Читать книгу Alles Alltag - Sascha Wittmann - Страница 21
ОглавлениеNicht mit mir!
Am liebsten würde ich überhaupt nicht hingehen. Ich bekomme Kopfweh und Krämpfe, wenn ich nur daran denke. Das Morgenritual hilft: Tee kochen, frühstücken, duschen, anziehen, schminken. Schminken ist schon schwierig. Ich muss mich dabei im Spiegel anschauen. Am Sonntag bin ich ganz zufrieden mit meinem Aussehen, aber schon am Montag ist das vorbei. Erste Fältchen, grauer Teint, müde Augen. Was soll ich anziehen? Meine »Bürouniform« – elegant, auch ein bisschen figurbetont, aber nicht zu sexy.
Ups, beinahe wäre ich in einen fremden Mann hineingelaufen. Hat gar nicht so schlecht ausgesehen. Trotzdem sollte ich mich mehr konzentrieren. Schönes Wetter, endlich ein bisschen wärmer, und ich werde den ganzen Tag drinnen sitzen müssen.
Es scheint noch niemand da zu sein. Wenn ich schnell in mein Büro verschwinde, habe ich noch ein paar Minuten. Computer aufdrehen, die Räucherstäbchen anzünden. Sabine kocht schon Kaffee. Ewig kann ich mich nicht verstecken. Tief durchatmen. Auf in die Teeküche.
Natürlich ist sie da. Marie-Christine ist nie krank, hat nie einen Arzttermin. Groß und breitschultrig steht sie an den Kühlschrank gelehnt, lächelt herablassend:
»Na Bettina, du schaust heute aber wieder gar nicht gut aus.«
»Warum suchst du dir nicht etwas anderes?« Sonja hat leicht reden. Etwas anderes. Wie stellt sie sich das vor nach nur eineinhalb Jahren bei »Hilfe ohne Grenzen«? Wo sollte sie sich bewerben? Die Organisation ist gut vernetzt – im ganzen Land. Die Leute haben überall ihre Finger drinnen. Natürlich würde man bei »Hilfe ohne Grenzen« Erkundigungen über sie einholen. Und dann war klar, was passieren würde: Marie-Christine, die Chefin – die Chefin, ha! – würde über sie herziehen, Gerüchte und Lügen verbreiten. Marie-Christine ist zwar als Vorgesetzte ein Albtraum, aber sich Verbindungen schaffen, kann sie, ebenso sich selbst im besten Licht erscheinen lassen, indem sie andere niedermacht, ihre gerade einmal mittelmäßige Intelligenz dahinter verstecken, dass sie den richtigen Leuten nach dem Mund redet.
»Du machst dich ja selber fertig. Überall hat »Hilfe ohne Grenzen« auch nicht Einfluss. Und deine liebe Chefin kennt außerhalb der Organisation sicher überhaupt niemand.« Tja, Sonja hatte eben leicht reden. Sie saß ja nicht in einer Falle, die sich bei jeder Bewegung enger um Arme und Beine und vor allem den Kopf schloss. Das hatte Bettina wieder einmal versucht, ihrer besten Freundin klarzumachen.
Ihrer beste Freundin – wie viele Freundinnen hatte sie denn noch? Am Mittwoch hatte sie damit begonnen, Leute anzurufen. Sie wollte am Freitagabend wieder einmal etwas unternehmen. Nichts Großartiges. Nett plaudern, ein paar Spritzer trinken, eine Kleinigkeit essen. Oder besser gesagt: Am Mittwoch hat sie überlegt, wen sie anrufen könnte. Der Adressspeicher ihres Telefons ist voll, aber zu welchen dieser Menschen hatte sie noch wirklich Kontakt? Martina – hat immer schon etwas anderes vor. Pia und Christoph – gerade jetzt brauchen die Kinder ganz besonders viel Aufmerksamkeit wegen der neuen Schule und überhaupt, das müsse man doch verstehen. Michaela – sinnlos, die hebt einfach nicht ab, schreibt irgendwann eine SMS, dass es ihr wahnsinnig leidtue, den Anruf verpasst zu haben, und sie werde sich melden, was sie natürlich nie macht.
Das war nicht immer so. Noch vor einem Jahr war ihre Freizeit ausgefüllt: gemeinsame Ausflüge, ein Geburtstagsfest, eine Wohnungseinweihungsparty und so weiter. Damals ist es ihr ja auch noch gut gegangen. Nach fünfzehn Jahren bei derselben Firma der Wechsel zu »Hilfe ohne Grenzen«, gleich eine Teamleitung, viel zu erzählen, viel zu lachen.
Aber wenn es einem schlecht geht, merkt man halt, wer eine echte Freundin ist. Also Sonja. Geduldig hört sie sich an, welche Gemeinheiten die Chefin schon wieder ausgeheckt hat. Sie tröstet, sie versucht, gute Ratschläge zu geben. Nicht jedes Wochenende, aber zumindest hin und wieder. In letzter Zeit auch seltener.
Es ist wohl klar, wer dieses Gerücht gestreut hat: Dass sie ihren vorherigen Arbeitsplatz verloren habe, weil die Affäre mit ihrem verheirateten Chef zu brisant geworden sei. Und jetzt habe sie Schwierigkeiten, sich in der Hierarchie einzuordnen, weil bei Marie-Christine Flirten als Strategie nicht gefragt sei. Natürlich war es die gute Marie-Christine selbst. Fühlt sich wohl bedroht. Wahrscheinlich ist sie selbst nur durch entsprechende körperliche Anstrengung in ihre Position gekommen. Aber die Kolleginnen schauen alle so komisch. Und die Männer: Plötzlich gibt es eine kleine Anzüglichkeit hier, eine Berührung zu viel dort. Jede Stunde in der Arbeit wird zunehmend zur Qual. Dabei will sie doch nur in Ruhe ihre Aufgaben erledigen und mit allen gut auskommen.
Wenn man mit dieser Marie-Christine nur reden könnte … doch die ist – wenigstens für sie – nicht nur emotional völlig unerreichbar, sie ist auch noch dumm. Nein, das stimmt nicht ganz. Einen gewissen Hausverstand besitzt sie schon. Sie weiß genau, bei wem sie sich wie verhalten muss, um immer auf die Butterseite zu fallen.
Jetzt aber weg mit den krankmachenden Gedanken. Es ist endlich Wochenende. Wenigstens zwei freie Tage. Nur zwei Tage. Längeren Urlaub kann sie sich noch schlecht nehmen: Wie schaut das denn aus, nach so kurzer Zeit in der Firma. Eine Kur. Das wärs. Ein paar Wochen weg von allem, Massagen, schwimmen, lesen, Ruhe, keine Verpflichtungen … Nur: Wofür sollte sie eine Kur bewilligt bekommen? Sie hat ja keine ernstzunehmenden Krankheiten, nicht einmal Kreuzschmerzen.
»Na, jetzt hast du deine Position ja schön abgesichert.« Marie-Christine schnippisch wie immer. Aber so unrecht hat sie nicht. Es ist ja eigentlich ihr erster Impuls gewesen. Nein, der allererste Impuls war abzulehnen, als Reinhard mit dem Vorschlag zu ihr gekommen ist, bei der anstehenden Betriebsratswohl auf seiner Liste zu kandidieren. Sie sei noch zu kurz in der Firma, bei den Kolleginnen und Kollegen wohl auch nicht sehr beliebt, völlig unerfahren in rechtlichen Angelegenheiten. Aber Reinhard hat nicht locker gelassen. Man brauche Leute, die aktiv würden, sich engagierten, nicht nur jammerten, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlten. Außerdem sei sie gar nicht so unbeliebt, dumm geredet werde über jeden einmal, das sei hier leider unschöne Tradition.
Es hatte ihr gut getan, das zu hören und das Gefühl zu bekommen, für eine wichtige Aufgabe gebraucht zu werden. Und ihr ist der Gedanke gekommen: Als Mitglied des Betriebsrats genießt man erhöhten Kündigungsschutz, schon wenn man nur auf der Wahlliste steht. Marie-Christine könnte sie in Zukunft zwar weiterhin nerven, aber sie hätte keine Handhabe gegen sie. So hat sie zugestimmt.
Sie sitzt mit einem Glas Rotwein auf ihrem Balkon. Nie wieder Angst haben müssen vor Marie-Christines Attacken. Aber auch sonst sollte niemand mehr ungerecht behandelt werden. Den Marie-Christines muss man das Handwerk legen, nicht vor ihnen kuschen!