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1.6 11:04 BREAKOUT

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Moritz Müller stiehlt den Puck an der eigenen blauen Linie, passt ihn zu Frank Hördler, der sieht, dass die Olympischen Athleten aus Russland wechseln. Also zieht er sich hinter das deutsche Tor zurück. Er sieht zwei Spieler auf sich zukommen, einer links, einer rechts vom Tor. Hördler wartet – bis Ivan Telegin ausrutscht, dann nutzt er den Platz zu einem Pass auf Dominik Kahun, der von der Bande aus startet und sich in der Mitte anbietet. Kahun macht zwei schnelle Schritte, sieht, dass die Mitte blockiert ist, spielt die Scheibe auf den rechts mitgelaufenen Matthias Plachta. Plachta hat Platz, ist schnell, spielt einen Russen aus, verliert dabei die Scheibe, die Yasin Ehliz hinter dem Tor aufnimmt. Ehliz passt auf Kahun, der sofort abzieht. Vasili Koshechkin pariert.

Wenn die Erfolge ausbleiben und selbst der Tabellenletzte als gefährlicher Gast angesehen werden muss, wenn das leichte Eishockey also plötzlich schwerfällig daherkommt, dann stellen die Fans gerne und inzwischen besonders in Kommentarspalten: die Systemfrage. Weil es ja so aussieht, als gäbe dieser überforderten Mannschaft niemand ein System vor oder als weigere sich diese überforderte Mannschaft, ein System zu spielen. In beiden Fällen ist derjenige schuld, der das System vorgegeben hat. Der Trainer. Doch gibt es das überhaupt im Eishockey, das System?

Jede Sportart mit einem gewissen taktischen Anteil ist irgendwann von irgendwem schon einmal mit Schach verglichen worden. Zum American Football passt das auch sehr gut, weil das Spiel ständig unterbrochen wird und die Coaches die gesamte Zeit über Einfluss auf das Geschehen nehmen können. Jede Mannschaft hat ein Playbook mit unzähligen Spielzügen, für nahezu jede denkbare Situation.

Solche Bücher gibt es auch im Basketball, auch wenn es gerade in der National Basketball Association so aussieht, als würden die meisten Spielzüge nur gelaufen, um am Ende jenen Spielern den Ball aussichtsreich zu überlassen, die am meisten Geld verdienen und dem Klub am meisten Geld einbringen.

Im Eishockey verdienen die Stars ebenfalls Millionen von Us- Dollar oder Rubel, es macht aber keinen Sinn, Systeme für einen Spieler zu kreieren, weil dieser eine Spieler kaum mehr als ein Drittel der Spielzeit auf dem Eis verbringen wird. Klare Laufwege vorzugeben, ist ebenfalls keine gute Idee, weil sich gute Verteidigungen spätestens nach dem zweiten Mal darauf einstellen würden und Eishockey ohnehin eine schnelle, unvorhersehbare Abfolge von Angriff, Puckverlust, Forecheck, Backcheck, Puckgewinn, Angriff und so weiter ist.

Holger Geschwindner, der Mann, der Nationalspieler war, Physiker, Weltenbummer und Leiter des Instituts für angewandten Unfug und der der Welt die beste Version von Dirk Nowitzki geschenkt hat, dieser geniale Kauz hat behauptet, Basketball sei Jazz. Wahrscheinlich aber nur, weil er noch nie ein Eishockeyspiel gesehen hat.

Eishockey scheint eine ständige Improvisation zu sein. Die Trainer aber geben ihren Verteidigern und ihren Stürmern natürlich für verschiedene Spielsituationen unterschiedliche Aufgaben mit auf den Weg. Bei Puckbesitz ist festgelegt, wer wem hilft, wer für wen absichert, wer sich wie weit vorwagen darf. „Gerade, wenn es nicht läuft“, sagen Coaches gerne, „ist das System dein Freund.“ Wenn ein Coach gehen muss, behaupten die Spieler gerne das Gegenteil. Nachdem die Toronto Maple Leafs von Mike Babcock erlöst wurden, sollte der Weltklassestürmer Austin Matthews den größten Unterschied benennen. Er sprach von: „Freiheit.“

Vergleichsweise klar und unverhandelbar geben Trainer das Verhalten im Aufbau vor, wobei die nordamerikanische Bezeichnung, wie so häufig, passender ist: Breakout. Lange Zeit gab es für den Transport des Pucks ins gegnerische Drittel zwei Schulen. Im sowjetischen Eishockey war der Spieler im Puckbesitz der Diener seiner Mitspieler. Im Unterschied zum kanadischen Eishockey aber konnte sich der Diener auf seine vier Mitspieler verlassen. Im kanadischen und im kanadisch geprägten Eishockey verließen sich die vier Mitspieler auf ihren Diener. Je scheibensicherer, geduldiger und umsichtiger dieser Diener war, desto Erfolg versprechender geriet der Aufbau, nicht selten endete er aber an der blauen Linie, indem der Puck tief ins Drittel gespielt wurde.

Dump and Chase, den Puck wegwerfen und dem Puck hinterherjagen, das charakterisierte über Jahrzehnte das kanadische Spiel. Wie Choreografien aus einer anderen Welt wirken da die Spielzüge der Sowjets in den 1980er-Jahren. Dabei hatte die Sbornaja mit Sergei Makarov und Slava Fetisov Spieler, die die Scheibe problemlos über die gesamte Eisfläche tragen konnten. Wenn es sein musste, machten sie das auch genauso. Aber eher widerwillig. Gerade das Spiel des berühmten „grünen Blocks“ mit Fetisov, Alexei Kasatonov, Vladimir Krutov, Igor Larionov und Makarov war eine fein abgestimmte Symphonie, die so überhaupt nicht ins militärisch geprägte Bild der Sowjetmannschaften passte.

„Wenn man sich heute Videos von damals ansieht, ähnelt das Spiel kaum dem Spiel, das heute in der NHL gespielt wird“, schrieb der Mittelstürmer Larionov für The Players‘ Tribune. „Es ähnelt eher der Art, wie der FC Barcelona Fußball spielt. Unsere Philosophie war Puckkontrolle, Improvisation und unablässige Bewegung. Heute geht das Spiel nur von Norden nach Süden und wieder zurück. Wir haben uns auch seitlich bewegt, wir sind über das Eis gekreist, immer auf der Suche nach offenen Räumen. Ein Pass zurück war so gut wie ein Pass nach vorne. Und dazu haben wir unseren Mitspieler gar nicht sehen müssen. Man konnte ihn riechen. Ehrlich jetzt, wir hätten auch blind spielen können.“

Nur wird es wohl nie mehr fünf Spieler geben, die über ein Jahrzehnt mehr Zeit miteinander verbringen als mit ihren Freundinnen und Freunden, die miteinander unter Viktor Tikhonov gelitten hatten und die miteinander nur auf dem Eis Freiheit verspürt haben. Normalbegabte Blöcke lassen das Spiel auch weiterhin über einen Verteidiger aufbauen, der aus dem Schutz hinter dem eigenen Tor heraus das Spiel dirigiert, der erst links einen oder einen zweiten Spieler vorbeikreisen lässt, bevor er den Puck nach rechts zum Mittelstürmer passt – oder umgekehrt. Oder der scharf vor das eigene Tor zieht, um Gegenspieler abzuschütteln, die Scheibe dann auf sich anbietende Flügelspieler passt, die den Puck wiederum kurz auf den Mittelstürmer ablegen. So wie das die deutsche Mannschaft zu Beginn der zwölften Minute im olympischen Finale 2018 gemacht hat.

Ausgerechnet am Stil der KHL lässt sich allerdings beobachten, wie sich das Spiel verändert hat. In der russischen Liga haben die meisten Verteidiger nur eine Aufgabe: den Puck so schnell wie möglich an die Angreifer weiterzugeben. Zumindest die drei Stürmer verlassen sich also auf einen Diener, der allenfalls den zweiten Verteidiger durch einen Pass über die Bande miteinbezieht, bevor der sich an einem langen Pass an die gegnerische blaue Linie versucht.

Dieser sogenannte Stretch Pass hat das schnelle Spiel noch einmal beschleunigt, aber auch langweiliger gemacht. Denn selbst wenn das Zuspiel klappt, fehlt es an weiteren Optionen. Mittlerweile können auch russische Eishockeyspieler ihre Kollegen nicht mehr riechen, ganz einfach, weil sie meistens zu weit weg sind.

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