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EINLEITUNG

0:00 ALLES, WAS MAN WISSEN MUSS?

Hans Ronning ist Kindergärtner – und nebenbei Eishockeyschiedsrichter, was er an diesem Abend in Piešt’any wahrscheinlich bereut. 33 Minuten und 53 Sekunden sind zwischen Kanada und der Sowjetunion gespielt, als der Norweger mit seinen Linienrichtern in die Kabine flüchtet – und die Spieler auf dem Eis weiterhin aufeinander einprügeln. Erst als an diesem 4. Januar 1987 im Zimný Štadión das Licht gelöscht wird, lassen die jungen Männer allmählich voneinander ab. Das Spiel wird abgebrochen, Finnland zum U-20-Weltmeister erklärt, alle Beteiligten werden gesperrt.

Die beiden Kanadier, die sich nicht an der Prügelei beteiligten, heißen Steve Nemeth und Pierre Turgeon, der zwar später zu einem Star in der National Hockey League (NHL) heranreift, aber „den Schwefelgeruch der Weichheit nicht mehr aus den Kleidern“ bekommt, wie der Schweizer Journalist Klaus Zaugg schreibt.

Tja, interessant, irgendwie. Aber muss man das wissen?

„Es ist ein fucking Komplettskandal!“ Greg Holst hat dann noch acht weitere Varianten gefunden, um das in seiner nordamerikanischen Heimat verpönte und dennoch omnipräsente Vier-Buchstaben-Wort „fuck“ in einem Fernsehinterview unterzubringen. Außerhalb von Nordamerika ist man da nicht so zimperlich, der Videomitschnitt wird seitdem immer wieder nicht nur von österreichischen Eishockeyfans auf YouTube® gesucht und aufgerufen. Wirklich überrascht aber war wohl niemand, der den Trainer des Villacher SV noch als Spieler gekannt hatte. Holst war schon immer, nun ja, anders. Weil es kanadischem Bier an einer Schaumkrone mangelt, hatte er stets einen Salzstreuer dabei. Und selbst nach seinem Wechsel nach Österreich würzte Holst nach – bis das Bier regelmäßig überschäumte.

Muss man das wissen?

Nachdem Benoit Doucet zum zweiten Mal getroffen hat, führt der EV Landshut mit 7:0 vielleicht ein wenig zu hoch, aber nicht unverdient. Zu viele Chancen hat der BSC Preussen Berlin zu Beginn vergeben und dann den Sturmlauf der Niederbayern nicht aufhalten können. In der 38. Minute ist das Bundesligaspiel jedenfalls entschieden. Sogar in dieser Sportart, die doch so gerne von sich selbst behauptet, dass sie zu jedem Zeitpunkt noch alles möglich mache.

Nach der zweiten Drittelpause treffen die Berliner schnell – 7:1, 7:2, 7:3. Richtig entsetzt schreien die Fans im Eisstadion am Gutenbergweg aber erst auf, als Axel Kammerer in der 53. Minute das 7:4 erzielt. Die Treffer zum 7:5 (Holzmann), 7:6 (Birk) und zum Endstand von 7:7 (Malo) nehmen sie in schicksalhafter Ergebenheit hin. Trainer dieser jungen Landshuter Mannschaft, die an diesem Sonntag im November 1990 ein 40-minütiges Eishockeyspiel 7:0 gewinnt und ein 20-minütiges 0:7 verliert, ist Erich Kühnhackl.

Kurios. Aber muss man das wissen?

Das erste Spiel gewinnen die New York Islanders 8:1, am Tag darauf unterliegen sie den Los Angeles Kings 4:6. Um von Long Island an die Westküste der USA überzusiedeln, bleibt ihnen nur ein freier Tag. Die Spiele drei und vier der Play-off-Serie finden erneut an zwei aufeinanderfolgenden Tagen statt und die Legende will, dass Stefan Persson und Anders Kallur in diesen Tagen beschließen, sich im Frühjahr 1980 nicht mehr zu rasieren. Sie haben einfach keine Zeit mehr dafür. Dass ein ungleich populärerer Landsmann namens Björn Borg in dieser Zeit sauber rasiert in Tennisturniere startet und die Trophäen später mit einem Zwei-Wochen-Bart entgegennimmt, soll die beiden Schweden ebenfalls inspirieren.

Sechs Wochen später gewinnen sie mit den Islanders den Stanley Cup, den heiligen Gral des Eishockeys. Heute gelten sie als Erfinder des Playoff-Barts. Ein Jahr nach dem Stanley-Cup-Sieg wird Anders Kallur Vater von Zwillingen. Susanna und Jenny Kallur werden Leichtathletinnen und gewinnen viele Hürdenrennen.

Okay. Aber muss man das wissen?

Muss man wissen, dass die ersten Pucks aus aufgeschnittenen Lacrossebällen hergestellt wurden? Dass Wayne Gretzky als 12-Jähriger 378 Tore schoss – in einer Saison? Dass sowohl der Vater von Jaromir Jagr als auch seine beiden Großväter auf den Namen Jaromir getauft wurden? Dass das längste Spiel erst nach 217 Minuten und 14 Sekunden entschieden war (dann traf Joakim Jensen zum 2:1 für Storhamar gegen Sarpsborg)? Muss man das alles über Eishockey wissen?

Nein. Aber dazu ist es jetzt ohnehin zu spät. Eishockey ist ein Sport für Geschichtensammler, für Zahlenmenschen und Statistiknerds und für Menschen, die stolz darauf sind, dass sie Eishockeyfans sind, also anders, und nicht Fußballfans, so wie es als normal gilt. Wer bei Google die Worte „Eishockey ist“ in das Suchfeld eingibt, bekommt folgende Ergänzungen vorgeschlagen: „… meine Leidenschaft“, „… cooler“, „… besser als Fußball“ und „… der geilste Sport der Welt“. Für diese Erkenntnis muss man eigentlich überhaupt nichts wissen.

Man muss es spüren: wie den Wasserfilm eines zugefrorenen Weihers, auf dem du gerade zwischen zwei Bierkästen hindurchgerutscht bist, um den Siegtreffer deines Kumpels zu verhindern; wie das Glück, das deinen Körper durchströmt, wenn du im Spätsommer das erste Mal die Kälte einer Eishalle auf den Unterarmen spürst; das Gemeinschaftsgefühl, das den Fanblock einnimmt, wenn der Herzensspieler deiner Mannschaft in der zweiten Verlängerung eines Play-off-Spiels das entscheidende Tor erzielt; wie die Tränen, die dir über die Wangen laufen, weil dieser Herzensspieler im Sommer zu einem anderen Klub wechselt; oder wie der Unglaube, den du empfunden hast, als Jonas Müller an einem frühen Sonntagmorgen ein wunderschönes Tor erzielt hat.

Denn so ging es doch allen, an diesem 25. Februar 2018, den fünf Millionen Menschen, die in einem verschlafenen Fußballland lange vor Sonnenaufgang aufgestanden waren, um dabei zu sein, wenn eine deutsche Eishockeymannschaft um olympisches Gold spielt.

In diesem Buch geht es um Eishockey. Es geht aber auch um dieses Spiel, das ganz offensichtlich erschaffen wurde, um damit diese wunderschöne Sportart zu erklären. Drei Partien bei Olympischen Spielen haben die Geschichte des deutschen Eishockeys geprägt: Das 4:1 gegen die USA am 14. Februar 1976 in Innsbruck, nach dem die deutschen Spieler niedergeschlagen in die Kabine zurückkehrten, weil sie dachten, ein Tor zu wenig geschossen zu haben, nachdem sie einen Funktionär beschimpften, weil er meinte, doch noch einmal nachgerechnet zu haben („Schleich di!“) und mit dem sie dann tatsächlich die Bronzemedaille gewonnen hatten – wegen eines Torquotienten von 1,166. Das mit dem Torquotienten muss man nicht verstehen, aber man muss es wissen.

Dann war da noch das Viertelfinalspiel von Meribel, als Deutschland die kanadische Mannschaft ins Penaltyschießen zwang und die ARD dazu, den Beginn der Tagesschau hinauszuzögern, und als der Puck nach dem Versuch von Peter Draisaitl unter Torhüter Sean Burke hindurchkullerte, schlingerte, schwankte, umkippte und auf der Torlinie liegen blieb. Und eben das Finale der Olympischen Spiele von Pyeongchang am 25. Februar 2018.

Brendan Shanahan wurde einst gefragt, ob Eishockey hart sei. Eine dämliche Frage, vielleicht wusste der Fragesteller aber auch nicht, dass Shanahan zu jenen jungen Männern zählte, die sich im slowakischen Piešt’any geprügelt hatten, bis das Licht ausgemacht wurde.

Die Antwort des Weltklassespielers, Stanley-Cup-Siegers, Weltmeisters und Olympiasiegers Shanahan aber gilt seither als eine Definition für den Sport: „Ist Eishockey hart? Ich weiß es nicht, sagen Sie es mir. Wir brauchen die Kraft und die Power eines Footballspielers, das Durchhaltevermögen eines Marathonläufers und das Konzentrationsvermögen eines Gehirnchirurgen. Das alles müssen wir zusammenfügen, während wir uns in hoher Geschwindigkeit auf einem rutschigen Untergrund fortbewegen, während fünf andere Jungs mit Keulen in den Händen versuchen, uns umzubringen. Ach ja, habe ich erwähnt, dass wir währenddessen auf Kufen stehen, die keinen halben Zentimeter dick sind? Ich weiß es nicht, sagen Sie mir die Antwort. Nächste Frage.“

Okay, damit weiß man schon sehr viel mehr über Eishockey – ganz nebenbei auch noch, dass die Spieler ebenfalls stolz sind auf ihre Sportart, die so anders ist, so schnell und so hart. Alles weitere wird in diesem Buch erklärt. Und zwar anhand des Finales zwischen Deutschland und einer Mannschaft, die sich Olympische Athleten aus Russland nennen musste. Warum, das wird auf den folgenden Seiten ebenso erklärt, wie das Anspiel im Eishockey (Bully), der unerlaubte Weitschuss (Icing), die Vorwärtsverteidigung (Forecheck), die plötzlichen Gewaltausbrüche, die Wucht eines Schlagschusses und die Kunst der besten Spieler.

Die Reihenfolge hat dabei das olympische Finale 2018 vorgegeben, vom nervösen Beginn bis zum dramatischen Ende. Jedes Kapitel berichtet direkt aus dem Gangneung Hockey Centre und widmet sich dann einer Besonderheit dieser Sportart und den Anekdoten und Typen, die sie hervorgebracht hat.

Und wenn Sie diese auf 214 Seiten gestreckten 69 Minuten und 40 Sekunden Eishockey hinter sich haben, dann – das muss schon vor dem Spielbeginn eingestanden werden – werden Sie viel über Eishockey wissen, hoffentlich so viel, wie man wissen muss, und trotzdem werden Sie noch sehr viel mehr wissen wollen.

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