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1 ERSTES DRITTEL 1.1 0:01 BULLY
ОглавлениеPatrick Hager gegen Alexander Barabanov, das erste von vier Dutzend Duellen an diesem Nachmittag im Gangneung Hockey Centre. Hager geht in die Knie, er stützt sich auf seinen Schläger, Schiedsrichter Aleksi Rantala wirft den Puck ein. Hager und Barabanov versuchen, die Scheibe mit der Rückhand auf ihre Seite zu wischen. Der Deutsche kontrolliert sie als Erster und passt sie zu Christian Ehrhoff.
Bullys nerven, etwa 50-mal pro Spiel. Bullys zerteilen es in Portionen, strukturieren selbst das größte Chaos. Gerade eben haben sich erwachsene Menschen noch beleidigt, verflucht und sich nur nach einer einstudierten Choreografie von ihren Kollegen davon abhalten lassen, sich gegenseitig ins Gesicht zu schlagen. Da gruppieren sie sich schon wieder brav um den Bullykreis herum – sofern sie nicht im Rücken des Linienrichters stehen, der die Scheibe einwerfen darf.
Für ein Bully wird nicht nur die Zeit eingefroren, sondern auch das Spiel selbst. Vor Bullys glauben Schiedsrichter, alles unter Kontrolle zu haben. Die schnellste Mannschaftssportart der Welt (darauf kommen wir noch zu sprechen) gibt ihnen für einen kurzen Moment die Illusion, das Geschehen kontrollieren zu können. Das Regelwerk ist zwar für nahezu alle Situationen detailliert ausformuliert, nur beim Bully lassen sich diese Regeln auch in aller Ruhe anwenden – und genau diese Chance lassen sich Schieds- und Linienrichter nur ungern entgehen.
Bevor der Puck fällt, darf niemand den Bullykreis betreten. Die beiden Bullyspieler dürfen gewisse Markierungen (Hashmarks) nicht berühren. Der Vertreter der verteidigenden Mannschaft muss mit seinem Schläger das Eis zuerst berühren. Bricht eine Mannschaft diese Regeln, werden Spieler ermahnt, Bullys wiederholt, immer und immer wieder, oder Strafen ausgesprochen. Das ist die eine Seite des Pucks.
Auf der anderen Seite ist diese Pedanterie angemessen. Wie so oft lassen die Spieler den Schiedsrichtern gar keine andere Möglichkeit. „Bullys zu nehmen“, das gab der NHL-Profi Brian Boyle zu, „bedeutet zunächst einmal, die Grenzen auszutesten.“ Bei jedem neuen Schiedsrichter, bei jedem neuen Spiel, in jedem neuen Drittel, bei jedem neuen Bully. Und es bedeutet, sein Wissen sekundenbruchteilschnell anzuwenden. Denn Bullyspezialisten sind Nerds, die nicht nur ihre Kollegen im Training quälen („Nur noch 100 Bullys, bitte!“) oder bei Videomeetings auch ihre Coaches („Darf ich das letzte Bully noch einmal in Zeitlupe sehen?“), sondern Experten, die auch alles über ihre Gegner wissen und welche Hand welcher Schiedsrichter benutzt, um die Scheibe einzuwerfen.
Bullyspezialisten verwenden gerne härtere Schläger. Das mag ein Nachteil sein bei Handgelenkschüssen. Am Punkt aber gibt spätestens beim zweiten Versuch der Gegner des Schlägers nach. Ryan O‘Reilly, Stanley-Cup-Sieger mit den St. Louis Blues, lässt sich von seinem Ausrüster sogar einen Schläger anfertigen, dessen Blatt in einer Art Haken endet. Sein Arbeitsgerät sieht aus, als sei er in einer Tür hängen geblieben (auch davon wird später noch einmal die Rede sein). Bei Bullys aber lässt sich der Puck so leichter auf seine Seite ziehen. Wobei das nur eine von zwei grundsätzlichen Möglichkeiten ist:
Die meisten Spieler versuchen, den Puck mit der Rückhand nach hinten abzulegen, im Idealfall treffen sie die Scheibe vor ihrem Gegner und wischen sie sich durch die Beine oder an der Seite vorbei. Dabei ist es einerlei, wie groß oder wie schwer sie sind. „Die meisten Menschen glauben, dass es beim Bully nur um die Größe geht“, sagte Adam Oates, der für seine Qualitäten am roten Punkt nur deshalb nicht berühmt wurde, weil er eben vor allem auch noch ein herausragender Spielmacher war. „Aber das stimmt nicht. Es geht nur um den Hebel.“ Deshalb gehen Spieler in die Knie, senken ihren Körperschwerpunkt, ziehen die Schultern nach hinten, um sich nicht zu klein zu machen, achten genau darauf, wann sich der Ellbogen des Schiedsrichters bewegt und ziehen ihr Schlägerblatt einmal über den roten Punkt. Natürlich geht das auch mit der Vorhand, mehr Kraft aber entwickelt man mit der Rückhand.
Bei der zweiten Möglichkeit sind Hand-Auge-Koordination und Geschwindigkeit nicht bedeutend, bei der zweiten Möglichkeit geht es nur um Kraft und Entschlossenheit und darum, den Kontrahenten gar nicht erst in die Nähe des Pucks zu lassen. Mit einem Block wird der Gegner fixiert, der Puck bleibt liegen und wird von einem Verteidiger aufgenommen. Natürlich sollte der Verteidiger wissen, was der Bullyspieler vorhat.
Genau deshalb tuscheln die Spieler vor Bullys gerne noch einmal. Die Aufstellungen sind eigentlich einstudiert, aber wie der Schiedsrichter scheint auch der Bullyspieler die Aufmerksamkeit zu genießen. Da sollen die Flügelstürmer im letzten Moment noch einmal ihre Plätze tauschen, da wird der Verteidiger angewiesen, noch einmal fünf Zentimeter weiter nach rechts zu rücken – und dann geht das Bully verloren. Was dann wahrscheinlich aber auch Absicht war.
Vom Kanadier Ryan Getzlaf heißt es, dass er Anspiele in der offensiven Zone immer mal wieder absichtlich verloren hat, um die Gegner sofort unter Druck setzen zu können. Sollte das tatsächlich zutreffen, könnte es ein Geheimnis seines Erfolgs sein. Getzlaf ist Olympiasieger und mit den Anaheim Ducks Stanley-Cup-Sieger geworden.
Über derlei Vermutungen hinaus lässt sich übrigens kein Zusammenhang zwischen Bully- und Erfolgsquote nachweisen. Jedes einzelne Bully kann eminent wichtig sein. Der grandiose Dale Hawerchuk ist in Kanada vor allem deshalb bekannt, weil er vor dem zweitwichtigsten Tor in der Geschichte des Landes das Bully gewonnen hatte. Viele Bullys sind wiederum nicht bedeutend. Wie so oft lässt sich das ob der 31 Klubs, der 82 regulären Spieltage, der langen Geschichte der Liga und des deshalb reichhaltigen Zahlenmaterials am besten in der NHL nachweisen.
Keine Mannschaft hat seit 2010 mehr Spiele gewonnen als die Pittsburgh Penguins, dabei haben sie mehr Bullys verloren als gewonnen. Und, Achtung, Spoiler: Auch die deutsche Mannschaft wird an diesem 25. Februar 2018 mehr Bullys gewinnen als die Olympischen Athleten aus Russland.
Es geht also nicht darum, möglichst viele Bullys für sich zu entscheiden, sondern vor allem dieses eine entscheidende. Nach einem Play-off-Spiel hat der große Sidney Crosby einst zugegeben, dass er 24 Bullys falsch angesagt hatte. Die meisten hatte er direkt verloren, bei den anderen waren seine Kollegen falsch postiert. „Nur dieses eine war richtig.“ Dieses eine vor dem Siegtreffer in der Verlängerung.