immer. Und man musste jedes Mal nur noch einmal um die Ecke gehen.

So ist es meine ganze Kindheit und Schulzeit, sogar noch danach, weitergegangen, wenn auch im übertragenen Sinn. In der Volksschule hast Du, Mama, meine Aufgaben kontrolliert. Natürlich hast Du in den meisten Fehler gefunden, so dass ich sie ein zweites Mal schreiben musste. Sich noch einmal anstrengen, damit der Platz im Gymnasium gesichert ist.

Da war erst einmal Ruhe, wenn ich auch gemerkt habe, dass Ihr enttäuscht darüber wart, dass ich die Klassen nie mit Vorzug abgeschlossen habe. Als ich aber in der siebenten Klasse verkündete, ich wolle lieber eine Tischlerlehre machen, war es wieder vorbei mit Eurer Geduld. »Jetzt hast du es schon so weit geschafft, da kannst du doch nicht aufgeben.« »Ohne Matura hat man heutzutage keine Chance.« »Es sind doch nur noch eineinhalb Jahre, das schaffst du!« Da war sie wieder, die Ecke, hinter der das Ziel lag. Diesmal hieß sie »eineinhalb Jahre«. Ich habe wieder auf Euch gehört, habe mich durch Latein gekämpft, obwohl ich vor den Schularbeiten jedes Mal Magenschmerzen bekam, habe Formeln gelernt, bis mir der Kopf wehtat. Und ich habe es wieder geschafft, zwar knapp am Vorzug vorbei, aber ich war am Ziel.

Nur: Wie üblich war es ein Zwischenstopp. Ein halbes Jahr Australien oder eine ausgiebige Südamerika-Reise? Da verlöre man ja ein bis zwei Semester, das könne man nach dem Studium nachholen. Und: »Mit Literatur kannst du dich auch in der Freizeit beschäftigen.« Also inskribierte ich Betriebswirtschaft.

Seither hat sich die Sprache verändert, nicht aber der Inhalt. Nun heißt es: »Sie müssen sich immer neue Ziele stecken!« Nur nicht ausruhen, niemals zufrieden sein. Die nächste Prüfung, der erste Studienabschnitt, Ferienjobs und Praktika, die einen weiterbringen, Sponsion. Einen Job, nicht irgendeinen, sondern einen mit Karrieremöglichkeiten. Und gleich das nächste Ziel vor Augen haben, nur kein Stillstand.

Und auch privat. Natürlich muss man heutzutage nicht mehr unbedingt heiraten, aber ein eigenes Haus, eine Familie mit ein bis zwei Kindern … Irgendwann wird es dann doch Zeit, erwachsen zu werden. Ja, und Ihr habt recht gehabt: Auf Dauer wäre es mit Florian nichts geworden. Unreif, unstet … Da ist Bernhard schon ein ganz anderes Kaliber: guter Job mit besten Aussichten, verantwortungsbewusst, ein Familienmensch. Große Leidenschaft sei keine Garantie für eine gute Ehe.

Mama, Papa, Ihr habt es sicher gut mit mir gemeint, wolltet nur das Beste für mich. Und ich bin ja im Wesentlichen auch Eurem Rat gefolgt, habe nur ganz selten aufbegehrt, habe daran geglaubt, dass das ersehnte Ziel gleich hinter der nächsten Ecke liegt.

Aber um diese Ecke werde ich nicht mehr gehen.

Ich habe Bernhard schon gesagt, dass es mir leidtut. Zum Glück waren die Hochzeitsvorbereitungen ja noch nicht recht weit fortgeschritten.

Macht Euch um mich keine Sorgen. Ich bin unterwegs, irgendwo, vielleicht in Australien, vielleicht in Südamerika. Ich werde mich zwischendurch melden. Keine Angst, wahrscheinlich komme ich zurück. Und wenn nicht, sage ich Euch, wo Ihr mich besuchen könnt.

Danke für alles und bis bald!

Eure

Katharina

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