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Frühlingserwachen

»Ich heiße Hanna, nicht Jana!« Genaugenommen heißt sie Johanna Novotny, nicht Novotná. Und es waren nicht die allerletzten Worte, die sie zu ihrem Großvater gesagt hat. Aber fast.

»Nach Prag? Ausgerechnet nach Prag?« Hanna wirft den Gutschein auf ihren Teller, rennt in die Küche. Florian bleibt verdattert sitzen.

»Aber ich habe geglaubt …«, ruft er ihr nach. Keine Reaktion. Schließlich steht er auf, folgt Hanna. »Was ist so schlimm an Prag? Ich habe gedacht, so ein verlängertes Wochenende könnte nett sein, wo der Stress nun endlich vorbei ist. Und wir waren doch noch nie in Prag.«

»Sag, hörst du mir gar nicht zu? Hast du mir in den letzten Jahren überhaupt jemals zugehört?« Hanna schnäuzt sich, trinkt einen Schluck Wasser, um das Weinen zu unterdrücken. »Ich geh jetzt eine Runde um den Block.«

»Wenn du meinst …«

Es ist noch hell, ein angenehm milder Abend. Hanna schlägt die Richtung zum Park ein, wartet an der Fußgängerampel ungeduldig, bis sie endlich die Straße überqueren kann. Sie geht so weit in den Park hinein, bis sie den Lärm des Berufsverkehrs nur noch gedämpft hört, setzt sich auf eine Bank.

»Ich heiße Hanna, nicht Jana!« Mit diesen Worten war sie damals aus Großvaters Wohnung gestürmt. Das nächste Mal hatte sie ihn im Spital gesehen – nach dem ersten Schlaganfall. Zuerst hatte es ganz gut ausgesehen, aber der zweite Anfall, kaum eine Woche später, machte alle Hoffnungen zunichte. Großvater lebte, allerdings konnte er sich fast nicht mehr bewegen, schon gar nicht sprechen. Hanna besuchte ihn mindestens einmal in der Woche, hielt seine Hand und redete mit ihm. Immer wieder begann der Großvater zu schluchzen, manchmal nur leise vor sich hin zu weinen, und Hanna war sich nie sicher, ob das eine Reaktion auf ihre Worte war. Verstand er überhaupt noch etwas von dem, was sie sagte? Aber Hanna kam immer wieder, hielt die Hand des Großvaters und erzählte: vom Studium, wie sie sich mit dem Abschluss der Bachelor-Arbeit abmühte, von der Angst vor der letzten Prüfung, der Sorge, ob sie einen guten Job finden würde.

Sie kann nicht ruhig bleiben, steht auf, wandert ziellos durch das weitläufige Gelände.

Natürlich hatte sie sich beim Großvater für ihren Ausbruch entschuldigt. Dass sie es nicht so gemeint habe, sie ja nicht habe wissen können, dass es die letzten Worte sein sollten, die er als gesunder Mensch von ihr hören würde. Hanna versuchte dem Großvater, dem ja nichts anderes übrigblieb, als ihr zuzuhören, zu erklären, warum der Name »Jana« ihr so unerträglich war. Dauernd hatte sich der Großvater über die Laschheit der Kinder, wie er es nannte, echauffiert. Dachten nur an ihre Karriere, seien gar nicht mehr bereit, ein Risiko auf sich zu nehmen, gesellschaftliche Solidarität sei ein Fremdwort für sie und so weiter. »Ich habe mich damals etwas getraut. Ich habe heimlich Bücher aus dem Westen verteilt. Wenn die mich erwischt hätten …«

»Aber Großvater, was soll ich denn schmuggeln? Jetzt wird man nicht mehr verhaftet, wenn man eine andere Meinung als die Regierung hat.« Immer wieder hatten sie über dieses Thema gestritten. Einmal hatte Hanna dem Großvater »Dann geh doch wieder in dein Prag!« an den Kopf geworfen.

Und der Großvater war tatsächlich einmal in seine alte Heimatstadt gefahren und völlig desillusioniert zurückgekommen. Die jungen Leute dort seien genauso wie hier. Überall regiere der Kommerz, niemand interessiere sich für die Helden von damals, die mit ihrem Mut die Revolution vorbereitet hatten. Hanna hatte ihn ausgelacht. Was er denn glaube, auch dort müssten die Menschen nach vorne schauen, an ihre Zukunft denken.

Am Spitalsbett entschuldigte Hanna sich dafür und für so vieles andere. Sie habe das nicht böse gemeint, aber sie wolle halt auch einfach so sein dürfen wie ihre Freunde. Studieren, einen Job suchen, Urlaub machen, vielleicht mit dem Freund zusammenziehen. Und all das ohne schlechtes Gewissen, weil man sich für Politik nicht interessiere. Wozu auf eine Demo gegen einen Ball von rechten Burschenschaftern gehen? Die wirklichen Entscheidungen werden doch ganz woanders getroffen.

Viele Wochen lang erklärte sie das dem stummen Großvater, der nur manchmal unkoordinierte Bewegungen machte, ab und zu weinte. Ob er seine Enkeltochter überhaupt erkannte? Gelegentlich drückte er ihre Hand, schaute sie sogar an, aber eine direkte Reaktion auf ihre Worte konnte Hanna nicht erkennen.

Und dann war der Großvater gestorben, einfach nicht mehr aufgewacht, wahrscheinlich besser so.

Hanna ist wieder ruhiger, setzt sich im Park auf eine Bank. Erst jetzt registriert sie die Menschen um sich herum. Einige sitzen plaudernd in Gruppen zusammen, andere führen ihre Hunde aus, üben mit ihnen Apportieren, Jugendliche haben es sich mit ein paar Flaschen Bier auf der Wiese gemütlich gemacht.

Kaum zwei Wochen nach dem Tod des Großvaters hatte Hanna ihr Studium Soziale Arbeit abgeschlossen. Mit der Familie wurde nur im kleinen Kreis gefeiert, auch wegen Großvater. Die große Party gemeinsam mit zwei Studienkolleginnen sollte erst in einem Monat stattfinden. So lange hatte Florian mit seinem Geschenk offenbar nicht warten wollen.

»Es tut mir leid …«

»Hanna, ich habe dich gar nicht reinkommen gehört.«

Sie setzt sich zu Florian auf die Couch. »Weißt du, Großvater hat doch immer erzählt …«

»Ja, ich weiß, aber das bedeutet doch nicht, dass wir nicht hinfahren können, wo wir wollen.«

Hanna schaut Florian direkt ins Gesicht. Hat er ihr in den letzten Jahren wirklich nicht zugehört, nichts davon mitbekommen, dass sie darunter leidet, die Enkeltochter eines Flüchtlings zu sein? Weiß er nicht, dass sie sich gerade deshalb Vorwürfe macht, selbst überhaupt nicht politisch aktiv zu sein? Oder interessiert ihn das nicht? Hatte der Großvater recht damit gehabt, dass die Menschen heute nur an sich und ihre Karrieren denken?

»Wir werden nach Prag fahren. Danke für das Geschenk. Es wird sicher ein tolles Wochenende.«

Was Hanna Florian nicht sagt: Sie wird am nächsten Tag zur Demo gegen die Abschiebung einer gut integrierten tschetschenischen Familie gehen. Und sie wird keine Angst davor haben, dass sie erkannt wird und ein solches Verhalten ihrer gerade beginnenden Karriere schaden könnte.

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