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1.3 0:14 DIE ZWEI-MINUTEN-STRAFE
ОглавлениеEigentlich führte Sergei Andronov den Puck, hinter dem deutschen Tor aber wurde er von Felix Schütz gestört. Andronov verlor die Scheibe, lehnte sich gegen Schütz und berührte dessen Schlittschuh. Schütz verlor die Balance, fiel, weshalb Schiedsrichter Mark Lemelin den rechten Arm hob und das Spiel mit einem Pfiff unterbrach, als Vyacheslav Voynov den Puck berührte. Zwei Minuten wegen Beinstellens.
Der Gebrauch von unanständiger, lästerlicher oder ausfallender Sprache gegenüber einem Spieloffiziellen; die Benutzung von Videotechnologie durch einen Teamoffiziellen, um eine Entscheidung eines Spieloffiziellen infrage zu stellen; die Beteiligung am Spiel mit einem gebrochenen Schläger; der unnötig herbeigeführte Kontakt mit einem Torhüter außerhalb seines Torraums; das Dramatisieren eines Fouls eines Gegners – all das wird im Eishockey mit einer Kleinen Strafe geahndet. Viel wahrscheinlicher ist aber, dass man wegen eines weitaus banaleren Vergehens für zwei Minuten aussetzen muss, vorausgesetzt, die eigene Mannschaft übersteht das Unterzahlspiel.
Theoretisch verbietet das Regelbuch den Check gegen die Bande, den unerlaubten Körperangriff, den Check von hinten, das Einschließen des Pucks mit der Hand, den Check mit dem Stock, die Verzögerung des Spiels, das Verschieben des Tors, die Schwalbe, den Check mit dem Ellbogen, den hohen Stock, Halten, Halten des Stocks, die Benutzung eines übertrieben gebogenen Schlägerblatts, die Verweigerung, das Spiel zu beginnen, Verhöhnen und Verspotten, zu viele Spieler auf dem Eis, Beinstellen, unsportliches Verhalten und die langweilige Aufzählung aller Vergehen, die im Eishockey zu Zwei-Minuten-Strafen führen. Praktisch werden diese Regelverstöße erst konsequent seit 2005 geahndet. Zuvor waren die entsprechenden Paragrafen eher als Vorschlag an die Schiedsrichter zu sehen.
Seitdem Pieter Bruegel der Ältere 1565 auf seinem Großgemälde Jagers in de Sneeuw einen ersten Eishockeyspieler verewigt hat, versuchen Menschen, sich gegenseitig auf dem Eis zu behindern, aufzuhalten, zu stoppen.
Die Spitze der Evolution hatte der haltende und hakende Mensch aber erst gegen Ende des zweiten Jahrtausends erreicht: In Nagano stellte die Tschechische Republik den Olympiasieger, weil sie mit Dominik Hašek den besten Torhüter der Eishockeygeschichte im Aufgebot hatte und breite Spieler, die ihre Schläger auch einsetzten, wenn sie keine Chance hatten, an den Puck zu kommen; und ein Jahr später gewannen die Dallas Stars den Stanley Cup, weil die Verteidigerriesen Derian Hatcher und Richard Matvichuk sich bei den Stürmern der Buffalo Sabres einhaken konnten und wie Wasserskifahrer einem Motorboot hinterherfuhren.
Der entscheidende Treffer in der dritten Verlängerung von Spiel sechs ist so etwas wie des Eishockeys Antwort auf das Wembley-Tor im Fußball. Brett Hull stand im Torraum, als er die Serie und die Saison 1998/1999 beendete. Für die Sabres stand dabei ein Tscheche namens Dominik Hašek im Tor. Niemand hat dem Karma jemals Humor abgesprochen.
Es musste etwas passieren, Eishockey musste wieder aufregender werden, mehr Tore mussten fallen. Wie immer wurde darüber nachgedacht, die Tore zu vergrößern, die Ausrüstung der Torhüter zu verkleinern. Besonders angestrengt aber hatten die Herrschaften beim US-amerikanische Verband ihre Hirne arbeiten lassen. Nach einer mehrtägigen Klausursitzung mit ausgiebigen Spaziergängen an den Ufern des Lake Placids wagte es ein Praktikant, seine Stimme zu erheben und zu fragen, warum man denn nicht einfach das bestehende Regelwerk anwenden wollte (an dieser Stelle sollte man zugeben, dass nicht jeder Absatz dieses Buchs eine Überprüfung der berühmten Dokumentation des Spiegels überstehen würde).
Nach und nach beantworteten auch andere Verbände diese Frage für sich, revolutionierten das Spiel und ruinierten es natürlich. Zumindest behaupteten das all jene, die zuvor noch ihre Schläger benutzt hatten, um durchs eigene Drittel gezogen zu werden. Erste Vorbereitungsspiele verbrachten manche Wasserskifahrer komplett auf der Strafbank. Mit der Zeit aber wurde das Spiel ansehnlicher, kleinere, wendigere, kreative Spieler bekamen plötzlich ihre Chance und nutzten sie. Verteidiger mussten nicht mehr die Statur von Türstehern mitbringen, Stürmer unter 1,80 Meter mussten vor dem Wettlauf in die Bande nicht erst noch darüber nachdenken, ob sie auch wirklich eine Lebensversicherung abgeschlossen hatten.
Und weil es irgendwie peinlich gewesen wäre, das ganze Wir-machen-alles-so-wie-bisher-nur-jetzt-Richtig zu nennen, bekam der neue Stil einen griffigen Namen: Zero Tolerance. Mit ein wenig Verspätung wurde auch in Deutschland das Haken und Halten nicht mehr toleriert. Und, nein, das Spiel hat es nicht ruiniert, es hat nur dazu beigetragen, dass die besten Spieler auch beweisen durften, dass sie die besten Spieler sind.
Es gibt angezeigte Strafen (weshalb Schiedsrichter neben Schlittschuhtechnik und Ausdauer im Sommer vor allem daran arbeiten, ihren rechten Arm möglichst lange in die Luft strecken zu können, denn bis die zu bestrafende Mannschaft den Puck nicht unter Kontrolle gebracht oder die Mannschaft, die sofort ihren Torhüter in einen weiteren Feldspieler austauschen kann, ein Tor geschossen hat, wird er seinen Arm nicht wieder herunternehmen dürfen), Zwei-Minuten-Strafen, die sich gegenseitig aufheben, weil sich Spieler unterschiedlicher Mannschaft desselben Vergehens schuldig gemacht haben, normale Zwei-Minuten-Strafen und doppelte Zwei-Minuten-Strafen. Interessanter ist es allerdings, Vergehen nach ihrer Sinnhaftigkeit zu unterscheiden.
Das Beinstellen gegen Sergei Andronov hätten Schiedsrichter in allen Ligen auch so früh gepfiffen, weil es die Gelegenheit gab, schon früh im Spiel auf sich aufmerksam zu machen und Grenzen aufzuzeigen. Felix Schütz wiederum ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, die erste Feindberührung, die sich nicht im Streben nach dem Puck zutrug, zu einem effektvollen Straucheln zu nutzen – trotz fortgeschrittener Schlittschuhlaufbegabung. Es gibt also Fouls, die nicht aus böser Absicht heraus entstehen, die nicht bewusst geplant werden oder in der Hoffnung ausprobiert werden, dass sie die Schiedsrichter tolerieren oder übersehen; es gibt Fouls, die entstehen, weil sich der Gegner unvermittelt dreht oder drehen will (klassisch: Beinstellen). Es gibt also Fouls, die sich kaum vermeiden lassen.
So wie das Foul von Andronov oder das Foul, das dieses Endspiel gegen Ende dieses Buchs entscheiden wird. Es gibt Fouls, die sich ebenfalls kaum vermeiden lassen, weil der Gefoulte unbedingt gefoult werden will (ebenfalls: Beinstellen; aber auch: Halten).
So hat nicht jeder Schiedsrichter nur die Hälfte des Kapitels Halten im Regelbuch gelesen, nicht selten halten sich die Spieler gegenseitig, klemmen sich gegnerische Schläger unter die Achseln oder zwischen die Beine und breiten theatralisch die Arme aus, wenn wieder kein Schiedsrichter reagieren will.
Es gibt unabdingbare Fouls, weil das Spiel selbst sie unabdingbar macht, die passieren, weil Spieler zu langsam sind oder Gegner zu schnell (Haken, Stockschlag).
Und es gibt Fouls, die dazu dienen sollen, dem Gegner zumindest wehzutun, selbst wenn danach alle Eishockeyspieler davon sprechen, niemandem wehtun zu wollen, und die nur deshalb lediglich mit zwei Minuten bestraft werden, weil sich der Schiedsrichter vor dem Spiel mit einem Küsschen von seinem Töchterchen verabschiedet oder er die dem Foul innewohnende Niedertracht nicht erkannt hat (vor allem: Stockschlag).
Die Spieler wissen ja selbst am besten, wo ihre Gegner nicht ausreichend geschützt sind, wo es am meisten wehtut, wenn man das Schlägerblatt vermeintlich zufällig drüberzieht oder den Stock kurz vor dem gemeinsamen Aufprall in der Bande hineinstemmt. Das erklärt auch eine gängige Praxis in der Veröffentlichung von Verletzungsmeldungen.
Es gab Zeiten, in denen ein Muskelfaserriss auch der Öffentlichkeit als Muskelfaserriss verkauft wurde. Und dann brach die Zeit an, in der ein Muskelfaserriss im Oberschenkelbeuger in die Gruppe der Lower Body Injuries eingeordnet wurde und eine ordentliche Schultereckgelenksprengung in die Gruppe der Upper Body Injuries.
Entscheidend war nur noch, ob die Verletzung den Verletzten über oder unter der Gürtellinie plagte. Und weil man in Deutschland dazu neigt, gerade die Absonderlichkeiten aus Nordamerika zu übernehmen, war in Pressemitteilungen alsbald nur noch von Oberkörper- und Unterkörperverletzungen zu lesen, gerade wenn die Play-offs das Spiel noch einmal grundlegend veränderten.
Das mag man albern finden, es zeigt aber, dass Eishockeyspieler sich und allen anderen grundsätzlich alles zutrauen. Ein Spieler, der gerade erst nach einer Oberkörperverletzung aufs Eis zurückgekommen ist, wird in jedem Zweikampf so hart behandelt, wie sein Gegner das gerade für nötig hält. Ein Spieler hingegen, von dem jeder weiß, dass er sich vor drei Wochen den Daumen angebrochen hat, muss ständig damit rechnen, dass der nächste Stockschlag seinem gerade wieder zusammengewachsenen Daumen gilt – schon alleine, weil er selbst dieses Wissen auch nicht ausblenden könnte.
Die Zwei-Minuten-Strafe ist ein Korrektiv, das im besten Fall zur Attraktivität des Spiels beiträgt. Dabei war sie gar nicht von Beginn an vorgesehen. So etwas Ähnliches wie Eishockey wurde in Kanada bereits drei Jahrzehnte gespielt, als man auf die Idee kam, Fouls nicht nur durch ein Bully (das damals auch in Nordamerika noch als Bully und nicht als Faceoff bezeichnet wurde) zu „bestrafen“. Erst 1904 wurden Spieler vom Eis geschickt, damals noch zwei, drei oder fünf Minuten lang. Zu dieser Zeit wurden allerdings auch noch Torhüter bestraft, wenn sie sich aufs Eis fallen ließen, um einen Puck abzuwehren.
Die Zwei-Minuten-Strafe kann aber auch bedeuten, dass ein Spieler mehr als 40 Minuten lang auf der Strafbank Platz nehmen muss. Als Derek Hahn zum Ende der Verlängerung des Spiels seines EHC München und der Straubing Tigers wegen eines Crosschecks zusehen musste, ärgerte er sich vor allem deshalb, weil er seinem Team als sicherer Penaltyschütze nicht mehr helfen konnte. Und wer weiß, vielleicht hätte es dieses DEL-Spiel mit Derek Hahn auf dem Eis nicht in die Rekordliste geschafft. So aber sah der Kanadier hinter der Plexiglasscheibe Kollegen und Gegner scheitern oder treffen, allerdings immer im Einklang. Erst die Schützen 41 und 42 entschieden die Partie, Straubings Eric Meloche traf, Münchens Stephane Julien vergab. Und Derek Hahn durfte endlich die Strafbank verlassen – nach dem längsten Penaltyschießen in der Geschichte des Eishockeys.